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Vergessene Schuld

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15.03.2003
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Vergessene Schuld

Es gibt Momente im Leben, da muss man, wenn man von der eigenen Intelligenz überzeugt ist, eine Entscheidung treffen. Das Leben weiterführen, so wie man es gewohnt ist, oder alles fallen lassen, wie einen gefüllten, stinkenden Müllsack in die Tonne.
Für mich war dieser Moment erreicht. Mehr als zehn lange Jahre saß ich im Gefängnis, musste mich dort mit meiner grauenvollen Tat auseinandersetzten, lernen zu verstehen, was falsch daran war. Und dann, in meinem ersten Augenblick in Freiheit, wurde mir bewusst, dass ich mir in dieser langen Zeit keinerlei Gedanken darüber gemacht hatte, was ich nun mit meinem Leben anfangen sollte, nachdem ich für meine Schuld gebüßt hatte.

Die einzigen Gegenstände, die bei der Entlassung, wieder in meine Taschen wanderten, waren eine klobige Sonnenbrille, ein wenig Kleingeld und meine Schlüssel für Auto und Haus. Meine alte Karre war bei meiner Mutter untergebracht, die noch immer zu mir stand, was sie durch die häufigen Besuche, ständig aufs Neue bewiesen hatte. Sie war die einzige Person, die mir nach meiner Tat noch in die Augen blicken konnte. Sie, das Haus und das Auto waren meine letzten Habseligkeiten.

Deswegen war es kein Wunder, dass ich die kostenlose Taxifahrt, die mir vom Gefängnis gespendet wurde, nutzte, um zum Haus meiner Mutter zu gelangen, wo ich bereits seit meiner Geburt gelebt hatte. Als der Fahrer der malerischen Straße des Vororts folgte, verfiel ich in eine Träumerstimmung. Die sich ähnelnden Häuser, deren einziger Unterschied in der Farbe des Anstrichs und der Pflege der Vorgärten lag, huschten in einem gleichmäßigen Rhythmus an meinen Augen vorbei und hatten eine leicht hypnotisierende Wirkung, die mich nachdenken lies:
Hoffentlich sind sie noch da.

Die Gegend hatte sich stark verändert. Früher stand das Haus am Rande der Vorstadt. Natürlich war die Vorstadt gewachsen, und neue Häuser umschlossen mittlerweile das alte, verschmutzte Haus mit dem ungepflegten Garten, das mich an meine Vergangenheit erinnerte. Das mir Dinge in den Kopf trieb, die ich längst verdrängt hatte.
"Stirb, du Hure, stirb!"
Ich zuckte zusammen, schüttelte den kalten Schauer von meinem Rücken und stieg aus dem Taxi. Lässig zog ich die Sonnenbrille aus meiner Jeans und setzte sie mir auf, da die Sommersonne hoch am Himmel stand und jedem hellen oder spiegelnden Gegenstand das Leuchten einer kleinen Supernova verlieh.
Die kleine Holztreppe, die zur Eingangstür hinaufführte, knarrte laut, als ich einen Fuß auf sie setzte, und sie vertrieb den eigentlichen Sinn der Haustürklingel. Noch bevor ich die dritte Stufe erreicht hatte, öffnete sich die verschmutze Haustür und das Gesicht meiner mittlerweile alten Mutter lächelte mir entgegen. Zärtlich umarmte sie mich.
"Es ist schön, dass du wieder da bist, mein Schatz.", sagte sie mit ihrer rauhen, kratzigen, doch lieblichen Stimme und führte mich ins Haus.
Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, fragte ich: "Sind sie noch da?"
"Keine Angst. Alles hat seinen gewohnten Platz.", antwortete sie.

Während dem Mittagessen, sie hatte Nudeln mit Soße gemacht, sprachen wir kein Wort. Auch früher, unterhielten wir uns nur über die wichtigsten Dinge. Sie hatte mich so erzogen und ich hatte nichts dagegen einzuwenden.
Direkt nach dem Essen ging ich in den Keller, mich vergewissern, dass sie wirklich noch da waren. Etwas zögerlich näherte ich mich dem, mit altem Schrott beladenen, Regal und räumte es leer um schließlich die Bretter abnehmen zu können. Unerwartet, wie der erste Blitz eines drohenden Sturms, bohrte sich eine weitere Erinnerung in meinen Kopf:
"Nein... nein... Was hab ich dir getan?"
Angewidert schüttelte ich meinen Kopf, fühlte mich befreit und nahm ein verrostetes Brecheisen zur Hand, mit dem ich vorsichtig eine große Holzplatte aus der Wand nahm. Ich legte die Platte zur Seite und blickte durch den frei gewordenen Durchgang in das Dunkel des Geheimraums.
"Arrgh... Glaub mir... Das... wirst du be... reuen."
Ich versuchte meine Gedanken zu kontrollieren, doch immer wieder tauchten diese seltsamen Erinnerungen auf, aus einer Zeit, an die ich mich nicht erinnern wollte, es vielleicht auch nicht konnte. Von einem Tisch, in der rechten Ecke, nahm ich mir eine Taschenlampe und leuchtete in den Geheimraum, der eher wie eine kleine Höhle wirkte, als wie ein Zimmer. Sorgfältig durchleuchtete ich jede Ecke dieses Verstecks.
Sie waren noch da.

Nach meiner Inspektion stellte ich alles wieder an seinen gewohnten Platz, so dass mein kleines Versteck sicher hinter der Wand lag.
Das Abendessen glich vom Unterhaltungsgrad dem Mittagessen und ich lauschte, während ich Biss für Biss hinunterschlang, nur dem lauten Ticken der Standuhr im Wohnzimmer. Danach saß ich mit meiner Mutter eine Weile vor dem Fernseher und wir genossen schweigend eine Spielshow, auf einem dieser unbekannteren Kanäle. Ich konnte mich nicht konzentrieren.
"Na, wie findest du... das hier!?"
"Nein...nicht..."
Darum fasste ich den Entschluss früher ins Bett zu gehen. Es war gerade erst dunkel geworden und obwohl es mein erster Tag in Freiheit war, legte ich mich bald schlafen. Kein Gedanke störte meinen erholsamen Schlaf. Doch mitten in der Nacht wachte ich auf.

Erst wusste ich nicht genau welches Geräusch mich geweckt hatte. Doch es kehrte kurz darauf wieder. Der Schock, den ich verspürte, floss mir durch den Körper und lies mein Blut gefrieren. Eindeutig kam das Geräusch aus dem Keller. Es klang wie herunterfallender Schrott. Leise stieg ich aus meinem Bett und öffnete die Schublade in meinem Nachttisch. Wie ein Archäologe, der nach verzweifelter Suche, endlich ein lange verschollenes Artefakt fand, entdeckte ich meine alte Pistole. Ich war beruhigt, dass sie noch immer dort lag, wo ich sie seit Ewigkeiten aufbewahrte. Zitternd nahm ich sie heraus, ergriff sie behutsam, um im dunklen Zimmer nicht aus Versehen den Abzug zu drücken und schlich dann, nur mit meiner Unterhose bekleidet, zur Zimmertür.
Ängstlich betrat ich den Flur des zweiten Stocks, als der Lärm unerwartet stoppte. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass meine Mutter um diese späte Zeit im Keller aufräumte, schaute ich in ihr Schlafzimmer, und verschaffte mir Gewissheit. Schnarchend lag sie, in ihre Bettdecke eingewickelt, auf dem Bett und schlief, dank altersbedingter Hörschwäche, ohne eine Unterbrechung weiter. Um sie nicht unnötig zu beunruhigen, beließ ich sie in diesem friedlichen Zustand und musste mich dann mit dem eigentlichen Problem konfrontieren.
"Rache!", schrie eine Stimme in meinem Kopf.
Unfähig zu verstehen, was sich im Keller abspielte, ging ich Schritt für Schritt die Treppe hinab und hielt die Pistole zitternd im Anschlag.
Das Geräusch klang nicht länger wie Schrott, sondern wechselte in das gleichmäßige Auftreten von Schritten. Sie kamen die Kellertreppe hoch und das Einzige, das sie noch von mir trennte, war eine dünne Holztür. Ich blieb stehen, beobachtete die Kellertür und lauschte dem Näherkommen der Schritte. Sie klangen schleifend und als sie stoppten, wusste ich, dass sie die Tür erreicht hatten. Wie gelähmt hielt ich meine Position bei, bereit auf alles und jeden zu schießen, sollte sich die Tür öffnen.
Laut flog die Tür aus den Angeln und sie standen da. In der Dunkelheit war kaum etwas zu erkennen. Doch ihre rotglühenden Augen zeigten mir, dass ich bereits entdeckt worden war. Sie starrten mich an, als wäre ich ein teures Ausstellungobjekt in einem Schaufenster.
Verängstigt, jedoch auch wütend, feuerte ich die Revolvertrommel leer. Bei jedem Schuss vertrieb das Mündungsfeuer kurz die Dunkelheit und ich war gezwungen mehrere Blick auf das verweste, tote Fleisch der drei Wesen zu werfen, die noch immer an der Kellertreppe standen und mich mit ihren Blicken durchbohrten. Kein Schuss hatte eine Wirkung gezeigt.
"Sid!", sagte eine Stimme. Eine echte Stimme.
"Du bist endlich zurück. Lange haben wir auf dich gewartet." Sie klang verbraucht, keuchend, erinnerte mich allerdings an jemanden, den ich vor langer Zeit gekannt hatte.
Innerhalb eines Augenschlags wechselten sie ihre Position. Geschockt fiel ich zurück, musste feststellen, dass sie sich nicht mehr als einen halben Meter vor mir standen. Ihre Körper sahen zerfressen aus. An manchen Stellen war ihr Skelett zu sehen. Langsam beugten sie ihre Oberkörper nach vorne und dann spürte ich eine Hand.
"Sid! Was soll das? Lass mich los!" Eine Mädchenstimme.
"Warum denn? Es fängt doch gerade erst an Spaß zu machen."
"Nein... nein... was hab ich getan?"
"Das solltest du eigentlich wissen."
"Ich hab nichts getan. Leg das Messer weg!"
"Ich habe dich geliebt und du machst mit anderen rum. Dafür wirst du büßen."
"Geliebt? Wir kennen uns doch nur aus der Schule und haben nie ein Wort gesprochen."
"Ich habe dich geliebt, doch jetzt ist es zu spät."
"Nein... bitte!"
"Stirb, du Hure, stirb!"

Ich kehrte in die Realität zurück.
Jamie Peterson. Das war ihr Name. Eine der Leichen, die im Keller untergebracht waren. Ich kannte das Mädchen, als ich zur Highschool ging.
Plötzlich spürte ich eine andere Hand. Sie griff fester zu.
"Mach mich los, du Freak!" Eine Männerstimme
"Einspruch! Einspruch stattgegeben! Hehehe!"
"Warum machst du das?"
"Weil ich dich hasse. Ich habe dich gewarnt, du sollst mich in Ruhe lassen. Doch du musst ja unbedingt der Obercoole sein und alle ärgern, die dir nicht passen."
"Ja, man, es tut mir Leid. Mach mich los und wir werden... Freunde!"
"Ha!"
"Nein, wirklich... du brauchst das... Messer nicht. Komm schon."
"Na, wie findest du... das hier!?"
"Nein...nicht..."
"Hahahaha!"

Wieder kehrte ich zurück und starrte auf die lebenden Leichen, auf die verdrängte Vergangenheit vor mir. Mitchel Brown war sein Name. Ein Footballprofi in der Highschool und der Erzfeind aller Außenseiter. Ich musste doch etwas tun.
Doch wer war die dritte Leiche, die wir im Keller versteckt hatten, damit man mir nur einen Mord hatte anhängen können. Ich wusste ich würde es herausfinden, als sie meine Schulter ergriff.
"Ich werde es beichten. Es kann so nicht weitergehen." Eine ältere Männerstimme. Ich erkannte sie.
"Das wirst du nicht tun!"
"Ach ja? Willst du mich auch töten?"
"Wenn es sein muss, jetzt sofort!"
"Was? Wie kannst du es wagen?"
"Es muss ein. Ich kann dir nicht trauen."
"Ich bin dein Vater! Leg das Messer weg!"
Oh Gott, mein Vater.
"Nein, ich muss es zu Ende bringen."
"Arrgh... Glaub mir... Das... wirst du be... reuen."

Als ich wiederkehrte, musste ich mich übergeben. Nun waren mir all meine Taten wieder bewusst. Die ganzen Jahre war ich gezwungen es zu verdrängen. Im Hinterkopf war lediglich der Gedanke gewesen, niemandem von dem Versteck zu erzählen. Es geheimzuhalten. Nach Vergebung suchend schaute ich in die glühenden Augen meines Vaters und in die, der anderen zwei. "Es tut mir Leid. Diese Zeiten sind vorbei."
"Nicht für uns!", sagten sie gleichzeitig.
"Wir werden erst Ruhe finden, wenn du für deine Taten gebüßt hast.", sagte Jamie.
"Erst, wenn wir wissen, dass es dir schlecht geht.", sagte Mitchel.
"Du hast mich enttäuscht. Dafür musst du büßen.", sagte mein Vater.
Eilig stand ich auf und hetzte die Treppe hoch. Ich wusste nicht was ich tun sollte, wie ich entkommen konnte. Sie folgten mir. Kurze Zeit sah ich das Gesicht meiner Mutter, wie es durch den Spalt in ihrer Tür spähte. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen, dass sie sich versteckte. Sie war alt und hatte Angst. Doch unschuldig war sie nicht. Sie war es, die mir geholfen hatte meine Morde zu vertuschen, die mich nicht darauf hinwies, wie falsch und abartig meine Taten waren.
Verzweifelt rannte ich in mein Zimmer, schmiss die Tür hinter mir zu, schloss sie ab und lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen, um ein Eindringen zu verhindern. Schläge donnerten gegen die Tür und brachten sie zum beben. Schnell sprang ich zum Bett und schaffte es, gerade als ich das Knacken des Holz hörte, es als Widerstand gegen die Wand zu schieben. Das Klopfen, das Schlagen setzte sich noch einige Zeit fort, während ich in einer Ecke des Raums saß und mich mit meinem alten Baseballschläger bewaffnet hatte. Wie lange ich dort saß, weis ich nicht mehr, doch irgendwann ertönte Blaulicht und näherte sich. Das Klopfen hörte abrupt auf.
Wahrscheinlich hatten Nachbarn die Polizei gerufen, nachdem die meine Schüsse gehört hatten.
Mir war alles egal. Sollten sie doch die Leichen finden. Mir war es recht. Ich war bereit mich der Schuld gegenüberzustellen, für das zu büßen, das mich bis zu dieser Nacht verfolgt hatte. Sicherlich würde es Todesstrafe bedeuten. Doch welche Hoffnung war mir noch geblieben?
Ich schob das Bett zur Seite und öffnete die Tür. Dort lagen sie. Leblos. Ungefährlich. Und als die Polizisten die Treppe hinaufkamen und dieses abartige Bild vor sich sahen, hob ich schweigend meine Hände.

Jeden Tag, den ich hier im Todestrakt verbringe, und sehnsüchtig auf die erlösende Spritze warte, muss ich an dieses eine Erlebnis denken. An meinen ersten und letzten Tag in Freiheit, seit mittlerweile zwanzig Jahren.

 

Hi,
das sich die Opfer an ihrem Mörder rächen gefällt mir.
Nur wenn ich versuche mir an hand der kursiven Dialoge die Morde vorzustellen, kommt es mir ein wenig komisch vor das er es so problemlos schafft den Footballprofi und seinen Vater zu töten.
Da muß er ja recht groß und kräftig sein. ;)

Als am Anfang seine Schlüssel für Auto und Haus erwähnt werden, dachte ich er hätte ein eigenes Haus. Das ist vielleicht etwas missverständlich ausgedrückt.

Jeden Tag, den ich hier im Todestrakt verbringe, und sehnsüchtig auf die erlösende Spritze warte, muss ich an diesen dieses eine Erlebnis denken.
Ein Wort zuviel, aber besser als einnes zu wenig. :)

Wuff

 

Hi Gaspode.

Danke für deine konstruktive Kritik. Wünsch mir aber noch ein Statement wie die Geschichte im Ganzen gefällt.

Gruß,
FLOBO

 

Die Geschichte ist toll.
Wenn ich es mal auf die Reihe kriege, veröffentliche ich hier auch eine Geschichte. Kann aber noch dauern. :)

Wuff

 

Danke :D
Ja, veröffentlich mal eine. Ich hab erst durch die teilweise ausführlichen Kritiken bemerkt, was ich verbessern kann.

FLOBO

 

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