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Verloren im Regen
Peter hatte sich verlaufen. Er kam jetzt zum dritten Mal auf den Innenhof mit dem abgestorbenen Baum in der Mitte des Hofes. Er war nur zu dem Supermarkt gegangen, um Brot einzukaufen und irgendwo musste er in eine falsche Straße eingebogen sein. Jetzt fand er auch den Supermarkt nicht wieder. Es regnete in Strömen und kein Mensch war unterwegs. Die wenigen Läden in der Straße, durch die er ging, waren nicht mehr in Betrieb, nur leere Auslagen und staubige Fensterhöhlen sahen ihn an. Wen sollte er fragen?
Peter war mit seinen Eltern vor zwei Wochen in die große Stadt gezogen. Seit seiner Geburt vor elf Jahren hatte er mit ihnen in einem kleinen Dorf gewohnt. Dort kannte er jeden Baum und Strauch und wußte immer, wo er war, wenn er durch die wilde Natur pirschte und Abenteuer erlebte. In der Stadt gab es kaum Pflanzen, keine Wälder und keine Teiche, keinen weiten Himmel und nachts keine Sterne. Er fühlte sich fremd und jetzt war er auch noch verloren gegangen. Langsam begannen die Tränen zu fließen, obwohl er sich immer wieder sagte 'Ein Indianer weint nicht'.
"Möchtest Du nicht durch die Pfütze planschen?", fragte ihn ein feines Stimmchen. Peter stand unter einem undichten Vordach. Er schüttelte nur den Kopf und seine Tränen mischten sich mit dem Regen, der aus den Löchern auf ihn herablief.
"Bist Du eine Wolke?", fragte ein anderes Stimmchen. Diese Frage fand Peter so blöd, dass er den Kopf drehte und nach dem Sprecher schaute. Da sah er direkt neben seinem Kopf zwei kleine Männchen mit grauen Zipfelmützen und grauen Kitteln, die ihm ins Gesicht starrten. Peter musste beinahe lachen, weil es sehr komisch aussah, wie sie mit ihren um das Regenrohr geschlungenen langen Beinchen neben ihm hingen.
"Wer seid ihr denn?", fragte er.
"Wir sind Grauel", antwortete einer der Wichte und zwei weitere graue Männchen kamen im Affentempo am Regenrohr herunter.
"Wieso kannst Du uns sehen?", fragte einer der beiden neu angekommenen Männchen.
"Die Waldwichtel habe ich auch gesehen und mit ihnen gespielt. Aber die hatten rote und blaue Mützen zu ihren grünen Kitteln. Hat euch der Regen die Farben abgewaschen oder was seid ihr für Wichtel?"
"Wir sind keine Wichtel", plusterte sich eines der kleinen Männlein auf.
"Wir sind auch überhaupt nicht mit Wichteln verwandt. Mit diesen Deppen vom Lande wollen wir nichts zu tun haben", fügte ein zweites Kerlchen hinzu.
"Das ist schade, sonst hättet ihr mir ja erklären können, warum einige rote Mützen haben und die anderen blaue. Das haben mir die Wichtel nie verraten."
"Das ist doch ganz einfach. Die blauen sind Mädchen und die roten nicht", lachte ein Männlein.
"Ah ja, und wie ist das bei euch. Ihr seid doch alle grau, oder?"
"Das verraten wir Dir nicht, ist ja schon schlimm genug, dass Du uns sehen kannst. Aber warum spielst Du nur Wolke und springst nicht in die Pfützen. Das macht doch gar keinen Spaß, nur herumzustehen."
"Ich bin traurig, weil ich mich verlaufen habe und nicht weiß, wo mein Zuhause ist."
"Ist so was möglich? Wie sieht denn Dein Zuhause aus?"
"Wir wohnen im Hinterhaus in so einem Hof wie hier. Aber in unserem Hof steht kein Baum, da ist nur ein kleines Stück Rasen in der Mitte für die Hunde. Und unsere Haustür ist grün angestrichen. Wir wohnen im Erdgeschoß gleich links neben der Haustür und an meinem Fenster hängt ein buntes Fensterbild mit Bäumen und einem See."
Die Grauel schnatterten einige Zeit miteinander, dann meinte einer: "So können wir Dir noch nicht helfen. Wir kennen vierundzwanzig Innenhöfe mit einem Stück Rasen in der Mitte. Du musst uns schon sagen, wie das Dach aussieht, denn wir laufen über die Regenrinnen zwischen den Häusern umher und nicht unten auf dem Boden. Da sind uns zu viele Große unterwegs, Hunde und Menschen und so."
"Ich weiß nicht, wie das Haus von oben aussieht. Ich hab doch kein Flugzeug und auf den hohen Dächern herumzuturnen, das traue ich mich nicht. Was soll ich denn jetzt machen?" Peter fing wieder an zu schluchzen.
Die Grauel schauten ihn ratlos an. "Vielleicht können die Buntel helfen", murmelte einer.
"Buntel gibt's doch gar nicht", rief ein anderer.
"Jetzt jedenfalls nicht", warf ein dritter ein.
"Ich habe den Namen noch nie gehört", sagte Peter.
"Grauel kanntest Du doch auch nicht", antwortete ein Männlein.
"Gibt es denn Buntel und wo kann ich die finden?"
"Buntel wohnen unter der Erde und nicht in der Regenrinne wie wir. Sie kommen auch nur bei Sonnenschein hervor. Wir verkriechen uns, wenn die Sonne scheint."
"Buntel singen ständig und sie mögen Farben. Deshalb kennen sie bestimmt eure grüne Haustür."
"Iih, Farben", murmelte ein Grauel. "Grau ist viel schöner."
"Singen mag ich nicht, das Plitsch Platsch des Regens ist eine viel schönere Musik", warf ein anderer Grauel ein.
"Also hier unter dem alten Baum wohnen bestimmt keine Buntel, aber im Nachbarhof unter dem Rosenbusch, da habe ich schon mal welche gesehen", warf jetzt ein Grauel ein, der ganz oben am Regenrohr hing. Inzwischen war das ganze Rohr voll mit kleinen Männlein, die sich alle für diesen seltsamen Jungen, der sie sehen konnte, interessierten.
"Lasst uns dahingehen", rief ein Grauel und alle kletterten im Nu nach oben und verschwanden im Regen.
"Wohin denn?" rief Peter verzweifelt. Niemand war mehr zu sehen. Aber dann kam ein Grauel das Rohr heruntergerutscht, sprang auf seine Schulter und lotste ihn in einen anderen Innenhof.
"Aus dem Tor raus und jetzt nach rechts laufen. Mach doch schneller, die anderen sind ebstimmt schon da. Jetzt nach links über die Straße in das Tor und über den Hof aus dem anderen Tor wieder raus und nach rechts und gleich wieder rechts. Nun lauf doch mal etwas schneller. Und jetzt wieder nach rechts in das Tor und jetzt sind wir endlich da."
Peter war ganz außer Atem und brachte nur ein "Danke" hervor. In der Mitte des Hofes stand in großer Rosenbusch, an dem noch einige Blüten dem kalten Herbstwetter trotzten. Um den Busch war ein Maschendrahtzaun gespannt, um Kinder, Hunde und andere Störenfriede fernzuhalten. Der Grauel sprang von Peters Schulter, zwängte sich durch eine Zaunmasche und verschwand in einem Mauseloch.
Nach einiger Zeit kam er mit einem zweiten Männlein wieder aus dem Mauseloch heraus. Das andere Männlein hatte auch einen grauen Kittel an, der schien aber in allen möglichen Grau- und Blautönen zu schimmern und diese verschiedenen Graus liefen wie Wellen über seinen Kittel.
Beide Männlein kletterten im Husch an Peter hoch. "Ich kenne ein Haus mit einer grünen Tür und einem bunten Bild im Fenster daneben", flötete der Buntel in Peters Ohr.
Und schon lotste er Peter auf die Straße und wieder ging es im Eiltempo los, mal links, mal rechts über eine lange Strecke. 'Hoffentlich verschwinden die beiden nicht', dachte Peter einmal. 'Dann habe ich mich endgültig verirrt. Alle Höfe schienen ihm gleicha uszusehen und er konnte überhaupt keinen Sinn in dem Zickzackweg, den ihm der Buntel wies, sehen. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und Peter ging einfach langsamer, weil er nicht mehr laufen konnte. Ab und zu warf er einen Blick auf den Buntel, der auf seiner rechten Schulter saß, und bemerkte, dass sich die Farben seines Kittels ständig zu ändern schienen. Sie kamen an roten, blauen und gelben Autos vorbei und der Kittel erstrahlte mal blau, dann rot, und wieder gelb.
"Dein Kittel ist ja interessant mit seinen verschiedenen Farben, wie ein Chamäleon", sagte Peter und war richtig stolz, dass er sich bei diesem schweren Wort nicht verheddert hatte.
Der Buntel lachte als ob er ein Lied sänge und Peter wurde bei diesem Lachen ganz warm und die Umgebung schien ihm gar nicht mehr so grau und trostlos.
"Wir spiegeln die Farben und die Töne um uns herum wieder, weil wir uns darüber freuen, wie schön die Welt um uns herum ist."
"Aber nur bei Regenwetter", maulte der Grauel, der auf Peters linker Schulter saß.
"Auch der Regen hat Farben und Töne", sang der Buntel. "Aber man muss alle Farben und Töne gerne mögen, dann ist auch das Regenlied schön und dann braucht man auch keinen Trübsinn zu verbreiten."
"Regen ist immer schön, aber Sonne gefällt mir nicht und bunte Farben tun meinen Augen weh", entgegnete der Grauel.
"Und wir verkriechen uns bei Regen in unseren warmen gemütlichen Höhlen und schließen die Tür fest zu. Ich glaube das ist beides nicht richtig. Wir sollten öfter mal miteinander spazierengehen, egal welches Wetter gerade ist. Aber jetzt sind wir da, hier ist deine grüne Haustür."
Peter starrte auf das Haus und bemerkte gar nicht, dass der Regen wieder stärker geworden war. Dann schaute er zweifelnd den Buntel auf seiner Schulter an: "Das ist eine blaue Tür und das ist auch nicht unser Haus."
"Oh, entschuldige, da habe ich wohl nicht richtig hingesehen. Aber das macht nichts, die grüne Haustür ist gleich im nächsten Hof. Da drüben durch den Torweg und schon sind wir da."
Peter lief durch den Torweg und stand im nächsten Hinterhof. Auch hier hatte jedes Haus drei Türen. Und alle zwölf Türen hatten die gleiche Farbe, die der Buntel auch auf seinem Kittel widerspiegelte.
"Wie heißt diese Farbe?", fragte Peter und zeigte auf eine der Haustüren.
"Grün ... oder blau? Oder ist das doch gelb?" Der Buntel schaute auf die Türen und dann auf Peter. Er sah regelrecht ratlos aus.
"Diese Farbe nennen wir Rot", entgegnete Peter und merkte, wie ihn in dem immer stärker werdenden Regen die Hoffnung wieder verließ. Würde er sein Zuhause wiederfinden? Er war jetzt schon nass bis auf die Haut und bei dem kalten Wind, der jetzt aufkam würde er morgen sicher eine Erkältung haben. Und das am vorletzten Ferientag. Wenn er nicht so verzweifelt wäre, könnte er sich amüsieren. Anscheinend war der Buntel farbenblind oder er kannte einfach die Worte für die Farben nicht.
"Weißt du denn, was grün ist?"
"Eine Farbe."
"Das ist grün", entgegnete Peter und zeigte auf einen Baum, der im Hof stand und dessen Blätter noch nicht herbstlich gelb gefärbt waren.
Der Buntel schaute lange auf den Baum und meinte dann: "So viele Farben hat keine Tür."
"Ja, aber so ungefähr wie der Baum."
"Ich werde es versuchen", sagte der Buntel leicht zweifelnd und dann lotste er Peter wieder durch mehrere Höfe, Inzwischen standen überall große Pfützen und man konnte im dichten Regen kaum die Häuser am anderen ende eines Innenhofes erkennen. Schließlich standen sie vor einer Tür und der Buntel fragte: "Ist das grün genug?"
Peter wußte nicht, was er antworten sollte. Sie standen vor einer Kellertür, die schon lange nicht mehr gestrichen worden war, so dass sie wirklich die verschiedensten Grautöne zeigte.
"Die ist aber schön", sagte der Grauel und Peter ging ein Licht auf: Buntel als Erdbewohner schauten eben auf den Stamm eines Baumes schauten und nicht auf die Blätter.
"Was soll ich denn machen", stöhnte er. "Verloren in der Großstadt, so etwas gibt es doch gar nicht." Mutlos setzte er sich auf dei Stufen der Kellertreppe. Plötzlich waren um ihn viele Grauel, die durcheinander schnatterten. "Wo bleibt ihr denn? Wieso kommt ihr nicht zu uns herüber?"
"Wo herüber?", fragte Peter und schaute den Männlein nach, die wieder davonhuschten. Und dann sah er seine Haustür. Peter fielen mindestens drei Steine vom Herzen und er rannte hinüber. Die Tür hatte ein kleines Dach, so dass Peter dort endlich einmal im Trockenen stehen konnte.
"Ich hätte nicht gedacht, dass das Grün ist", meinte der Buntel. Aber Peter machte sich keine Gedanken mehr über die lange Suche. "Jetzt bin ja zu Hause. Ich muss ganz schnell die nassen Sachen ausziehen und dann gehe ich ins Bett, um mich aufzuwärmen. Aber ich würde euch gerne wieder treffen."
"Ja gut", sagten Grauel und Buntel gemeinsam. "So etwas hat es noch nie gegeben. Wir werden gemeinsam Abenteuer erleben."