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Verklagen
Verklagen
Soll es das sein? Sind dies die Gründe, diese Zivilisation für lächerlich zu befinden? Ist es das? Hannes steht an der Panoramaverglasung des Wohnzimmers und blickt resignierend über den gepflegten Rasen, den geradlinigen Plattenweg zum Gerätehäuschen und fokussiert kurz den Colani-Gartenzwerg mit der spitz zulaufenden Kopfbedeckung aus Bergkristall. Die fünfzigseitige Widerstandsschrift wiegt schwer in seinen Händen. Nach jeder der zweiseitigen Ausführungen gegen all das menschgemachte Leid dieser Welt kommen etwa vier Seiten Werbeanzeigen. Schließlich will auch die gute Sache finanziert sein.
„Was tust du da?“ Helena fragt - so wie immer - schnippisch und nicht anders. Ihre frisch aufgespritzte Oberlippe glänzt leicht im Licht der untergehenden Sonne. Er macht einen entschlossen wirkenden Schritt rückwärts von der sanft sepiagetönten Glasscheibe weg und durchbricht dabei mit dem Oberkörper die Besucherlichtschranke. Schallendes Lachen schlägt ihm aus dem Dolby-Surround-Sound-System entgegen. Das Gelächter schwillt kurz an, bricht sich in vereinzelten Quietschern und endet mit dem kraftvollen Hustenanfall eines einzelnen Herrn. „Muss denn ständig dieses Lachen im Hintergrund sein?“ fragt er und ist – wie meistens, wenn er das Haus verlässt, betritt oder einfach nur aus dem Fenster in den Garten sehen will - irritiert. „Das Leben ist zwar keine Seifenoper“ sagt Helena und streicht sich mit ihren schlanken Fingern durch das schulterlange, blonde Haar, das, jetzt um halb neun abends in Berlin, denselben leichtgewellten, feinen Schwung über der Stirn und dieselbe frische Form aufweist, wie bereits heute morgen um sechs in Rom und heute Mittag gegen zwölf in Helsinki „aber wir können doch wenigstens so tun, als sei es eine.“.
Sie sitzen inzwischen beide auf Stühlen mit hohen Lehnen aus aneinander geschraubten und sorgfältig polierten Nashornhörnern. Hannes hat das hochglänzende Pamphlet der Organisation, die sich mysteriöserweise nur DIE ORGANISATION nennt, in dem massiven und doch elegant geschwungenen teakhölzernen Zeitschriftenhalter versenkt. Was dort endet, sieht lange Zeit nicht mehr das Licht. Er hat die Stühle und den Zeitschriftenhalter selber zusammengeschraubt. Nachdem sie erfahren haben, dass ihr bisheriger Möbellieferant radioaktiv verstrahltes Billigholz aus dem Osten verarbeitet, sind sie auf südliche Importe umgestiegen. Die Adresse des neuen Möbelhauses haben sie in einer Zeitung entdeckt. Schöner Wohnen oder so ähnlich. Er müsste jetzt nachgucken, denn die liegt unter dem Pamphlet im Zeitungsständer. „Ich möchte gar nicht mehr nach mir handeln.“ murmelt sie müde und mit plötzlicher Niedergeschlagenheit „Ich möchte nicht mehr wollen, es führt doch zu nichts!“. Er steht auf und kontrolliert, ob die Hörner noch fest sitzen, eines wackelt bedenklich. Sollte dieser babylonische Turm einstürzen? fragt er sich zunächst sorgenvoll. Ein schnelles Lächeln huscht über seine Züge: „Dann werde ich die Bande verklagen.“ murmelt er bestimmt und wackelt erneut an dem Horn „Ich werde diese ganze Bande verklagen!“ schreit er wütend „Wen denn?“ brüllt sie ihn an „Wen sollen wir noch alles verklagen?“ sie schluchzt laut auf.
„Na, die von Schöner Wohnen, die verlogene Bande. Lebensgefährlich ist das, was die so treiben.“ „Ich freu mich ja so!“ schluchzt Helena, denn diese Perspektive rührt sie jedes Mal zu Tränen „Zeigen werden wir es denen!“. Hannes geht festen Schrittes zum Fenster. Schallendes Gelächter, dieses Mal die spöttische Version zerstört die aufgekratzte Stimmung „Ach Scheiße!“ brüllt er, stellt sich bebend an das Fenster, vergräbt die Hände in den Taschen, presst die erhitzte Stirn an die angenehm kühle Glasscheibe und stiert nach draußen „Dieser schreckliche Unfall.“ sagt er leise und zittert dabei „Stell dir nur vor...was da alles hätte passieren können!“ sie wagt nicht, es sich vorzustellen, schlägt bloß erschüttert ihre schönen schwarzen Wimpern nieder. „Ohne diese Stühle könnte das niemals passieren. Hätte ich sie nur nie gebaut. Hätte Schöner Wohnen sie doch nie empfohlen.“ „Das bringt doch jetzt auch nichts mehr.“ Sie versucht, resolut zu klingen, aber ihre Stimme bricht in übermäßiger Erregung. In schwarzen, zackigen Bahnen zerreißen zwei Tränen ihren glattgeschliffenen Teint. Helena steht auf. Sie weiß, dass er sie in diesem Augenblick braucht. „Oooooooh!!!!“ brüllt es offenkundig falsch mitleidend aus den Lautsprecherboxen, als ihr schlanker und trainierter Körper den haarfeinen roten Lichtstrahl durchbricht, um sich tröstend an seinen Rücken zu schmiegen.