Verlassen
Verlassen
Er öffnete den Kleiderschrank. Noch immer hing ihr Duft in den Kleidern. Da, das Sommerkleid hatte er am liebsten an ihr gesehen. Langsam, fast zärtlich fuhr er über den leichten Stoff. Dann nahm er das hellgelbe Kleid heraus und drückte es an sich. Tief sog er den Duft ein und all die Erinnerungen an sie waren wieder da. Ihr Gesicht, ihr Lachen, ihre Haare - so weich. Ihre Augen - sie hatten ihn am meisten fasziniert, als er sie vor über zehn Jahren kennengelernt hatte. Dieses Strahlen, diese Tiefe, dieses unbeschreibliche Blau.
Wie jeden Abend hatte er die CD mit ihren Lieblingssongs eingelegt und spielte sie immer und immer wieder. Zum Takt der Musik tanzte er, tanzte mit ihrem Kleid, mit seiner Erinnerung.
Vor über zwei Monaten war sie gegangen. Nicht ohne Vorwarnung, aber dennoch für ihn unerwartet. Seine Frau hatte ihn verlassen ohne auch nur den geringsten Teil ihrer Sachen mitzunehmen. Nicht eines ihrer Kleider, nicht einmal ihre Haarbürste. Für ihn war das ein gutes Zeichen. Sie würde zurückkommen. Irgendwann. Er war sich ganz sicher. Sie war nicht wirklich gegangen, nicht für immer - das konnte einfach nicht sein.
Die Musik. Sie brachte ihn in eine andere Welt. In eine Welt, in der alles war wie zu Beginn ihrer Beziehung. Franz hatte ihr jeden Abend, wenn er mit seinen Freunden wieder in der Kneipe versackt war, eine Rose mit nach Hause gebracht. Sie hatte gelacht über seinen reumütigen Blick, den Dackelblick, wie sie es nannte. Er liebte ihr Lachen, so hell und klar, und er vermißte es unsagbar.
Ja, er vermißte ihr Lachen, hatte es schon lange bevor sie gegangen war vermißt.
Ihr Lieblingslied. Sie hatte jedes Mal laut mitgesungen und er hatte es gehaßt, daß sie mitsang und später auch das Lied. Doch jetzt brachte ihm dieses Lied irgendwie seine Frau zurück.
Noch einmal drückte er sein Gesicht in das luftige Sommerkleid, dann hing er es zurück in den Schrank.
Auf dem Boden des Schrankes standen ihre Pumps. Er nahm sie in die Hand, wie klein doch ihre Füße sind, dachte er. Wie viele erwachsene Frauen trugen schon Schuhgröße 36?
Was habe ich nur getan, daß diese wunderschöne Frau mich verlassen hat?
Franz wußte, er hatte zu viel getrunken. Die Kneipenabende einmal die Woche waren im Laufe der Zeit zu einer täglichen Aktion geworden. Immerhin, er war kein Säufer! Er trank nur in Gesellschaft - jeden Abend und jeden Abend zu viel. Seine Frau hatte auf ihn eingeredet, hatte ihn gewarnt, daß es so auf keinen Fall weiter gehen könnte. Doch er hatte sie nur ausgelacht, hatte sie beschimpft. Irgendwann hatte sie aufgehört zu reden, hatte nur noch dagesessen und nachgedacht, jeden gottverdammten Abend.
Weshalb nur hatte sie sich so verändert? Sie hatte alles zerstört damit. Er erinnerte sich wieder an das Gefühl, das er hatte, wenn er sie Abend für Abend dort in ihrem Sessel sitzend sah. Am liebsten hätte er ihr den Hals umgedreht. Er hatte das Gefühl sie nicht mehr ertragen zu können. Wie gut es sich anfühlte, sich vorzustellen, wie er ihr ganz langsam seine Hände um den Hals legte und zudrückte.
Und jetzt, wo sie weg war, sehnte er sich nach ihr, so sehr, daß es weh tat. Aber sicher würde sie bald wieder nach Hause kommen. Dann würde er sie in die Arme schließen und alles würde anders werden, ganz anders.
Mitternacht. Es war Zeit, ins Bett zu gehen. Franz ging durch den Flur direkt ins Bad. Die frisch gemauerte Wand, die jetzt den kleinen Abstellraum schloß, nahm er nicht wahr. Er ging daran vorbei, als würde sie schon immer existieren.
Mit dem Schlaf kamen die Träume, böse Träume. Er hörte seine Frau schreien, sah eine Faust in ihr Gesicht schlagen. Blut lief ihr aus der Nase. Wieder die Faust, die einfach nicht aufhören wollte zuzuschlagen. Stille. Keine Schreie mehr, seine Frau lag auf dem Boden und bewegte sich nicht mehr.
Schweißgebadet schreckte Franz hoch, sah sich um. Seine Frau lag nicht neben ihm und er fing an zu weinen - wie jede Nacht. Seit zwei Monaten, jede Nacht der gleiche Traum. Die Kirchturmuhr schlug drei Uhr. Er wälzte sich noch zwei Stunden lang im Bett hin und her, in der Hoffnung, noch einmal einzuschlafen. Zwecklos.
Wieder ging er den Flur entlang. Seit einiger Zeit war ihm ein seltsamer Geruch im Flur aufgefallen. Bisher konnte er ihn nicht richtig einordnen. Er holte tief Luft und blieb stehen. Verfault, ja, es roch als würde etwas verwesen. Komisch, dachte er. Woher nur dieser Geruch kam. Vielleicht eine Maus, die irgendwo hinter der Wand verreckt war. Geschah ihr ganz recht. Was hatte eine Maus im Haus zu suchen?
Wieder legte Franz die CD ein. Er war aufgewühlt. Mehr als in den anderen Nächten, wenn er durch die Träume aufgewacht war und keinen Schlaf finden konnte. Irgend etwas war anders gewesen an diesem Traum.
Die Augen, es waren ihre Augen gewesen. Sie waren nicht strahlend gewesen, wie er sie kannte, sondern trüb und voller Vorwürfe.
Dieser Blick, diese Augen verfolgten ihn überall hin, er bekam sie nicht mehr aus dem Kopf, sie machten ihn verrückt.
Nur ein Glas, nur ein einziges Glas Klarer würde ihn sicher beruhigen. Er trank gleich aus der Flasche, einen riesigen Schluck und noch einen und noch einen. Dann setzte er sich auf ihren Sessel und schlief ein.
Plötzlich schreckte er hoch. Oh Gott, was hatte er getan? Wie hatte er das nur tun können? Franz sprang auf, lief in den Keller und holte Hammer und Meißel. Die Wand, wieso hatte er sie die ganze Zeit übersehen.
Bilder schossen wie Blitze durch seinen Kopf. Seine Frau, eine Faust in ihrem Gesicht, seine Faust. Blut, überall Blut. Mauersteine, Mörtel. Eine Mauer, die immer mehr wuchs. Hände, die Stein um Stein setzten, seine Hände. Das Gesicht seiner Frau. Ihre Augen, trüb und trotzdem anklagend. Der Mund geöffnet wie zu einem Schrei. Er hörte sie schreien. Mörder.
*inspired by The Beautiful South: Woman In The Wall (album: Welcome To The Beautiful South, 1989)