Mitglied
- Beitritt
- 07.10.2015
- Beiträge
- 515
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 32
Verkündigung
(1)
Ferdinand war nicht da. Er war wieder bei dem Mädchen.
Er saß bei ihr am Bett, las ihr vor und sprach mit ihr, fast schien es, er wollte über sie wachen. Magdalena wohnte aufwärts, Rebenkofen und weiter. Ende dieses Sommers ging sie zum Bahnhof, stand und hielt den Griff ihrer Reisetasche, hob sie nicht auf, als der Zug einrollte, und sah ihm kaum nach, als er abfuhr. Jemand brachte sie wieder zu den Eltern. Es war ihr nicht mehr möglich, das Studium weiterzuführen.
„Stunden ist der Junge dort!“, sagte Berenice, warf die Arme in die Luft um anzuzeigen, dass sie sich freundlich darüber belustigte. „Er lässt ihr keine Ruhe.“
Wir warteten.
Ich saß im Korbsessel am Kachelofen, die Zeitung aufgeschlagen auf den Knien, und berichtete den Eltern meines Jugendfreunds von Sizilien. Ich war gerade aus Palermo zurück, wo ich die Mitarbeit an einem kleinen Forschungsprojekt zugesichert bekommen hatte, mit deren Hilfe ich die ersten Monate nach meinem Master zu überbrücken hoffte.
„Dann also Antonello da Messina“, sagte Gerhard. „Frührenaissance.“ Er hatte die Brille abgenommen und sprach mit der Zuversicht eines Bibliothekars, der genau wusste, wo er nachzusehen hatte.
Er brauchte beide Hände, um das Buch aus dem Regal zu ziehen, legte es auf den Tisch, schlug es in der Mitte auf. Die Seiten flossen auseinander. „Bitte: Die Annunciata“, sagte er. Berenice setzte sich an meine Seite. Sie beugte sich vor über den Tisch, schob die Hand unter den Buchdeckel, um ihn noch einmal umzuklappen, las den Titel, schlug wieder zurück. Sie reckte den Hals und hob die Augenbrauen. „Warum Venezianische Malerei, wenn er doch da Messina heißt?“, fragte sie. Das Bild gefiel ihr. Die Hand, Abwehr und Gruß zugleich, das Gesicht. Wie der Raum in die Tiefe zog. Und wo diese Augen hinschauten! Berenice deutete mit den Fingern und hüpfte dabei auf ihrem Kissen wie ein junges Mädchen.
Auch Gerhard warf einen Blick hin, sagte ein Wort, ging dann in die Küche, wo er am Backofen beschäftigt war. Ich tat die Zeitung zur Seite. Ja doch, das erinnere sie an etwas. An ein anderes Bild, an diesen Dogen mit dem weißen Pharaonenhut, so sagte sie: Pharaonenhut, das Bild hänge in London. Sie blätterte im Buch, während sie die Hand auf die Annunciata legte, damit wir die Seite nicht verloren. Immer wieder habe sie sich das angeschaut, in London hänge das, immer zuallererst stracks auf das Bild des Dogen sei sie zu. Bellini, von Bellini war das Bild, von welchem fiel ihr nicht ein, „Gentile oder - wie heißt noch der andere? Ja kuck, da ist es doch.“ Sie glättete die Seiten. „Ach“, sagte sie, und drückte die Wange auf die Hand. „Das ist ja ganz anders. Aber dieses Blau!“
Ich ging wie sie mit meinem Gesicht näher an das Bild. Der Doge Leonardo Loredan sah zur Seite.
Berenice schlug im Buch wieder die Annunciata auf und erhob sich.
Ich nahm die Zeitung. In der Küche pfiff der Wasserkessel.
(2)
Wir hörten die Haustür, als Gerhard den Kuchen auf den Esstisch stellte. Dann zog jemand im Windfang Schuhe und Jacke aus.
„Du bist hier!“, grüßte mich Ferdinand und nahm mich schon beim Arm „Komm! Ich muss dir was zeigen.“
Er sprach nicht mehr laut, als er es mir eröffnete: er habe etwas herausgefunden. Halb umgewendet sprach er von der Treppenstufe auf mich herab. Er habe etwas herausgefunden, wiederholte er, diesmal sei er ganz sicher, etwas Wichtiges, aber es sei auch gefährlich. Ich wisse ja wohl: Heidegger, Wittgenstein, Hitler. „Achtzehnhundertneunundachtzig! Alle im gleichen Jahr. Das muss etwas bedeuten.“ Er hielt wieder an, weil er nicht zugleich mich ansehen und die Wendeltreppe hinaufsteigen konnte. „Du erinnerst dich: Meßkirch, Braunau, Wien. Nahezu auf einer Linie, ich zeig’s dir gleich. Nahezu derselbe Breitengrad. Ganz kleine Abweichungen.“
Er führte mich oben in sein altes Zimmer. Es hatte sich verändert, Regale deckten die Wände. Ferdinand selbst hatte Gerhard ermutigt, ein Lesezimmer einzurichten, man müsse das Kinderzimmer nicht konservieren. „Das Bett in Luisas Zimmer genügt“, hatte Ferdinand gesagt. Sie wohnte ja nun in England, da kamen die Geschwister selten zu gleicher Zeit. Gerhard hat endlich seine Bücher aus den Kisten vom Speicher holen können.
Nur die schmalen langen Fenster von der Decke zum Boden waren wie früher. Ferdinand zog die Vorhänge zu, nach beiden Seiten hin, denn das Zimmer lag im Eck.
Es erscheine ihm schon lange merkwürdig, dass alle drei im selben Jahr geboren seien. „Achtzehnhundertneunundachtzig. Alle drei. Ich habe das dann aber - “ Er brach ab, lotste mich mit einer Kopfbewegung an die Tischkante ihm gegenüber: „Fass an, der Tisch ist zu klein.“ Wir hoben an und stellten ihn vor eines der Fenster. Ferdinand kniete sich auf den Boden, schlug den Teppich zur Seite und langte unter ein Regal. Er zog eine lange Papierrolle hervor, die er auf dem Parkett ausbreitete. Er hatte die Umrisse Europas darauf gezeichnet, die Unterschiede von Land und Meer, überhaupt das Oberflächenrelief, waren in Pastellfarben angedeutet. Es sah prächtig aus. Schon immer konnte Ferdinand alles beschämend gut. Das hatte ihn früher in der Schule in ein Abseits gestellt, aber es war ein bewundertes Abseits. Er stand immer ein Stückchen höher als die anderen. Ich lobte sein Werk.
Ferdinand strich die Wölbung glatt und beschwerte den Papierbogen an den Ecken mit Büchern. Er kniete am Rand der Landkarte, stützte die eine Hand weit in der Mitte auf. In der anderen hielt er ein Stück Aquarellkreide. Neben sich hatte er ein langes Lineal gelegt.
Eine Auffälligkeit sei diese Übereinstimmung im Geburtsjahr immer gewesen, er habe sie aber nicht weiter beachtet. „Man kann ja ohnehin nicht wissen, ob etwas dahintersteckt: So denkt man immer, nicht wahr? Man weiß nicht, man kann nicht wissen. Falsch!“ Man müsse es nur systematisch untersuchen. „Du wirst staunen, wie offen es zutage tritt, wenn man nur einmal genauer hinschaut.“
Wichtige Städte hatte er eingezeichnet. „Karthago“, sagte ich, und deutete mit den Zehenspitzen darauf. Das amüsierte mich. Er nickte. Ins hellblaue Meer im Westen schrieb er sorgfältig Namen in je verschiedenen Farben: Ludwig Wittgenstein, dazu das Geburtsdatum, Sterbedatum. Martin Heidegger, auch hier die Lebensdaten. Auch den dritten Namen, Adolf Hitler, schrieb er dazu, ebenso sachlich, ebenso sauber und ohne Zögern, als sei der nicht ungewöhnlicher als die anderen. Ich sah jetzt auch, dass er die Geburtsorte bereits eingezeichnet hatte, beschriftet in denselben Farben wie die Namen. „Meßkirch. Braunau, hier, und zwar näher an Wien als an Meßkirch. Meßkirch, viel weiter im Westen.“ Sorgfältig zog er den Stift am Lineal entlang. „Es geht um die groben Linien, ganz genau ist es nicht.“ Aber doch, ja, man sah es deutlich: Alle drei Geburtsorte lagen auf einer Geraden, waagrecht von West nach Ost.
Er pochte mit der Kreide aufs Papier. „Was sagst du dazu.“
„Achtzehnhundertneunundachtzig“, wiederholte er. Aber auch über die Jahreszahl hinaus, sagte er, waren die Beziehungen offensichtlich: Am 20. April war der Lump geboren, am 26. April Ludwig Wittgenstein, am 26. September Martin Heidegger. Zweimal April, zweimal der 26. Je zwei hatten miteinander zu tun, so dass die Dreiheit wie eine Kette ineinander verhakt war. Ferdinand sah mich schräg von unten her an, als wartete er auf meinen Beifall. Ich nickte ihm zu, dass ich verstand. Dann kniete ich mich an seine Seite.
Korrespondenzen, Übereinstimmungen. Er hatte allerdings immer etwas dafür übrig gehabt. Ein Spiel war das gewesen, in dem auch ich mich zu einem gewissen Ehrgeiz anstacheln lassen konnte. Es machte Spaß, was er alles fand, worauf er kam. Spleenig konnte es gelegentlich wirken, aber doch nicht krank. Ich kannte ihn ja.
Ferdinand zog vor meinen Augen weitere Linien auf dem Papier. Die Stätten des Wirkens, „des Wirkens und Wütens“, so sagt er: Freiburg, Cambridge, Berlin. „Es ist wirklich so.“ Natürlich nicht ganz genau parallel zum Breitenkreis sei die Linie, die Berlin und Cambridge verbinde, aber annähernd, er habe es anhand der Koordinaten überprüft. „Eine Höhe, fast auf derselben Höhe von West nach Ost liegen Berlin und Cambridge.“ Fast parallel also auch zur anderen Linie weiter unten, die die Geburtsorte verbindet. Die minimale Abweichung mochte er dabei nicht übergehen, er blieb rechtschaffen, zählen und wägen wollte er genau, nichts erschleichen. „Es ist nicht ganz aufs Komma. In der wirklichen Welt ist nie etwas genau aufs Komma, es ist organisch. Das große Ganze zählt.“
Schließlich Freiburg. Was Cambridge für Wittgenstein, das war Freiburg für Heidegger. „So ist es wirklich, man kann nichts dagegen tun.“ Ein annähend gleichschenkliges Dreieck hatte sich ergeben, oben Cambridge und Berlin, unten Freiburg als die Spitze. Freiburg wiederum lag fast auf der Verlängerung der bereits gezogenen Linie, auf der die drei Geburtsorte lagen. „Fast, fast, nicht ganz“, betonte Ferdinand. Er sah keinen Anlass, sich durch einen geringen Mangel an Symmetrie verunsichern zu lassen. Man müsse einmal überlegen: Wie wahrscheinlich sei es denn: drei Leute, drei Lebensdaten! Die Geburtsorte, die Orte des Wirkens! Alles füge sich so, alles nur ungefähr, jawohl, aber dennoch sei das Zusammentreffen insgesamt, in der Summe, unbedingt bemerkenswert. Das sei doch im Ganzen, im Ganzen betrachtet sei das doch kein Zufall mehr.
„Was hat das nur zu bedeuten?“ Ferdinand stützte die Hände auf, schaute auf das Papier und dachte nach. Es müsse etwas bedeuten.
Er sah aus wie immer.
„Nur dies noch!“ Er hielt mich am Arm, als ob ich hätte gehen wollen.
„Und wohin zeigt dieses Dreieck?“ Er habe nichts Auffälliges feststellen können. Nicht nach Rom, nicht nach Jerusalem zeige es, nicht nach Mekka. Aber das doch, es zeige nach unten. Nach unten zeigte es. In die Tiefe. „Es zeigt in den Abgrund.“
Er dachte nach.
„Wittgenstein, Heidegger, Hitler: Eine Dreifaltigkeit des Schreckens.“
Bis hierhin sei er gekommen. So lagen die Fakten.
Er rollte die Karte zusammen, schob sie unter das Regal, so dass man sie nicht mehr sah. Dann riss er die Vorhänge auf. Es wurde früh dunkel, draußen war kein Licht mehr. Er brauche Luft, schlug er vor. „Frische Luft. Ein Spaziergang!“
Im Windfang unten nahm er den Mantel von der Kleiderstange. Er zog ihn über und tastete mit einer Hand von innen über das Futter, hielt mit der andern Hand dagegen, wie ein Zöllner, der nach Schmuggelware sucht. Dann erst schloss er den Mantel.
(3)
Von Magdalena hatte ich eine unsichere Vorstellung. Ich musste sie schon gesehen haben, nicht oft, vermutlich zu der Zeit, als Luisa und ich gerade ein Paar wurden. Es gab diese Abende, an denen die beiden Geschwister Freunde einluden, Talentabende sagten wir dazu. Manche machten Musik, manche wagten es, Selbstgeschriebenes vorzutragen. Es gab da ein schlankes, großgewachsenes Mädchen, das ein oder zweimal an der Runde teilgenommen hatte. Sie trug eine Brille mit großen Gläsern, spielte Klarinette und bewegte sich zwischen uns, als sei sie schon immer dabei. Tatsächlich wunderte ich mich damals, dass sie nicht häufiger kam.
Dieses Mädchen sah ich vor mir, wenn ich mich an Magdalena zu erinnern versuchte. Ich stellte sie mir vor mit ihren Brillengläsern und den großen Augen dahinter, wie sie jetzt im Bett saß bei künstlichem Licht und nicht mehr aus ihrem Zimmer ging. Sie ließ nicht einmal zu, erzählte mir Ferdinand, dass er die Rollläden hochzog. Ich wusste nicht genau, worüber er mit ihr sprach, aber es waren nicht die Dinge, die er sich mir gegenüber ausdachte.
Ferdinand hielt sich immer länger bei der Kranken auf.
Anfangs sprachen ihre Eltern noch mit ihm, jetzt ging er an ihnen vorbei geradewegs in Magdalenas Zimmer und grüßte nicht einmal.
Angeblich sollte sie seine Besuche nicht mögen, sagten ihre Eltern. Angeblich! Aber sie schickte ihn nicht fort.
Dabei war er nicht verliebt. Er wollte ihr helfen. „Wenn ich verliebt wäre“, sagte er, „würden sie sich nicht so anstellen. Dass ich es nicht bin, das macht ihnen Angst. Was will er denn dann von ihr, denken sie. So sind sie. Die kennen nur das eine. Die verstehen nichts.“
Oft erst nach dem Abendessen kam Ferdinand zurück. Wenn er mich dann bei seinen Eltern vorfand, zog er mich gleich mit sich nach oben. Bis tief in die Nacht enthüllte und erläuterte er mir seine Entdeckungen. Das Netz auf seiner Landkarte wurde dichter. Er glühte vor Eifer.
Nur manchmal sprach er schwerfällig. „Es hat mit mir zu tun“, flüsterte er.
Da war etwas mit den Sterbedaten. Die Geburtstage, sicher, da hat er gleich erkannt, dass es Beziehungen gebe. „Aber Sterbedaten, die nimmt man doch nicht wahr.“ Der 26. Mai, Heideggers Todestag, war Luisas Geburtstag. Sechzehn Jahre später, sagte er. Ich zuckte mit den Schultern. Seinen eigenen Geburtstag fand er in Wittgensteins Todestag wieder. Im Geburtstag des Vaters entdeckte er eine Kombination aus allen dreien: „Sieh her, die Dreißig von Heidegger, zweitens der Mai, drittens das Jahr: 1951.“
Das sind Botschaften, sagte er. Er wischte sich über die Stirn.
Es hatte mit ihm zu tun.
Er verabschiedete mich spät an der Tür. Über den freigeschaufelten Wegen lag ein Flaum von frischem Schnee. An der Ecke trat jemand in den Lichtkegel der Straßenbeleuchtung. Ich sah ein Gesicht und dachte: Luisa! Es war Berenice.
„Ich möchte nicht, dass er uns hört“, flüsterte sie, und deutete mit dem Kopf auf das Haus. „Worüber spricht er mit dir?“
Wir gingen nebeneinander her, ein Stück aufs Feld hinaus und wieder zurück, auf und ab. Ich berichtete oberflächlich, welchen Spuren Ferdinand nachging. „Nichts Bedenkliches also“, fragte sie, „nichts Bedenkliches?“ Ich bestätigte ihr stumm, was sie wissen wollte. Wir gingen schweigend. Ein Stück noch bog sie schließlich mit mir ab, um mich bis zum Waldrand zu begleiten. „Er spricht kaum mehr mit uns“, sagte sie. Wir standen uns gegenüber. Sie nahm mein Gesicht zwischen die Hände und wandte den Kopf seitwärts. „Lass ihn nicht allein. Es macht mir Sorgen.“ Ihre Gestalt vor mir im Dunkeln sah zart und verletzlich aus. Ich löste vorsichtig ihre Hände.
(4)
„Botschaften. Botschaften!“ Januar 1889, immer wieder 1889: Nietzsches Zusammenbruch und geistige Umnachtung. „Nietzsche!“ rief Ferdinand flüsternd, „Nietzsche ausgerechnet, der Unheimliche, der seine letzten Briefe unterschrieb, du weißt ja, er unterschrieb so: Der Gekreuzigte!“ 1889 im Januar, da brach Nietzsche in ein bodenloses Weinen aus und verlor anschließend den Verstand. „In Turin.“ Ich nickte.
„Damit fängt alles an. Im Januar! Sieh doch, das Jahr beginnt erst, hier beginnt es, hier fängt es an.“ Nietzsche, der Künder des Neuen.
„Der letzte Brief, der letzte überhaupt, Nietzsches allerletztes Schriftstück.“ Ich hatte davon gehört. Der Brief ging am 6. Januar an den feinen Jacob Burckhardt, an Jacob Burckhardt, der ihn in seiner bescheidenen Kammer las und bei aufrichtigem Erschrecken über das Unglück des Freundes womöglich heimlich doch froh war, dass es mit dem Wirrkopf nun gottlob auf ein Ende zulief.
„Der letzte Brief am 6. Januar. Zufall? Dreikönig!“
Ferdinand schwitzte. Was er da ausgrub! Wem das nicht einleuchtete! Ich stand daneben, sah auf sein Werk hinunter und hoffte, dass es vorüberging.
„Dreikönig, so beginnt es, so kündigt es sich an. Ja, so kündigt es sich an“, sagte er langsam, während er seinen Kopf drehte und mir in die Augen schaute. Nietzsche, das sei der Täufer. Er künde von der Geburt der neuen Dreifaltigkeit.
Und! Er deutete auf sein eigenes Geburtsdatum, das jetzt bei den anderen stand. Er umkreiste mit dem Finger die Zahl: 1988. In diesem Jahr ist Ferdinand geboren. „Neunundneunzig Jahre später, neunundneunzig Jahre nach dem Ereignis in Turin, neunundneunzig Jahre später also auch als Wittgenstein, Heidegger und Hitler. Das sind 9 mal 11. Das sind 3 mal 33. Du hörst doch: Dreiunddreißig.“ Sein Triumph klang in meinen Ohren hohl.
„Eine Dreifaltigkeit“, sagte Ferdinand anderntags. In wenigen Schritten waren wir aus der Siedlung im freien Feld. „Aber mit welchem Sinn? Dreikönig. Dreimal 1889.“
Natürlich zeige das Dreieck in die Tiefe. Jetzt sei es ihm klar. Es zeigte auf den Abgrund. Wie er das habe übersehen können: „Es zeigt auf Turin. Die Spitze zeigt genau auf Turin.“ Das sei Teil der Botschaft. „Nietzsche. Du verstehst.“
Was machte aber Wittgenstein in Gesellschaft dieser beiden anderen? Das beschäftigte ihn. Wittgenstein passte doch nicht dazu. Der Reine, der sich in seinem Leben aufopferte, der ein Heiliger, ein Gott hätte sein können, dann aber alles liegen ließ und in den Bergen ein einfacher Schullehrer wurde. „Richtig, ja, er lässt sich wieder zurückrufen in eine glänzendere Welt, lässt sich wieder feiern, feiert Auferstehung in der Welt hohen Ruhms, aber es ändert doch nichts daran, dass er erst alles geopfert hat. Er war bereit dazu. Er konnte nicht ahnen, dass man ihn wieder holt, nicht wahr? Hat er nicht sein Vermögen aufgegeben, sein Geld verschenkt? Er hat es! Ein Guter. Und was drängen sich dann die anderen beiden zu einem solchen? Was wollen sie da bei ihm? Was will er mit denen?“ Ja, Heidegger, das sei wohl auch ein Philosoph, aber sonst? Eine oberflächliche Ähnlichkeit! Womit habe er das verdient, Wittgenstein, der sei doch ein Guter. Das sei das Beunruhigende. „Das umgekehrte Dreieck, das nach unten zeigt! Wenn doch nur das nicht wäre. Es zeigt eben nicht nach oben, es zeigt in die Tiefe.“ Das habe doch ein Wittgenstein nicht verdient, Wittgenstein, der habe doch mit den Tiefen nichts zu schaffen. Ferdinand griff vor sich in die Luft, als sortierte er: „Nietzsche und Turin. Das umgekehrte Dreieck. Die Todestage, die sich zu Geburtstagen wandeln.“ Er sah mich flüchtig an. „Das Grabtuch, du verstehst: der Abdruck. Ein Negativ. Es ist alles umgedreht. Das ist eine Spur. Aber was hat sie zu bedeuten.“
Unter einer Straßenlaterne stand Doktor Berger mit seinem Hund. Wir grüßten im Vorbeigehen. Während Ferdinand noch schwieg, sagte ich nun doch einmal etwas. Das Dreieck zeige ja nur dann nach unten, so machte ich geltend, wenn man annehme, dass Norden auf der Karte oben sei. Das sei ja aber nicht die Wirklichkeit, das sei eine Festlegung, es sei willkürlich. Die Extreme, die Pole, die seien, wie jeder weiß, Gegebenheiten. Wo aber oben oder unten ist, dass sei doch in der Natur nicht festgelegt.
Ja, ha!, sagt Ferdinand: das habe er sich auch überlegt. Aber das Symbolische beruhe doch eben gerade auf Konvention. Es könne nur leben, das Symbolische, wenn es eine Konvention gebe, die allen bekannt sei. „Bedenke: Es ist eine Botschaft!“ Und so viel sei klar: Ein Zeichen muss man lesen können. Das Dreieck an sich, ein paar gedachte Linien, nun, davon gehe doch keine Gefahr aus, das habe so keine Wirkung, das sei harmlos. Es sei ja nicht so, dass sich mit diesem Dreieck in der Landschaft eine Mauer erhebe, gegen die man physisch anrannte, so das man sich an ihr den Kopf aufschlüge. Nur als Zeichen, als Zeichen sei es bedrohlich.
Harsch knackte der vereiste Boden unter unseren Füßen. Aufgeworfene Erde, die nun festgefroren war. Ihre Furchen und Täler waren von dünnen Eisdecken verschlossen, die nachgaben, wenn man auf sie trat. Sie zerbrachen unter den Winterstiefeln.
Es stimmte: Mein Einwand war banausisch.
Ferdinand grübelte weiter, ohne Antworten von mir zu erwarten: Ein ernster, düsterer Mann, dieser Wittgenstein. Wusste der etwas? Wusste er mehr als wir? Seine Geschwister! Selbstmörder und Beinahe-Selbstmörder. Was steckte dahinter?
Er rang um Klarheit, rang um die Seele des guten Menschen. Er stieß die Hände zu Fäusten geballt tief in die Seitentaschen, so dass der Mantel an seinen Schultern zog, hielt den Kopf jetzt wie zum Angriff gesenkt und stürmte in weit ausgreifenden Schritten vorwärts.
Hitler, ein Ausbund des Bösen. Heidegger, dem war es auch zu gönnen, was lag schon an dem. Aber Wittgenstein! Wie war überhaupt noch Rettung möglich, wenn das stimmte? Die Welt lag am Boden, wenn ausgerechnet dieser mit dem Bösen Gemeinschaft hatte. „Und leider, sieh her: Martin, Adolf, Ludwig: MAL, das Böse. Merke wohl! Es muss nichts bedeuten, muss ja nicht. Aber im Licht der anderen Zufälle? Kann man darüber hinweggehen? Zufälle!“ Ferdinand keuchte das Wort hoch in die Luft und intonierte Verachtung.
Es war bedeutsam und nicht ohne Gefahr für das Heil. Ferdinand blickte in den Rachen der Hölle. All das begeisterte ihn, aber manchmal, wenn er darüber nachdachte, sagte er, mache es ihm Angst. Aber er sei gewappnet. „Was wäre der Sinn solcher Zeichen, wenn wir nicht mit ihnen handeln könnten?“
Es konnte doch nicht alles in die Tiefe stürzen. Vielleicht war Wittgenstein der Retter? „Ludwig, Adolf, Martin: LAM. Das Lamm?“ Ferdinand schnaufte: „Diese verfluchte Dreiunddreißig!“
Ferdinand hob entrückt seinen Blick in der Winterluft, die ihn wie aus einer andern Zeit umhüllte. Kälte, Klarheit. Es trieb ihn voran. Ich folgte mit schiefen Schritten und stolperte über die Rillen im festgefrorenen Boden.
„Die Welt ist ihre Tafel“, sagt er. „Darauf schreiben sie ihre Botschaften.“
Von einer Anhöhe sahen wir hinüber auf die beschneiten Hügel. Sie standen hell im Mondlicht. Die Wolken hatten leuchtende Ränder. Ferdinand kam zu Atem.
„Meine Mutter freut sich, dass du hier bist“, sagte er. „Sie hofft noch immer auf dich als ihren Schwiegersohn.“
Ich sog die Nachtluft ein und nickte.
„Ich müsste wissen“, sagte er, „ob sie noch eine Jungfrau ist.“
Im ersten Schrecken glaubte ich, seinen Verstand ganz verloren geben zu müssen, dann begriff ich, dass er von Magdalena sprach.
„Ich muss es wissen. Das könnte eine Rolle spielen.“
Ich dachte an Luisa.
„Das Dreieck“, sagte er, „das zur Hölle zeigt, das tragen die Frauen zwischen den Beinen.“
Ich beteuere, dass ich all das zu keinem Zeitpunkt für wahr gehalten habe. Es war mir fremd, wovon Ferdinand besessen war. Allerdings war es kein Grund, ihn für krank zu halten. Es war ja vieles möglich. Man musste keine Schlüsse ziehen, durfte aber doch Auffälliges beobachten, durfte Merkwürdigkeiten nennen, wenn man sie sah. Das war ganz in Ordnung, was sollte ich denn dagegen haben. Ferdinand zeigte mir, was er sah. Und ich kannte ihn ja.
Ich beteuere: Seine Schrullen verfingen bei mir nicht. Dennoch klopfte auch ich jetzt meine Jacke auf darin verborgene Abhörgeräte ab, bevor ich mit Ferdinand nach draußen ging, und auch mir war es lieber, wenn die Vorhänge oben im Zimmer geschlossen waren, während er das Netzwerk auf seiner Landkarte verdichtete. Die Feierlichkeit, mit der er sich umgab, hatte keine Wahrheit, aber sie wirkte. Und es könnte doch! Was gibt es nicht alles.
„Magdalena“, sagte er eines Tages. „Magdalena ist in Altötting geboren.“
Altötting. Er habe noch nichts Auffälliges in der geographischen Konstellation entdecken können. Altötting passte bisher nirgends in das Netz.
„Aber der Papst war dort, 2006“, erklärte Ferdinand. „Er war dort. Und wann war er dort, zu welchem Datum?“
Nun, das wusste ich nicht. Vielleicht in der Adventszeit, schlug ich vor.
Nein: „Am 11. September. Ausgerechnet!“ Da war der Papst in Altötting. Ferdinand hatte die Hände in den Hosentaschen und kaute auf der Unterlippe. Was hatte der Papst mit der Sache zu tun? Was wusste er? Christ oder Antichrist?
Altötting. Die Schwarze Madonna, der Papstbesuch. Magdalena. „Wer ist sie?“ Mächtiges dämmerte ihm.
(5)
Dann war Ferdinand verschwunden.
„Seit gestern ist er nicht mehr da“, erzählte mir Berenice am Telefon. Sie haben ihn nicht mehr zu Magdalena gelassen, ihre Eltern, angeblich ganz ausdrücklich im Sinn des Mädchens. Nur so viel wusste Berenice. Mehr war von Ferdinand nicht zu hören gewesen, bevor er schon wieder aus der Tür ging und seither nicht mehr zurückgekommen war. „Wo ist er nur? Er hat ja nichts mitgenommen.“
Gerhard sei vorhin losgefahren nach Bamberg um Ferdinand dort hoffentlich zu finden. Vielleicht sei er in seinem Zimmer und gehe nur nicht ans Telefon. Das würde doch gut zu seiner trotzigen Abreise passen, nicht wahr? Ob er sich vielleicht bei mir gemeldet habe? Ach, nicht. Sie mache sich Sorgen, natürlich.
Ich ging gleich zu ihr.
Es war noch von Gerhards letztem Kuchen da. Berenice schenkte mir Kaffee ein und setzte sich mir gegenüber. Sie sah an mir vorbei: „Da, die Annunciata“, sagte sie. „Da schaut sie uns an.“ Berenice lächelte schwach.
Gerhard hatte angerufen, sagte sie: Ferdinand sei nicht anzutreffen. Gerhard wolle eine Runde durch die Stadt gehen, dann noch einmal bei Ferdinand klingeln. Vielleicht begegne er ihm ja sogar irgendwo auf der Straße.
„Er hat gar nichts mitgenommen“, sagte Berenice und stand auf. Ich folgte ihr nach oben.
Unverändert lehnte Ferdinands Rucksack in Luisas früherem Zimmer an der Wand, auf dem Tisch lag sein Handy.
„Im Schrank ist alles noch drin.“
Wir öffneten keine Schubladen, verlegten nichts. Wir standen da, nebeneinander, und taten so, als sei es möglich, dass wir vielleicht doch irgendwo zufällig einen Hinweis entdecken konnten, eine Notiz, die er hinterlassen hatte. Wir standen im Zimmer, wie man dasteht, wenn man weiß, dass irgendwo zwar der Gegenstand sein muss, den man sucht, aber gewiss nicht hier. Berenice tastete nach der Bettkante und ließ sich ohne Kraft sinken.
„Hoffentlich geht es ihm gut.“
Ich setzte mich an ihre Seite, legte den Arm um sie und wünschte, dass sie jetzt nicht weinte. Sie strich mir durchs Haar. Ich legte meine Hand auf ihr Knie.
Es fühlte sich zwingend an, richtig. Es war, als wüsste ich erst jetzt, warum ich heute gekommen war.
Das Bett stand genau wie früher, ich kannte den Blick von hier aus dem Fenster. Da war der Dachfirst des Nachbarhauses. Man sah von außen nicht hinein, nur wenn die Schreibtischlampe leuchtete, achtete man besser auf die Schatten, die an die Zimmerdecke geworfen werden konnten.
„Nicht kucken“, flüsterte Berenice, hielt meinen Kopf fest und führte meine Lenden mit den Schenkeln.
Jetzt war kein Licht an, denn es war heller Tag.
„Ach ja,“ sagte sie. Es klang warm und traurig, als stiege eine Erinnerung in ihr auf. Sie hielt die Augen geschlossen.
Danach beeilte ich mich, zu duschen. Berenice wechselte die Bettwäsche. Sie war unerklärlich fröhlich. „Was wollen wir zum Abendessen haben, wenn Gerhard zurückkommt? Heute etwas ganz besonderes!“ Wie man doch immer so ängstlich sein müsse, lachte sie. „Ferdinand würde bestimmt grinsen, wenn er wüsste, wie er uns in Atem hält. Komm“, sagte sie, „unten ist alles da. Wir suchen uns was für ein Feiertagsessen aus.“
Sie hatte ja recht. Es wäre verkehrt gewesen, Gerhard aus dem Weg zu gehen.
„Ohoho!“, sagte er, stand in Strümpfen mitten im Esszimmer, den Mantel hatte er noch an. Auf den Schultern lagen Schneeflocken. Er schnupperte kräftig den Duft und atmete aus. „Was feiern wir denn?“ Berenice lächelte ihm zu. Ich zündete eine Kerze an.
„Nein,“ sagte er, als er am Tisch saß, „von Ferdinand keine Spur.“ Er zuckte die Achseln. Es sei merkwürdig. Aber so sei er manchmal, Ferdinand. „Sicher, er braucht Abstand, man kann es verstehen.“
(6)
Als ich Ferdinand zwei Tage später wieder im Haus seiner Eltern traf, hatte er bereits versucht, bei Magdalena vorzusprechen. Der Abstand einer knappen Woche hätte bei den Verbohrten dort droben doch eine Umstimmung bringen können. Vergebens, sie blieben hart.
Wo er gewesen sei? Meßkirch. Er habe sich da umgesehen, vielleicht konnte man vor Ort etwas herausfinden. Letztlich blieb es sinnlos. Es gab keinen sichtbaren Ertrag. Ein verschlafener Ort. Zwei Straßen, eine Kirche, das sei es gewesen. Womöglich könnte das noch eine Rolle spielen, womöglich war gerade das ein später noch wertvolles Ergebnis, wie verschlafen es dort war. Im Augenblick erschiene es ihm aber nicht so, er habe aus Meßkirch, aus dem Ort selbst, nichts lernen können.
Dennoch wisse er jetzt weiter. Eine Eingebung habe ihn verreisen lassen, ungestört konnte er nachdenken, jetzt habe er die Lösung. Er beugte sich hinunter zum Papierkorb und zog ein zerknittertes Blatt heraus, warf einen Blick auf die bedruckte Seite, wendete es und zeichnete flüchtig zwei liegende Dreiecke, die sich in der Spitze berührten, sich kreuzten, so dass sie dalagen wie eine Acht. Mit dem Finger deutend erklärt er: „Gottvater, der Heilige Geist, das sind hier die zwei linken äußeren Winkel. Das ist die Seite der Guten. Hitler, Heidegger, das sind die üblen Gegenstücke auf der rechten Seite. Jesus, Wittgenstein: Die Mitte, der Brennpunkt. Beide fallen in eins.“ So musste es sein. Die Rettung. Das zeige, dass Rettung möglich sei. Aber es stehe auf der Kippe, auf Messers Schneide. Ob diese oder ob jene den Sieg haben werden.
Er erklärte sachlich, zügig, ohne Aufregung. Es hatte sich bereits gesetzt. Der erste Sturm war vorüber.
„Jesus, Wittgenstein, das ist dasselbe. Das ist das Heil der Welt. Aber es droht zum Bösen umzukippen.“ Warum, das habe er noch nicht herausfinden können. Allerdings sei das ja häufig so, dass es an den Extremen umzuschlagen drohe, das sei doch nun einmal häufig so. Der Brennpunkt des Guten sozusagen, der sei hier, wo die Spitzen der Dreiecke zusammenliefen, und jenseits werde es böse, und das könne doch auch nicht anders sein, wenn es schließlich eine Welt sein soll. „Hier“, er tippte auf den Kreuzungspunkt in der Mitte, „hier entscheidet es sich. Jesus und Wittgenstein, ein und dasselbe. Aber“ - er knüllte das Blatt zusammen und warf es zurück in den Papierkorb - „Gottes Sohn, das ist streng genommen natürlich Humbug.“ Das erweise sich eben daran, dass Wittgenstein und Jesus eins sei, denn niemand könne doch ernsthaft glauben, dass Wittgenstein Gottes Sohn sei, dass der Mensch Gott sei, und so sei es eben auch Jesus nicht, denn beide seien nun einmal eins. Andrerseits gelte es doch eben so: Gottes Sohn, das sei auch nicht falsch. Aber es gelte nicht wirklich, nicht so, dass Wittgenstein wirklich der Erschaffer der Welt, der Allwissende, Allumfassende sei. Symbolisch, symbolisch sei er es. Ein Gipfel sei er, ein Höhe- und Extrempunkt, ein Umschlagpunkt. Wie der Mensch sich mit seinem Verstand die Welt bilde, das habe Wittgenstein doch erklärt, nicht wahr? Symbolisch sei er aus solchen Gründen Gottes Sohn und sei er Jesus, und das aber sei ja gerade die eigentliche Wirklichkeit, das Symbolische. So sei es zu lösen.
Ich war erleichtert. Symbolisch, das leuchtete mir dunkel ein. Das wäre natürlich möglich. Symbolisch war es doch alles zumutbar. Und das sagte ich ihm genau so: Ja, das leuchte ein, symbolisch, so könne ich das annehmen. Eine Last fiel von mir ab. Ich hatte geglaubt, dabei zusehen zu müssen, wie mein alter Schulfreund verrückt wurde. Aber nun: Symbolisch. Das konnte man sich sagen lassen. Das Symbolische, die Klammer, das Uneigentliche, das war die Rettung, in der Tat, das war sie. Darüber konnte man reden.
Auf einmal traute ich mir sogar zu, Ferdinand auf den Boden zurückzuholen. Ich wollte ihm durchaus ein Stück entgegenkommen, tatsächlich fiel mir dazu einiges ein. Ich nahm mir vor, ihn morgen zum ersten Mal behutsam mit der Vernunft unter Druck zu setzen.
(7)
Ich fand ihn bereits oben. Er lag abgewendet auf dem Bett, kauernd lag er da, zur Wand hingedreht hielt er sich die Ohren zu. Nichts hören und niemanden sehen wollte er. Dann bemerkte er, dass ich es war, der ihn ansprach. Er wendete sich um, freudig, warf die Decke zurück, stand auf. „Wie schön, dass du da bist. Los, an die Luft. Spazieren!“
Er hatte nichts dagegen, dass Gerhard und Berenice sich uns anschließen wollten. Alle vier gingen wir durch den Nebel, Gerhard und Berenice einige Schritte hinter uns. Aufgedunsen sah er heute aus, Ferdinand, als hätte er die Feuchtigkeit, die mit dem Tauwetter aufgestiegen war, in sich aufgesogen.
„Ich war bei Magdalena“, sagte er. Man habe ihm ausgerichtet, sie lasse ihn abweisen.
-Warum sie das nicht selber sage?
-Aber bitte, bei ihrer Schwäche!
-Nein, sie solle es selbst sagen. Er glaube kein Wort.
-Bitte, er solle sich doch beruhigen, das sei hier keine Tobsuchtsanstalt.
Verbrecher seien das.
Grüßend gingen wir an Doktor Berger vorbei, der gerade seinen Hund ausführte. Wir hörten, wie sich hinter uns Gerhard und Berenice offenbar mit ihm in ein Gespräch verwickelten. „Schau, jetzt beraten sie schon, wann sie mich abholen“, scherzte Ferdinand. Es war ihm willkommen, dass der Abstand zu den Eltern wuchs.
Er brauche sie nämlich, Magdalena, das Mädchen. Sie sei ihm unverzichtbar. „Wittgenstein und Jesus, du weißt.“ Er habe keinen Zweifel mehr, dass sie Maria sei. Man müsse sie befragen, man müsse sie gewinnen, dass sie sich selbst befrage, so dass man es beweisen könne.
„Sie wollen etwas verbergen, diese Leute, sie wollen mich nicht zu ihr lassen, weil sie Bescheid wissen, sie halten sie gefangen.“ Er sah vor sich auf den Weg und drückte die Fäuste in die Manteltaschen. „Sie wissen Bescheid.“ Dann erklärte er: Er wisse jetzt, wozu er hier sei. Jetzt sei die Zeit des Handelns. Es sei ihm alles klar. Dieses Europaposter, an dem er da gezeichnet hatte, habe er übrigens bereits gestern im Kachelofen verbrannt. Jetzt gehe es nicht mehr um die Theorie. Jetzt müsse man anpacken. Er sagte das ganz selbstverständlich: „Ich muss sie ficken.“
Dabei habe er gar kein Verlagen nach ihr. Aber er dürfe sich nicht entziehen. Alles hänge davon ab, dass er es tue.
Sie jedenfalls wolle das, da könne er ganz sicher sein. Sie habe ihn immerhin einige Male ganz vielsagend angelächelt, wenn er bei ihr saß. Jetzt, im Nachhinein, sei es ihm klar, dass er das als eine Aufforderung verstehen müsse. „Du hättest dabei sein sollen. Wenn du es gesehen hättest, wie sie manchmal gelächelt hat.“
Das sei die Vollendung. Gott habe gelebt und sei gestorben, als Gottesmutter habe er sogar geboren. Aber den Beischlaf kenne er nicht. Daher rühre das Übel, da sei eine Wunde offen.
Natürlich, der Gedanke, dass es so weit sei, der gefalle ihm, dass er nun endlich doch bald mit einem Mädchen schlafen werde. Es mache ihn glücklich, dass die Zeit gekommen, dass sie reif sei. Ganz kribbelig mache ihn das. „Aber Magdalena?“ Er schüttelte den Kopf. Wenn es nicht seine Aufgabe wäre, würde er es nicht tun.
Später im Wohnzimmer deutete Ferdinand auf Antonello da Messinas Annunciata. Das Buch lag noch immer aufgeschlagen dort. „Das hat mich erst auf die Lösung gestoßen, du hast mich darauf gebracht.“ Er lobte mich dafür, wie ich ihn immer wieder auf solche Dinge stieße, scheinbar zufällig. Und auch wenn ich sagte, das sei nicht beabsichtigt, so sei es, meinte Ferdinand, auf einer anderen Ebene wahrscheinlich eben doch beabsichtigt. „Ja, streite es nur ab!“ Er legte die Hand auf meine Schulter.
Als ich im Windfang die Jacke anzog, blieb Ferdinand vor dem Spiegel stehen. Magdalena, die schwarze Madonna, der Papst. Es ließ ihn nicht los. Aber wer in Gottes Namen war er selbst?
(8)
Auch am Tag vor meiner Abreise besuchte ich Ferdinand. Ich war es unserer Freundschaft schuldig. Mit schleppender Stimme sagte er mir seine hoffnungsvollen Entdeckungen auf. Er saß im Bett an die Wand gelehnt und hatte die Beine unter die Decke geschoben.
Er faselte davon, wie er sich ganz nah dran wisse, ganz nah am Geheimnis, wie er, als ihm in Meßkirch ein Licht aufging, plötzlich gar nicht mehr er selbst war, sondern er das Städtchen in seiner ganzen Verschlafenheit in ihm aufgesogen wiederfand, er war zugleich er selbst und das Städtchen, samt Kirche, Passanten, liegengebliebenem Dreck, ja gerade am Verworfenen, am Weggeworfenem, ganz speziell und im besonderen an einem wahrscheinlich schon vor Wochen nass gewordenen und jetzt trocken zusammengebackenen Zeitungspapier, das vor seinen Füßen lag und das er mit der Schuhspitze wegstoßen wollte, habe er es gemerkt, dass das alles gar nicht von ihm geschieden und getrennt sei, dass es zugleich außerhalb seiner und in ihm war, mehr noch war es unter ihm, ja wirklich: unter ihm. Er blickte auf die Welt von oben, während er mitten darin war. Zugleich die Zeit. Ob ich etwas Ähnliches nicht etwa womöglich auch schon erlebt habe. „Samuel?“, fragte er mit milder Stimme, forschend. Ich verneinte.
Er sprach heute monoton und ohne Schwung. Sichtbare Kraft fand er erst, als er gegen die Familie der Gottesmutter lästerte.
Ich blieb nicht lang. Ferdinand stand in der Tür und winkte mir nach.
Ich musste nicht vor Ort miterleben, wie Ferdinand abgeholt wurde.
Als ihm dort die Türen wieder geöffnet wurden, hatte ein Besuch bei Magdalena kein gutes Ende genommen. Man warf ihm vor, er habe sich ihr nähern wollen. Das stimmte nicht, gleichwohl hatte er sich mit ihr in ihrem Zimmer eingeschlossen. Mehr war nicht geschehen, und dass man dann von außen an der Tür rüttelte, ihn aufforderte, herauszukommen, schließlich ihn beschuldigte, zudringlich geworden zu sein, machte ihn verständlicherweise rasend. Mühevoll gelang es, ihn vor die Tür zu setzen. Zu Hause konnte er sich nicht beruhigen. Gerhard und Berenice riefen Doktor Berger, und als Ferdinand auf ihn losging, einen Teller und ein Buttermesser in seine Richtung warf, holten sie die Polizei dazu. Es war nötig, ihn mitzunehmen.
Hielt er sich für Gott? Während der Untersuchung bewies er seine Verachtung, indem er auch noch innerhalb der Mauern der Anstalt die Frage kaltblütig bejahte. Sollten sie es doch glauben, diese Nullen, sollten sie diesen Witz doch für möglich halten. Und gerade weil sie ihm glaubten, beschimpfte er sie, verfluchte er sie als Nichtskönner, als Nieten, als Quacksalber, die ihr Diplom in der Lotterie gewonnen hätten. Die Wut gegen ihre Willkür erfasste ihn am ganzen Leib, es blieb ihnen nichts übrig, als ihn zu binden. Er sollte sich bereit erklären, Medizin zu nehmen, damit sie ihn nicht zwingen mussten.
Berenice berichtete mir am Telefon alles, was sie wusste. Ob es richtig war, den Arzt zu holen, ob man Ferdinand nicht dadurch erst in Schwierigkeiten gebracht habe? „Er hätte doch sonst niemals mit Geschirr geworfen.“
Es wird schon richtig gewesen sein, urteilte ich, nur so konnte man ihm helfen. Ich sah Berenice vor mir, wie sie den Hörer hielt, mit dem Finger Kreise auf dem Telefonschränkchen zog, und um sie herum das Haus, das ich so gut kannte, und das ihr jetzt keinen Halt gab.
Noch bevor sie auflegte, schämte ich mich für die Erleichterung, die mich erfasste. Aber so war es, ich freute mich. Alle diese Beziehungen, das Geflecht, das Netz, das war nun weggeblasen. Es brauchte mich nicht mehr zu kümmern. Es stimmte alles nicht. Man konnte sich ganz sicher sein, es war verbrieft: alles falsch. Ferdinand war krank. Jetzt wurde das Richtige getan.
Mit Magdalena, hatte Berenice gesagt, gehe es im Übrigen wieder aufwärts.