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Verkehrte Welt
Er hatte keine Ahnung, was überhaupt los war. Er wusste nur, was er sah. Und er sah eine ganze Menge.
Vor sich reihte sich ein Pfefferkuchenhaus nach dem anderen bis zum Horizont, und nicht einmal er, das Matheass der Schule, hätte sie zählen können. Jedenfalls schauten aus unglaublich vielen Fenstern die gleichen unverkennbar zweifelhaften Wesen, deren knubbelige Arme auf von Zuckerguss bedeckten Fensterbrettern ruhten. Sie hatten alle die gleiche, rote Knollennase, kleine Augen, die fast unter ihren buschigen Augenbrauen verschwanden, und scheinbar sangen alle aus voller Kehle das gleiche nervige Lied, das nun schon seit fünf Minuten Toms Ohren betäubte.
Wo war er hier gelandet? Irgendwie erinnerte ihn das alles an ein Märchen, das jedoch keineswegs so spannend war wie andere. Tatsächlich blieben die seltsamen Wesen die ganze Zeit in gleicher Position, als hätten sie noch nie eine andere Bewegung ausgeführt.
Ungläubig starrte Tom nun die Menge an, die sich auf der Straße tummelte. Neben einem großen Schild, auf dem eine Spielfigur neben einer grünen Ampel abgebildet war, spielten die sieben Zwerge Mensch – Ärger – dich – nicht. Doch scheinbar hatten sie ihre Partie beendet, denn ein kleiner Zwerg mit roter Pudelmütze sprang plötzlich begeistert aus seinem Schneidersitz auf, und wollte bestimmt die Straße überqueren, doch schließlich war er noch so im Freudentaumel, dass er versehentlich einem Ferrari genau vor die lackierte Nase lief. Erschrocken stieg der Fahrer mit lautem Fluchen aus. Bei näherem Hinsehen stellte Tom verblüffend fest, dass es ein Pfefferkuchenmann mit Krückstock war.
Tom blinzelte, kniff sich in den Arm, tat, was immer man für das Ende eines verrückten Traumes tun konnte, doch immer noch stand er auf derselben Straße, blickte in die Augen derselben Geschöpfe und sah in der Ferne dieselben spitzen Berge, jede dieser Spitzen mit einer riesigen roten Weihnachtsmütze dekoriert. Und je länger er überlegte, ob er vielleicht nicht doch verrückt geworden war, desto unwirklicher kam ihm das alles vor.
Plötzlich spürte er einen etwas zu groben Klaps auf der Schulter und drehte sich auf den Fersen um. Sein Herz klopfte ziemlich schnell. Wohl, weil er bis zu diesem Zeitpunkt noch die Hoffnung gehegt hatte, sich in einer Traumwelt zu befinden. Schließlich hatte er in seinen Träumen noch nie Schmerzen empfunden. Es musste einfach alles real sein, was er in diesen Minuten erlebte, und er hoffte inständig, dass ihn dieser Schulterklapser nicht erneut heimsuchen würde.
Tom brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was er da vor sich hatte. Sein Blick heftete sich nicht an das Gesicht seines seltsamen Gegenübers. Schon der Körper - wenn man ihn tatsächlich so nennen konnte - war äußerst interessant.
Wie der Stiel einer der schrecklichen Regenschirme von Mama, schoss es Tom durch den Kopf, während er den großen gestreiften Kringel betrachtete, der diesem Wesen wohl als Körper genügte. Seine Augen wanderten immer höher und schließlich hatte er den Kopfteil erreicht, der nicht weniger unglaublich war. Tom trat einen Schritt zurück, um das Geschöpf in seiner Gesamtheit zu betrachten, und musste sich schwer zusammenreißen, nicht laut loszulachen. Tatsächlich stand er vor einer sehr weihnachtlich aussehenden Zuckerstange, rot – weiß – gestreift, und ein schiefes Grinsen auf dem Gesicht, das sich sogar durch ihren widerspenstigen Schnurrbart Bahn brach. Eine Weihnachtsmütze prangte auf seinem Kopf. Das erklärte zumindest die Bergspitzen.
„Nein, das ist nicht wahr“, rief Tom unwillkürlich, und einige der Passanten um ihn herum blieben abrupt stehen.
Doch das Grinsen auf dem Zuckerstangengesicht wurde immer breiter, und plötzlich öffnete es den blassen Zuckermund, und eine raue Stimme sagte: „Das ist hier immer so.“
Im nächsten Moment war alles so rasch verschwunden wie es gekommen war.
„Tom, wachst du endlich auf?“
Er spürte, wie er leicht durchgerüttelt wurde. Schlaftrunken setzte er sich auf, sah seine Mutter vor sich, und sagte: „Wo ist Herr Zuckerstange und die sieben Zwerge?“
Seine Mutter lachte auf, sagte aber forsch: „Keine Ahnung, aber wenn du dich nicht sofort aus deinem Bett erhebst, ruf ich Schneewittchen oder den Weihnachtsmann, ob er dich vielleicht in die Schule zaubern kann.“
Sie verließ das Zimmer, und ließ Tom zurück mit komischen Gedanken über spitzbergige Weihnachtsmützen.