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Verkörperungen
Im Esszimmer hielten sich achtzehn Menschen auf. Sie verharrten nach vorne gebeugt oder mitten im Schritt. Gesprochene Worte blieben stecken, ebenso die Schallwellen in der Luft und sogar die Photonen des Lichts. Wie konnte das sein? Eine halbe Stunde vorher hatte ein Gespräch begonnen, eine Wendung zu nehmen, die der Szene eine Richtung gab, die sie an ihrem Ziel vorüber laufen ließ – woraufhin eine übergeordnete Instanz auf STOP gedrückt hatte.
Karl, den sie alle Charlie nannten, fasste Hannes an der Schulter, um sich abzustützen. Er hatte mindestens drei Bier intus. Auch betrunken konnte er jeden in Grund und Boden reden: „Ich bin Empiriker! Ich glaube, was ich sehe.“
Wie zu Demonstrationszwecken wedelte er mit der Hand.
„Das andere ist alles Blödsinn. Da heißt es heute Ideal und Metaphysik und morgen kommt die Polizei, wenn du etwas Anderes auch nur zu denken wagst. Wir wissen ja, wo es hinführt! Unbefleckte Empfängnis und Wiederauferstehung des Fleisches: Sag etwas dagegen und du landest auf der Streckbank! Oder die Diktatur des Proletariats als dialektisch unabwendbarer Prozess: Ein Wort dagegen und viel Spaß in Sibirien! Hahaha!“
Charlie hatte eine feuchte Aussprache. Hannes wischte sich mit dem Handrücken die Spucke vom Gesicht. Auf dem Tisch waren alle Teller leer. Überall lagen zerknüllte Servietten. Joe, der Gastgeber, mit seiner roten Schürze, die bis zum Boden reichte. Er fragte alle einzeln, ob es ihnen geschmeckt hatte. Schräg gegenüber saß Bettina. Oh, Hannes wusste tief drinnen, dass er nicht gut genug war für diese Frau. Assistent an der geisteswissenschaftlichen Fakultät mit befristetem Vertrag, keine dreißig Jahre alt und schon schütteres Haar und gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Trotzdem...
Er dachte auch an den Anfang des Johannesevangeliums:
Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott. Und das Wort war Gott.
Dasselbige war im Anfang bei Gott. Alles ward durch dasselbe, und ohne dasselbe ward nichts, was geworden ist.
Professor Bachler zitierte in der Vorlesung immer diese Stelle, wenn er wie das Rumpelstilzchen auf und ab lief und komische Grimassen machte: „Was halte ich da hin der Hand? Richtig, einen Kieselstein! Denken Sie etwa, auch nur ein Kieselstein könnte sich manifestieren, wenn es nicht die Idee gäbe, was ein Stein ist?“
Wie konnte man das verwenden, um diesem Typen das Maul zu stopfen? Das war doch geistreich, oder nicht?
Charlie setzte das Bierglas ab, stieß einmal kurz auf. Hannes dachte „Schwein“. Er sagte: Es geht ja nicht nur um die Fehler, die passieren. Es geht um die Wahrheit!“
„Die Wahrheit, klar! Ich sage ja: Was ich nicht hören oder sehen oder riechen oder sonstwie wahrnehmen kann, wie soll ich wissen, ob das wahr ist? Also geht es mich nichts an. Wenn ich mir ein System zurechtlege, muss ich es an der Realität überprüfen können. Sonst ist es nur ein Hirngespinst. Spiritismus und Esoterik und der ganze Quatsch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da nichts ist.“
„Nicht so aggressiv, mein Junge!“, sagte Inge.
Joes Frau. Früher war sie Joes Freundin gewesen. Dann hatten sie geheiratet und jetzt wohnten sie in diesem Reihenhaus, zusammen mit den Kindern und dem Golden Retriever Bellman, der nicht ins Esszimmer durfte, weil er immer die Gäste anbettelte, auch wenn sie gerade Obstsalat aßen. Inge, die Steuerberaterin mit der tadellosen äußeren Erscheinung. Schwer zu sagen, ob sie Charlies philosophische Anwandlungen belächelte. Charlie grinste, weil er insgeheim eine erotische Phantasie hatte, in der sie eine Rolle spielte.
Hannes machte den Fehler, ihn aus seinen Tagträumen zu reißen und seine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu ziehen. Er wollte den Glauben an das Übernatürliche verteidigen. In dieser Runde rief es dieselbe Reaktion hervor, als hätte man ein Alkoholproblem gestanden, wenn man das Wort „Gott“ aussprach. Buddha und Wiedergeburt waren hingegen okay. Seine Zunge stolperte. Seine Arme ruderten sich frei. Auch er hatte zuviel getrunken. Mit groben Worten redete er von den Tugenden der Idealisten. Opferbereitschaft und Heldentum! Und Kunst! Überhaupt alles, was den Menschen die Beschränkungen seiner prosaischen Existenz (mit Zahnarztbesuchen und Überstunden im Büro und dem Warten auf die Straßenbahn und dem ganzen Scheiß) abschütteln ließ.
„Da haben wir es, du bist ein Faschist!“
Schnell fuhr Charlie fort (weil der Mensch nicht gleichzeitig nachdenken und genau zuhören kann) und beschwor das Bild von Hannes herauf, der mit Begeisterung eine Nazi-Uniform anzog und lachend Zivilisten abknallte. Oder, wie er mit allen Anzeichen des Amüsements die Guillotine betätigte, als wäre es der Gurkenschneider aus dem Teleshopping-Programm. Angeekelt verzogen alle in Hörweite die Gesichter, als in ihrer Vorstellung Hannes mit Begeisterung einer netten alten Dame die Daumenschrauben anlegte. Ein Mönch in dreckiger Kutte hielt ihr das Kruzifix hin und schrie: Gestehe, Hexe! Du hast mit dem Teufel verkehrt!
Etwas unwohl fühlte sich Hannes natürlich, als er in der Vorstellung der Anwesenden (mit denen er schließlich quasi befreundet war) all diese Dinge tat. Aber in seinem Eigensinn beharrte er trotzdem darauf, dass der Mensch mehr sein musste als die Käserinden auf seinem Teller. Sonst hatte ja das Leben keinen Sinn.
Nicht übermäßig laut, aber deutlich artikuliert, sagte Bettina: „Wo bleibt da die Logik? Wieso klammerst du dich an etwas, das so schlimme Auswirkungen hat? Also wirklich... Ich versteh dich nicht.“
Ihre runden Augen, irisierend blau, deren Pupillen sich verengten. Ihr leicht geöffneter Mund. Die erstarrten Wangen, bedeckt mit einem Hauch von Make Up. Was Hannes eigentlich wünschte, war, den Kopf zwischen ihre Brüste zu legen, während sie ihm das Haar streichelte. Er wollte ihren Duft einatmen, sie umarmen, die köstliche Wärme ihres Körpers spüren. War das zuviel verlangt?
So wie die Dinge jetzt standen, tendierte die Eintrittswahrscheinlchkeit dieser Ereignisse allerdings gegen null.
Deshalb also drückte Panta'a auf STOP.
Jetzt war er nicht mehr Hannes, sondern wieder er selbst und wanderte in der erstarrten Szenerie umher, um alles zu verstehen. Die folgenden 45 Jahre hätte er sich einerseits sparen können. Andererseits war diese Welt doch voller Schönheit. Die leuchtenden Farben aller Dinge und die vielen Schattierungen menschlicher Gesichter: Sie waren mehr als Avatare. Um noch einmal die Gerüche der Speisen und der Schnittblumen würdigen zu können, hätte er sich wieder als Mensch verkörpern müssen. In der wahren Gestalt fehlte ihm nämlich nicht nur der Geruchssinn, sondern auch die Nase. Stattdessen wollte er jetzt wissen, wo sich andere Spieler verbargen. Er freute sich natürlich, als das Programm Bettinas Gestalt farblich unterlegte und es verblüffte ihn, dass Charlie in dieser Realität nicht existierte, wohl aber ein anderes Subjekt: der Hund!
Farben spielten in der Wirklichkeit keine Rolle. Wie eine Katze sah Panta'a weitgehend in Schwarzweiß mit Andeutungen von Rot, Grün und Blau. Aus seinem kuppelförmigen Kopf ragten Hasenohren in die Luft. Sein Gehör war gut. Wenn er wollte, konnte er es deaktivieren. Darunter die leuchtenden Öffnungen seiner Augen und ein Schlitz, der als Mund fungierte. Fertig war das Gesicht! Der Körper, ein Zylinder, der nahtlos in diesen dürftigen Kopf überging, mit zarten Ärmchen und kurzen Beinen. Aber robust und langlebig. Wie alles hier.
Der Befehl in seiner Software, der während des ganzen Spiels die Erinnerung unterdrückt hatte, wirkte nun nicht mehr. Das erste was sein Gedächtnis ihm lieferte, war die plastische Vision seines Terminkalenders. Er glich ihn mit seinem sozialen Umfeld ab (ein paar Handgriffe an der Konsole des Kommunikators genügten) und bat um ein spontanes Treffen mit folgenden Zwecken: Gespräche, Nahrungsaufnahme, Sexualität. Drei Antworten waren positiv und mit Ortsangaben versehen.
Die Stadt draußen war wie ein stiller Wald. Vor allem groß, konzentrisch angelegt, mit Längs- und Querstraßen. Die Gebäude reichten bis zu fünfzig Ebenen in die Vertikale. Durch diese Gebäude schlängelten sich Laufbänder wie Lianen, auf denen die Bewohner manierlich aufgereiht stehen blieben, um ans Ziel zu kommen. Wenn der Wind über die Laufbänder pfiff, schaukelten sie sachte. Mit ihren Augenöffnungen blickten die Passanten um sich und bewegten die Ohren, wenn etwas ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie waren... niedlich.
Sex interessierte sie eigentlich nicht. Das Geschrei einer nackten Frau, die in der Spielwelt auf einem nackten Mann herumhüpfte und der Enthusiasmus, mit dem sich viele das anschauen konnten, erschien ihnen unpassend. Für sie handelte es sich mehr um eine in regelmäßigen Abständen notwendige Verrichtung, um der biologischen Notwendigkeit Genüge zu tun (wie das Rasenmähen). Wie die Menschen in der Spielwelt sich zum gemeinsamen Kochen trafen, bemühten sie sich, der Sache Raffinesse zu geben. Hauptsächlich ging es ihnen aber um gute Gespräche. Panta'a war natürlich nicht männlich in diesem Sinne. Er konnte je nach Bedarf den Nachwuchs austragen oder nur befruchten, ganz wie es in seinen Terminkalender passte. Ein paar Monate später brachte er dann die Kinder zur Annahmestelle.
Ihm (oder ihr) hingen die Gefühle aus dem Spiel noch nach. Der Wunsch, Charlie in dieser Realität zu finden und ihn zu ermorden, war nur erloschen, weil es einen Charlie in Wirklichkeit nicht gab. Aber das Leid und den süßen Schmerz und die Sehnsucht, die er empfunden hatte, die waren doch noch da, oder?
Er erinnerte sich an die formalen Gesetze der Einbettung von Fiktion und Spielwelten in die Realität. Sie lauteten:
Erstens: Das Gesetz der abnehmenden Komplexität.
Die Spielwelt und die fiktionale Welt können nicht die Komplexität der Realität erreichen, da eine übergeordnete Menge nicht vollständig in einer Teilmenge enthalten sein kann (außer sie ist mit ihr identisch).
Zweitens: Das Gesetz der gerichteten Wahrscheinlichkeit.
Von allen möglichen Ereignissen können nur jene eintreten, die den Verlauf der Handlung vorantreiben und zu einem von der Spielwelt darstellbaren Zustand führen.
„Dann hätte ja nichts dagegen gesprochen, mit Bettina ein paar schöne Stunden in einem Doppelbett zu verbringen oder einmal nach Hause zu kommen und sie fragen zu hören, wie mein Tag war“, murmelte Panta'a mit dem Schlitz in seinem blechdosenartigen Gesicht. Jedenfalls hätte man dafür nicht eigens bei der Zentrale die Änderung der Parameter der Spielwelt beantragen müssen. Noch immer kreisten seine Gedanken um das Leben dort. Er hüpfte vom Laufband auf eine Plattform, um für eine Weile auszuruhen. Schon taten ihm die Füße weh. Dieser Körper, der nur mit Trippelschritten vorankam, ermüdete zu rasch. Die Spielwelt war natürlich nicht nur schön gewesen. Er dachte an das Wort „Hölle“, das er dort gelernt hatte: Ein Ort des Leides, an dem du verurteilt wirst. Genau so war es dort gewesen!
Die Erkenntnis kündigte sich an wie Donnergrollen. Er dachte zuerst an die drei anderen, die wohl in diesem Augenblick versuchten, ihre zylindrischen Körper aufreizend zu kleiden und dann in den Gesprächen bei dem Treffen klug zu wirken. Am Horizont zogen Wolken auf. Da landete ein interstellarer Transporter aus einem anderen Teil ihres Imperiums. In all den Häusern seiner Stadt hingen die Bewohner an Konsolen, die ihnen die Realität ausblendeten. Ein gigantisches Netzwerk aus Computern erzeugte die andere Welt, die sogenannte Erde. Dort konnten sie morden und betrügen und fast jeden Blödsinn machen, ohne großen Schaden anzurichten. Dort machte das Leben Spaß! Hier hingegen hätte es dafür keine Ressourcen gegeben. Nur das Nötige durfte getan werden, nicht mehr! Trotzdem durfte ihnen die Fähigkeit zu handeln nicht abhanden kommen.
Weit unter Panta'as Füßchen wuchsen Bäume mit dem Aussehen von Schierlingen. Ihre grafische Qualität ließ selbst aus dieser Entfernung zu wünschen übrig. Konnte es denn sein? Lange schaute er seine eigene linke Hand an. Sie war eigentümlich rund und weich und hatte nur vier Finger. Er bewegte sie vor seinen Augen. Er begriff!