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Veritas Peccati - Die Wahrheit der Sünden
Ein grauer Raum. Fast vollständig im Schatten, nur ein kleines Fenster verhinderte, dass die Dunkelheit ihn ganz erfüllte. An der Tür, mechanisch und schwer, klopfte es. Zwei breitschultrige Männer öffneten sie mit geringer Anstrengung und ließen einen Mann mit weißem Kittel herein. Der Patient, stumm und mit leerem Blick, schaute kaum auf. Er saß auf einem Plastikstuhl, seine Hände gefesselt durch eine Zwangsjacke. Ebenso wie der Kittel war sie scheinend weiß. Der Laborkittel vergewisserte sich mit einem kurzen Blick auf seine Notizen, mit was er es zu tun hatte. Die Symptome waren ihm altbekannt, aber erst, als seine grauen, intelligenten Augen den Namen erfassten, erinnerte er sich wieder, warum er diesen Mann so brennend hatte behandeln wollen. „Gehe ich Recht in der Annahme, dass Ihr angegebener Name, Veritas Peccati, Ihr richtiger ist?“
Stille erfüllte den Raum. Der Patient, zerzaustes, filziges Haar, das ihm in das ungewaschene Gesicht fiel, blickte lediglich verwirrt umher. Seine gerunzelte Stirn war für den Doktor das erste Anzeichen einer Störung seinerseits in der Wahnwelt des Patienten. Ihn zu erreichen war doch nicht die Mammutaufgabe, die er sich vorgestellt hatte. Er hatte also nicht vor, sich dem Doktor zu verschließen, war bereit zum Reden.
„Wer wagt es mich, den König des großen Reiches zu stören? Sprich, Insekt!“
Die Stimme des Patienten war krächzend und unbeholfen, da er sie zu keiner Gelegenheit nutzte. Schnell hakte der Doktor ein Symptom auf seiner Liste ab. „Wo befinden Sie sich im Moment, Veritas?“
„Wo? Wie kannst du, eine Made, mich so direkt fragen, obwohl du in der Herrlichkeit meines Reiches stehst. Es ist ein Palast, solltest du an Blindheit erkrankt sein, die Wände sind verkleidet mit Gold, dessen Nachschub niemals enden wird, den Boden schmücken Berge von Juwelen und seltene Münzen. Sklavinnen unterschiedlichster Herkunft liegen mir willig und in freizügigen, dennoch mit teurem Stoff geschaffenen Gewändern zu Füßen und würden auf einen Befehl des Königs alles tun. Der Eingang ist bestückt mit Wachen meines Vertrauens, deren Brutalität unangefochten bleibt. Diener warten vor den Türen, um mir jeden Wunsch zu erfüllen, denn wenn es die Majestät befiehlt, wenn Veritas ruft, dann wird gehorcht. Mein Wort gilt, nur ein Satz kann über das Schicksal einer gesamten Stadt entscheiden. Ich kontrolliere.“
„Warum?“
Eine simple Frage, doch der Doktor sah mit Genugtuung, dass er seinen Patienten aus der Fassung gebracht hatte. Für einen kurzen Moment suchten seine Augen ohne Ziel im Raum, dann jedoch richtete er sie wieder fest auf den Laborkittel.
„Das sollte dir klar sein, aber die Majestät lässt sich zu dir herab. Jeder soll begreifen. Nur mit absoluter, das heißt militärisch gewährleisteter und unantastbarer Kontrolle ist es möglich, mein Königreich sicher zu halten. Ich handle schnell und effektiv, ich weiß, was ich tun muss, um meine Stellung zu gewährleisten. Kontrolle bedeutet ebenso die Kontrolle über das Volk. Niemand kann tun, was er will, denn dann würde ich, der Erlauchteste, nicht mehr gelten als ein einfacher Bauer. Aber ich bin mehr und meine Armeen sorgen dafür, dass alles andere im Keim erstickt wird.“
„Resultierend aus Gier oder Angst, die Macht zu verlieren, die Sie haben?“ Die Frage blieb für eine kurze Zeit im Raum stehen, doch als er erkannte, dass es keine Antwort geben würde, machte der Doktor weiter. „Wenn Sie Ihr Land, Ihr Königreich doch mit solch einer überlegenen, reichlich überlegten Hand führen, treten Sie an das Fenster Ihres Palastes. Schauen Sie heraus! Was können Sie sehen?“
Ein Lächeln machte sich auf dem Gesicht des Patienten breit, als er die eingebildete Sonne auf seiner Haut spürte und die angenehm frische Luft roch. „Es ist friedlich. Ein Paradies, denn der König hat es zu einem solchen gemacht. Eine blühende Landschaft, gespickt mit schier endlosen Feldern, saftigen Früchten, hart arbeitenden Sklaven und wunderschönen Tieren. Die Sonne tränkt das Szenario und erlaubt ein Leben ohne Einschränkungen. Zumindest für die, die mir, dem König des Reiches, gehorchen. Alles ist vorhanden, niemand leidet an etwas. Sauberes Wasser, direkt aus den Bächen trinkbar, eine prächtige Vielfalt von Getreide, Obst und Gemüse, deren Mengen mein ergiebiges Volk für Jahrhunderte nähren könnte. Ich, die Wahrheit und die Gerechtigkeit, habe das Reich zu dem gemacht, was es ist und aus diesem Grund gebührt mir der Respekt aller, die nur untätig auf ihren Untergang gewartet haben. Man schuldet mir diesen Dank, denn nur ich konnte so etwa leisten. Und ich tat es. Und als ich sah, dass es gut war, forderte ich die angemessene Belohnung. Meine Legitimität blieb unangefochten, Zweifler und Feinde hörten in dem Moment auf zu existieren, in dem sie den Mund aufmachten. Ich…“ Der Patient versuchte seine Arme auszubreiten, woran ihn die Zwangsjacke hinderte, wodurch nur ein irrer Blick blieb, der so durchdringend war, dass selbst dem erfahrenen Arzt mulmig wurde. „…bin der Einzige, der es vollbringen konnte. Das Zweifeln, der Hohn in deinen Augen, Diener, sollte sich nie wieder in meiner Anwesenheit zeigen! Das befiehlt dir Veritas!“
„Sie sprachen von einer unzählbaren Menge an Gold. Woher nehmen Sie dies? Wie können Sie einen unendlichen Nachschub gewährleisten?“, wollte der Doktor wissen, zu betont gelassen.
Erneut versuchte er seinen Patienten ein wenig aus der Fassung zu bringen, wollte eine Reaktion erhaschen. Er bekam ein arrogantes Schnauben. „Längst haben die von mir bezahlten Wissenschaftler einen Weg gefunden, aus egal welcher Materie pures Gold zu machen. Rein und makellos. Egal, was ich nutze, die Natur, so viel reicher als ich, wird mir die Möglichkeit geben sie zu übertrumpfen, sie zu überflügeln. Selbst sie, uralt und mächtig, wird sich mir beugen müssen. Wie es jeder tun muss.“
„Sie wollen die Natur also so lange ausbeuten, bis Ihre blühende Landschaft einer kalten, lebensfeindlichen Umgebung gewichen ist, auf dem weder Tiere noch Menschen existieren können?“
Die Visualisierung des Patienten setzte sofort ein und seine Augen bekamen einen fiebrigen Glanz. „Genauso wird es sein. Saures Blut wird vom Himmel regnen, Skelette werden den Boden pflastern und mein Palast wird sich triumphal über all das erheben. Ein Tausch. Leben gegen Gold. Alles muss sterben. Das ist der einzige Weg. Warum sollte ich handeln? Ich lasse es geschehen, ich werde einfach zusehen, wie es stirbt. Warum sollte ich auch nur einen Finger für das Schwache krümmen? Nicht einmal das Aufstehen vom Thron ist es wert.“
Der Doktor schluckte. Auch wenn er wusste, dass das lediglich das Gedankenbild eines Patienten war, so wurde ihm doch allmählich klar, wie krank der Mann vor ihm wirklich war.
„Sie sprachen eben lediglich von einem Reich, nicht von der Welt. Sind Sie nur einer unter vielen?“
Ein gelangweiltes Kopfschütteln folgte. „Theoretisch existieren sie, ja, aber im Schatten meiner Herrlichkeit, im Angesicht meiner Truppen werden sie qualvoll zugrunde gehen. Sie werden sich niemals aus diesem befreien können.“
„Und was, wenn doch? Die Truppenstärke Ihres Reiches in allen Ehren, aber wie reagieren Sie auf ein Bündnis aller umliegenden Reiche? Sind Sie darauf vorbereitet?“
„Diese Aasfresser haben nicht den Mut, geschweige denn den Willen sich gegen mich aufzulehnen. Es ist das Gleiche wie mit dem Erbitten vieler Reiche nach Nahrung oder Vieh. Mein Reich, mein materieller Besitz, ist unantastbar. Niemals würde ich es an einen Haufen kränklicher Kakerlaken abtreten. Widerlich ist allein schon der Gedanke. Teilen mit denen unter mir.“
Er spuckte mit angewidertem Gesichtsausdruck auf den Boden.
„Sie beschreiben Sie als Kakerlaken, aber selbst zwölf räudige Hunde können einen Löwen besiegen, oder?“
„Sollten Sie einen Angriff auch nur wagen, wird es ihr Todesurteil sein!“, brüllte der Patient voller Zorn. „Zuerst werde ich ihre Truppen dezimieren, aber die Soldaten halbtot am Leben lassen. Sie sollen die Qualen in vollen Zügen genießen. Dann werde ich in den Reichen einmarschieren und sie vollkommen auslöschen! Keine Überlebenden, keine Ausnahmen, nur eine totale Vernichtung! Eine Ausrottung aller Völker, die sich mir widersetzten! Nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen und vor allem die Kinder, vergiftet von der Idee der Rebellion! Keine Gnade wird gezeigt und man wird sich ewig an mich erinnern! Der Regent, der Zerstörer, der Gottgleiche!“
Spucke lief dem Patienten unkontrolliert aus den Mundwinkeln. Die letzten Worte hatte er geschrien, doch die Wut wich augenblicklich. Ein schallendes Lachen hallte in dem Raum wieder. Die Wachen und selbst der hartgesottene Doktor, die viel gesehen hatten, zuckten zusammen. Dieser Mann war mit nichts vergleichbar. Er war ein Monster, eine Bestie. Der Mann im weißen Kittel schluckte schwer, doch erlangte die Kontrolle wieder. Seine Hände hörten auf zu zittern und der verängstigte Ausdruck in seinen neutralen Augen wich.
„Hochmütig und arrogant gegenüber jedem, der vermeintlich unter Ihnen steht, woraus eine Trägheit gegenüber dem Erhalten von Leben resultiert, denn es sei minderwertig, neidisch auf die Fülle der Mutter Natur, die durch die unstillbare, der Völlerei gleichen Gier nach Gold komplett ausgebeutet wird, Wollust wehrlosen Sklavinnen gegenüber und einen unbändigen, auslöschenden Zorn gegen als Feinde Betrachtete. Dennoch halten Sie sich für im Recht!“ Seine leicht zitternde Stimme hob sich erregt. „Ich frage Sie erneut, Veritas Peccati, `Die Wahrheit der Sünden´, wer sind Sie? Wer hat Sie zu der Abscheulichkeit gemacht, die Sie sind?“
„Ich habe mich selbst geformt. Ich, der Mensch.“