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Vergewaltigt
Die vielen Menschen beunruhigten, ja bedrückten ihn. Ihm schien, als würde jeder Vorübergehende ihn prüfend betrachten, fixieren, mit den Blicken aufspießen, seine Geschichte im Vorbeihasten lesen, die Erlebnisse, die ihm das Leben gleich einem Kainsmal ins Gesicht geschrieben hatte.
An einem warmen Spätsommertag war er, der damals pubertierende Jugendliche, heim gekommen. Das wohlbekannte Fahrrad hatte er vor der Haustür gesehen. In der behaglichen Wohnung hörte er ihn. Hinter der Tür. Sie führte in das elterliche Schlafzimmer.
Er vernahm das stoßende Keuchen der vertrauten Stimme, das in dieser Form noch nie an sein Ohr gedrungen war. Es war untermalt von der im rhythmischen Gleichklang wimmernden Stimme seiner Mutter.
Ohne nachzudenken riss er die Tür auf, füllte den Rahmen aus und starrte auf das Unfassbare.
Erschrocken hatte sich das Paar auf dem Bett voneinander gelöst.
Er sah nicht auf die nackten Leiber, die verstört an den Deckenzipfeln zerrten, um ihre Körper zu verdecken. Es war nicht die physische Blöße, es war die Seele, die Scham, die Schutz unter dem Stoff suchte. Er sah nur die angstgeweiteten Augen seiner Mutter, der geliebten, verehrten. Hinter ihrem Leib suchte der Mann sich zu verbergen.
Mann?
Er kannte ihn seit frühester Kindheit, aus den glücklichen Tagen im Sandkasten, den vorsichtigen ersten Schritten beim Entdecken dieser Welt. Sie waren zusammen größer geworden, hatten Geheimnisse geteilt, in den übermütigen Stunden beschlossen, auf der unverbrüchlichen Basis ihrer Freundschaft das Erdenrund aus den Angeln zu heben.
Er war sein Freund gewesen. Seit Beginn seiner persönlichen Zeitrechnung.
Und jetzt war alles zerstört. Nur weil der Pubertierende seine Jünglingskräfte abreagieren musste. Jeder seiner Altersgenossen hatte die Entdeckung des eigenen Körpers hinter sich, trachtete nach den ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, kämpfte mit den Bildern der Fantasie, die das doch so Erstrebenswerte dem Geist vorspiegelte.
Aber warum mussten die ersten verschenkten Körpersäfte ausgerechnet den unversehrbaren Leib seiner Mutter beschmutzen, in jenen Bereich unter dem Herzen eindringen, der das Quell seines eigenen Seins war, der nur ihm gehörte.
Natürlich gab es den Vater, der beruflich irgendwo auf dem Globus mit der Leitung eines Bauwerks beschäftigt war und nur selten die Zuflucht zur Familie fand. Aber die Berührung zwischen den Eltern bewegt sich außerhalb der kindlichen Gedankenwelt. Vater und Mutter untereinander sind ein Neutrum.
„Kind, lass dir erklären...“, hörte er das Flehen der Frau, die bisher sein Leben war.
Er flüchtete aus dem Raum, der Wohnung, irrte durch die Strassen, ohne sie wahr zu nehmen.
Die Welt, die so zukunftsträchtige, war zerbrochen. Sie hatte sich aufgelöst. Liebe, Freundschaft, Vertrauen... die Dinge, die das Menschsein ausmachten, waren wie im Nirwana zwischen den Schenkeln seiner Mutter verschwunden.
Irgendwann war er nach Hause zurück gekehrt. Es gab für ihn keinen anderen Hort. Die Spuren der versiegten Tränen waren immer noch vorhanden. Er hatte die Ohren verschlossen, sich den mühsamen Erklärungsversuchen der Mutter widersetzt. Er war für ihre Worte unerreichbar.
Dann hatte ihn der Zorn erfasst. Seine Welt war kaputt, so wollte auch er zerstören. Er übte Rache an dem Jungen, der bis zur Weltenwende sein Freund gewesen war. Es wurde in der Schule als Ausbund von Gewalt bezeichnet, hatte Sanktionen zur Folge. Durch den Ausbruch seiner Emotionen, die er über die kräftigen Fäuste auf seine Umgebung wirken ließ, schaffte er Distanz zu sich und den Menschen, die seinen Weg begleitet hatten.
Das unfassbar Erlebte versiegelte seinen Mund. Er vermochte nicht darüber zu sprechen. Im Gespräch fehlten ihm die Argumente. Er ersetzte sie durch Körpereinsatz.
Er suchte die Frauen, um ihnen ihre Unreinheit zu demonstrieren. Überraschend einfach waren die, die er fand, bereit, sich ihm hinzugeben. Doch er konnte seinen Hass nicht verhehlen. Das, was die Weiblichkeit ausmachte, war die Ursache für die Zerstörung dieser Welt. Seiner Welt. Jeder Stoß seiner Lenden war eine Bestrafung für das, was man ihm als Forderung der Natur zu erklären versucht hatte. Er demütigte die Frauen, die sich mit ihm einließen. Es war wie eine Spirale, die ihn aufgenommen hatte, sich immer schneller drehte. Und irgendwann wurde er durch die Rotation über den Rand hinausgeschleudert.
So suchte er Zuflucht beim gleichen Geschlecht. Frauen waren etwas Ekelhaftes, nur für die Befriedigung primitiver Bedürfnisse brauchbar. Ohne Moral, ohne Gefühl für das Große dieser Welt, das auch er verloren hatte. Seine Mutter hatte es ihm gezeigt. Für einen lustvollen Moment durfte das Gefüge des seelischen Konstrukts zerbrochen werden. Und in seinen Augen waren alle Frauen Mütter...
Doch auch in diesem Leben wurde der Horizont immer enger. Stinkende, schwitzende Männerkörper, geifernde Gier in unrasierten Gesichtern, ekelhaftes Begehren in schmutziger Umgebung.
Es ging immer weiter abwärts mit ihm. Auch die kleinen bunten Muntermacher hellten sein Dasein nicht mehr auf. Er war angekommen. Ganz unten. Er hing am Abgrund.
Dann kam der Tag, an dem er über den Rand gestoßen werden sollte. Es war ein widerwärtiger, dicker Kerl, der nach Schweiß roch. Dessen Handgreiflichkeiten waren weder durch Worte noch Taten aufzuhalten. Der Masse faulen Fleisches hatte er nichts entgegen zu setzen. Sie erdrückte ihn. In seinem Hirn wurde die Schublade der Erinnerung gezogen. Er sah wieder die wilde Nacktheit seines Jugendfreundes, die vor Erschrecken geweiteten Augen seiner aus dem Himmel Eros herabstürzenden Mutter, die Vereinigung der Dinge, die nie hätten zueinander kommen dürfen.
Der Dicke über ihm keuchte, bemühte sich, seine aufgestaute Geilheit an ihm zu befriedigen und hatte wie die Beiden damals, im elterlichen Schlafzimmer, jegliche Kontrolle über sein Ich verloren.
Er zerrte und drückte, wollte fliehen, aber vor der Masse Gier fand er keinen Ausweg. Nur der harte Gegenstand, den seine Hände plötzlich umklammerten, schien ihm wie der Schlüssel ins Freie.
Nach dem Loch im Lebensfilm sah er die leblose Gestalt vor sich. Nutzlos. Ohne den Odem des Seins. Einfach nur totes Gewebe. Nicht mehr fähig, unkontrollierbar tierischen Instinkten freien Lauf zu lassen.
Wie unter einem Nebelschleier zog der Prozess an ihm vorüber, in dem sein Leben vor den langen Ohren Fremder ausgewalzt wurde.
Er sah seine Mutter nach langer Zeit wieder, eine verhärmte Frau, die seinem Blick auswich. Sie trug das Stigma ihrer Verfehlung auf die Stirn gemeißelt. Ihr Fehltritt gehörte dem gierigen Publikum.
Es war eine Fremde, die dort dem Gerichtsverfahren folgen musste.
Das alles war jetzt schon eine Reihe von Jahren Vergangenheit. Nur die vielen Menschen um ihn herum erschreckten ihn noch immer.
Vorsichtig streckte er die Hand aus, fand die warmen Finger der Frau an seiner Seite. Ihre Hand umschloss die seine. Er spürte den zarten Druck, der mehr als viele Worte sagte.
Sie sah ihn an. Ein sanftes Lächeln streifte ihn wie der erste Strahl der Frühlingssonne.
„Essen wir ein Eis?“ fragte sie mit zarter, aber bestimmter Stimme.
Er nickte dankbar.
Seit er Sabine kannte, war die Sonne wärmer geworden, blühten die Rosen wieder.
Er kannte sie nun schon eine ganze Weile. Sie hörte ihm zu, verstand seine Ängste, nahm seine Gefühle auf und entwirrte sie.
Sie versorgte ihn, kümmerte sich um die vielen unbedeutsamen Kleinigkeiten eines Menschenlebens. Sie war immer für ihn da. Fast immer.
Er strahlte zurück. Drückte fest ihre Hand. „Ich mag dich“, sollte dies heißen, Wörter, die vor der Befleckung nur seine Mutter von ihm vernommen hatte.
Ein Leben ohne Sabine konnte er sich nicht mehr vorstellen. Sie war das Zentrum seines Seins.
So freute er sich schon jetzt auf das nächste Mal, in vier Wochen, wenn er mit seiner Betreuerin den nächsten Ausgang von der Anstalt antreten durfte...