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Verkauft
Mein kleiner Laden liegt am Rande der Stadt in einer kleinen, unscheinbaren Seitenstraße. Jeden Morgen gehe ich hoffnungsvoll zu meinem Geschäft und bin überzeugt, dass heute -ganz bestimmt heute- jemand vorbei kommt und etwas kauft. Leider passiert das nur sehr selten, genaugenommen so gut wie nie. Doch ich bin Optimist. Dieser Optimismus kommt nicht von Ungefähr. Langjährige Übungen der Selbstüberzeugung sind dem voraus gegangen. Jeden Tag pünktlich um 8.20 Uhr stehe ich vor dem Spiegel in meinem unscheinbaren Badezimmer, betrachte mich und sage zu mir selbst:
„Sonja, dein Laden ist klasse. So etwas wie diesen Laden gibt es nirgendwo sonst. Was du verkaufst, ist einzigartig wie jede Pore deines Körpers.“
Für Sie muss das natürlich total lächerlich klingen, aber mir hilft es.
Seit über 24 Jahren gibt es mein kleines Geschäft und ich bin stolz darauf, obwohl ich noch nie Gewinn erzielt habe. Darum geht es mir auch nicht. Es geht um Ethik, Überzeugung und um die Tatsache, stolz darauf zu sein, dass man anders ist. Und eines können Sie mir glauben: Ich binanders.
Niemals habe ich mich im Leben den verkümmerten Idealbildern der Gesellschaft hingegeben. Niemals habe ich das getan, was andere von mir erwarten. Warum auch? Als ich mit 19 schwanger wurde, haben mir alle –besonders meine Eltern- gesagt: „Sonja, Dein ganzes Leben liegt noch vor Dir. Alleine wirst du es niemals schaffen. Ohne Ausbildung und ohne Job wirst Du in der Gosse landen. Du musst unbedingt abtreiben.“ Stundenlange Diskussionen habe ich über mich ergehen lassen; habe über die Worte meiner Familie nachgedacht. Doch meine Entscheidung stand schon lange fest. Was ist der tollste Job der Welt wert, gegen das unschuldige, bezaubernde Lachen eines Kindes? Was sind Abitur, Doktortitel und Villa, gemessen an dem Glück, zu sich selbst zu stehen? Täglich sehe ich abgehetzte Anzugträger durch die Straßen eilen. Kriechend bewegen sie ihre automatisierten, rückradlosen Körper durch verstopfte S-Bahn-Abteile. Sie leben nicht, sie vegetieren. Sie laufen nicht, sie rennen. Sie kämpfen gegen die Zeit, die ihnen noch bleibt, ohne dabei zu verstehen, dass man diesen Kampf nie gewinnen kann. Ich belächle sie. Was soll ich auch sonst tun? Gegen Dummheit gibt es kein Mittel, nur Wege.
Ich verkaufe solche Wege. Sie glauben mir nicht? Können Sie aber ruhig!
Heute morgen kam ein Mann in meinen Laden. Anders als meine sonstigen Kunden rannte er nicht durch die Regale, sondern schlenderte zwischen ihnen hindurch. Jedes meiner Bilder sah er sich genau an. Er nahm jedes Einzelne in die Hand, betrachtete es und bat mich, ihm die Bedeutung zu erklären. Wir redeten lange. Plötzlich unterbrach er unser Gespräch, um vor dem großen Spiegel im Gang stehen zu bleiben. Ich hatte diesen Spiegel irgendwann auf einem Flohmarkt entdeckt. Der Verkäufer, ein alter, verwirrtes Zeug redender Mann, erklärte mir, es wäre der Spiegel der Seele. Ich lachte ungläubig und kaufte den Spiegel.
Ich versuchte dem Mann in meinem Geschäft zu erklären, dass dieser Spiegel nicht verkäuflich sei. Er schaute mich mit großen Augen an, sagte aber nichts.
Er hat ihn mitgenommen. Ich weiß, dass er mich verstanden hat.
© Pandora (K.B.), 2001