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Vergessen

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07.11.2002
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Vergessen

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Ich erzähle Ihnen das hier, weil ich hoffe, daß wenigstens Sie auf diese Weise von mir Notiz nehmen. Es ist nämlich so, daß ich eigentlich nicht hier bin. Lassen Sie mich erklären...
Es ist einige Monate her, als es begann. Ich wollte an jenem Morgen wie immer meine Zeitung an einem Kiosk nahe meiner Wohnung holen. Und was soll ich sagen? Der Kioskbesitzer behandelte mich wie alle anderen auch, nicht wie jemanden, der schon seit fast sieben Jahren jeden Morgen dort seine Zeitung kaufte. Er brummte "Guten Morgen" und schien auch sonst nicht besonders an einem Gespräch mit mir interessiert. Auf meine übliche Frage, wie es denn um Frau und Kinder stünde, reagierte er nicht mal. Verwirrt verließ ich den Kiosk. Aber das tat ich noch als Zufall ab, jeder kann schließlich mal schlecht gelaunt sein. Da den gesamten Tag über nichts Besonderes mehr passierte, störte mich das auch nicht weiter. Es lief eine Zeit lang also normal; ich ging morgens unerkannterweise meine Zeitung holen, machte mich nach dem Frühstück zur Arbeit auf und verbrachte meine Nachmittage im nahen Park, beim Einkaufen oder bei Freunden und Familie. Aber mit der Zeit, ganz langsam, bemerkte ich noch etwas Anderes: Die Mitbewohner meines Hauses behandelten mich wie einen Fremden. Ich bemerkte es ganz genau. Niemand sagte es mir, doch konnte es mir schwer entgehen. Wenn ich sie grüßte, grüßten sie zurück; doch drehte ich mich um, spürte ich mißtrauische Blicke in meinem Rücken und nahm ihr Getuschel wahr. Bald kam ich mir wie ein Monster vor, der Kinderschreck der Kastanienallee 14. Aber wahrscheinlich waren irgendwelche Gerüchte über mich im Umlauf wie damals bei meiner Nachbarin unter mir, der man vor Jahren zahllose Liebschaften und eine Schwangerschaft andichtete. Eine Zeit lang mied man sie wie die Pest, doch das hatte sich auch gegeben. Also harrte ich aus und lebte weiterhin grüßend unter ihnen.

Doch seltsamerweise änderte sich nichts an meiner Situation, es wurde eher schlimmer. Nach und nach schienen immer mehr Menschen an einer Art kollektiver Amnesie zu leiden. Erst erkannte mich der Pförtner an meiner Arbeitsstelle nicht mehr, dann vergaßen mich eine Reihe meiner Kollegen. Sprach ich sie an, ignorierten sie mich oder gönnten mir höchstens einen irritierten Blick. Ich begann bereits, Wahnvorstellungen zu bekommen, glaubte an Verschwörung gegen mich - oder schlimmeres. Aber was sollten dann der Kioskbesitzer und die Bewohner meines Hauses damit zu tun haben? Es wurde immer mysteriöser.

Eines Morgens kam ich wie gewohnt an meinem Büro an und mußte feststellen, daß es von einem völlig fremden Kollegen besetzt war. Auf mein Drängen, daß er doch bitte meinen Platz freigeben solle, gab er lediglich zur Antwort, daß ich mich doch wahrscheinlich in der Zimmernummer geirrt haben müsse. Verwirrt schaute ich nach, die Nummer war die richtige, er war von uns am falschen Platz. Den gesamten Vormittag verbrachte ich damit, Beweise für meine Anspruchsrechte an diesem Büro zu finden, doch ergaben meine Forschungen nur, daß ich offensichtlich in diesem Unternehmen nie existiert hatte. Ich zweifelte langsam an meinem Verstand.

Als meine Arbeitszeit beendet war - zumindest war sie es um diese Zeit sonst immer - ging ich zu einer Telefonzelle, die auf meinem Nachhauseweg lag. Wild blätterte ich in einem der Telefonbücher herum, bis ich meine Suche an einer bestimmten Stelle beendete. Da standen deutlich mein Name, meine Adresse und meine Telefonnummer an demselben Platz wie immer. Es vermochte mich zwar nicht vollständig zu beruhigen, doch bestätigte es, daß mein Verstand noch immer wie bisher arbeitete.

Ich verbrachte die nächsten Wochen damit, jemanden zu finden, der mich kannte. Unangekündigt besuchte ich einen alten Freund, der mich bereits seit der Schule kannte. Als er die Tür öffnete, begrüßte ich ihn mit seinem Namen, doch erntete ich lediglich einen irritierten Blick seinerseits.
"Müßte ich Sie kennen? ", war seine Reaktion.
Ich versuchte ihn auf alle möglichen Weisen daran zu erinnern, wer ich war. Ich erzählte ihm, was wir miteinander erlebt hatten, erwähnte alte Schulgeschichten und rief ihm gemeinsame Freunde ins Gedächtnis. Doch leider half dies nicht, die Erinnerung an mich wieder wachzurufen. Also verabschiedete ich mich, entschuldigte mich für die Belästigung meinerseits und ging nach Hause.

So wie ihn begann ich alle meine Bekannten zu konfrontieren, doch kam ich immer wieder zu einem Ergebnis: Ich war irgendwie von allen vergessen worden. Was auch immer ich anstellte - normale Gespräche, hysterische Anfälle oder ähnliche Dinge - ich blieb ein Fremder unter Bekannten. Eines Tages stellte ich mich im Büro auf einen Tisch, zog meine Jacke aus, fegte die unter mir aufgestapelten Akten davon und brüllte dabei immer wieder meinen Namen. Entgeistert starrten mich alle Anwesenden an. Ich fühlte mich großartig, endlich wurde ich beachtet. Leider schien meine Vorstellung nicht besonders positiv auf die anderen zu wirken, denn als ich meinen Chef gerade am Kragen gepackt hatte und ihn zwingen wollte, meinen Namen auszusprechen, packten mich einige Sanitäter von hinten und fesselten mich an eine Trage. Ich lachte wie irre auf, denn ich als Einziger schien die Ironie zu verstehen. Nach einer Injektion umfing mich Schwärze.

Ich wachte erst wieder auf, als ich mich auf diese Trage fixiert in einem abgedunkelten Raum befand. Bald sollte ich herausfinden, daß dies eine Zelle in einer Psychiatrie - jawohl, einer Klapsmühle - war. Ein Arzt stellte sich mir nach einem halben Tag vor und versuchte, ein Gespräch mit mir anzufangen. Doch ich beteuerte immer wieder, daß ich nicht verrückt sei und nur jemanden von meiner Existenz zu überzeugen suchte. Ich fragte ihn mindestens ein Dutzend Mal, ob er mich wahrnehmen würde, doch beantwortete er mir diese Frage nicht einmal.

Zwei Tage später holte mich meine Schwester aus diesem dunklen Loch heraus. Sie sah mich vorwurfsvoll an und ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Ich bat sie, mich erstmal zu Hause abzusetzen, damit ich mich eine Weile ausruhen konnte. Sie befolgte es, ermahnte mich aber, solche Ausflüge demnächst zu unterlassen, denn sie habe die Verantwortung für mich übernommen. Erst mit meinem Versprechen, es nicht zu tun, ließ sie mich wirklich allein. Allein mit der Gewißheit, daß sie mir absolut kein Wort glaubte. Warum auch? Ich befand mich in einer hochgeheimen Verschwörung, die zum Ziel hatte, meinem Verstand durch den Fleischwolf zu drehen.

Ich hielt mein Versprechen aber (irgendwann würden sie sich ja enttarnen) und arbeitete mir ein Ritual aus, das ich von da an jeden Morgen befolgte. Nach dem Frühstück ohne Zeitung ging ich ohne den Briefkasten zu sehen in den Park. Post bekam ich ohnehin schon seit langem nicht mehr. Im Park angekommen, verbrachte ich den Tag am Entensee und beobachtete die Menschen um mich herum, die sich alle zu kennen schienen - nur mich sprach niemand an. Am frühen Abend erledigte ich meine notwendigen Einkäufe und sah in einer Telefonzelle nach meinem Namen, Adresse und Telefonnummer, um mich von meiner Existenz zu überzeugen. So ging das jeden Tag - bis eine neue, unglaubwürdige Änderung eintrat.

Ich hatte gerade alle Einkäufe weggeräumt und den Fernseher eingeschaltet, um mich etwas abzulenken. Plötzlich hörte ich die Wohnungstür und einige Leute, die meine Wohnung betraten. Es waren mein Vermieter und zwei Leute, die ich nicht kannte. Bevor ich Protest ob dieses unhöflichen Eindringens erheben wollte, erkannte ich, was sie hier wollten. Sie inspizierten die Räume, um sie auf ihre Bewohnbarkeit zu prüfen. Die unbekannten Leute wollten hier wohnen! Schon spazierte das Grüppchen direkt in mein Schlafzimmer.
"Und Sie sorgen dafür, daß die alten Möbel hier verschwinden, bevor wir hier einziehen? ", hörte ich die Frau den Vermieter fragen.
"Aber natürlich. ", gab dieser zurück.
Ich konnte es nicht fassen. Ich protestierte so aufdringlich, wie ich nur konnte, doch offensichtlich nahm niemand von mir Notiz. Mich hörte nicht einmal jemand. Verzweifelt rief ich meine Schwester an, um sie zur Hilfe zu holen. Doch als ich ihr mein Anliegen nahebringen wollte, fragte sie mich, wer ich sei und ob ich mich nicht doch verwählt habe. Ich erkundigte mich ebenfalls bei meiner Mutter und meinen übrigen Verwandten nach mir, doch es hatte selbstverständlich niemand von mir gehört. Meine Tante vergewisserte sich, ob dies nicht ein neuer Trick sei, um Zeitungen zu verkaufen. Alle Beteuerungen, daß ich nur nach meiner Existenz suchte, blieben ohne Erfolg. Inzwischen begannen die Leute in meiner Wohnung, die Räume zu vermessen. Es mußte ein schlechter Scherz sein, nichts anderes war möglich. Oder doch nicht? Hysterisch brüllend verließ ich meine Wohnung, es wurde langsam zuviel für mich! Ich war mir meiner eigenen Anwesenheit nicht mehr sicher.

Ungefähr das war auch der Zeitpunkt, als ich entdeckte, daß mich offenbar niemand mehr wahrnahm. Ich konnte nicht mal mehr auf mich aufmerksam machen, wenn ich nicht mehr zur Arbeit erschien oder wild schreiend durch irgendwelche Geschäfte, öffentliche Gebäude, Schulen lief. Entsetzt stellte ich eines Tages fest, daß mein Name aus dem Telefonbuch verschwunden war. Nicht gestrichen oder herausgerissen, sondern einfach nicht mehr da, als hätte er nie existiert. Ich konnte es einfach nicht mehr glauben. Einsam und verlassen stand ich hier, völlig vergessen von allen, die ich kannte oder zu kennen geglaubt hatte. Es gibt Menschen, deren Leben den Sinn verloren hat. Damit hätte ich ja liebend gern gelebt. Aber irrtümlicherweise das Leben statt dem Sinn dazu zu verlieren, war der reinste Alptraum!

Ich stürzte los, versuchte einen einzigen Beweis meiner selbst zu finden. Unglücklicherweise hatte ich mein Portemonnaie irgendwann verloren, so daß ich weder Personalausweis, Führerschein oder sonst irgendein Stück hatte, auf dem mein Name stand. Aber das war auch nicht weiter wichtig, denn ich war nicht länger von dieser Welt. Wo immer ich auch nachsah, spionierte und lauschte... Nirgendwo auch nur ein Hinweis darauf, daß ich je gelebt hatte. Ja, nicht mal meine Mutter erinnerte sich an ihren einzigen Sohn, man stelle sich mal vor!

Alles, was ich in der nächsten Zeit anstellte, verdeutlichte mir, wie ich immer weiter aus der Welt verschwand. Nicht einmal sterben konnte ich, denn als ich mich vor Autos warf, fuhren sie ungerührt weiter, ohne mir auch nur einen Kratzer zuzufügen. Ich warf mich auf Zugschienen, sprang von Hochhäusern und ließ mich von Brücken fallen - alles überlebte ich unversehrt!

Meine Annahme, daß jemand vergessen hatte, mich von meinem Tod zu unterrichten, erwies sich nach einem Friedhofbesuch auch als falsch. Ich hatte mein Leben lang nicht an Gespenster geglaubt, doch langsam mußte ich mich damit abfinden, daß ich offensichtlich eines war.
Und so begann ich, diese meine Geschichte niederzuschreiben, damit wenigstens irgend jemand .... Hallo? Nein, gehen Sie nicht, bleiben Sie bitte noch! Bitte, ich lebe wirklich! Hallo?!??

 

Hallo Daya,
eine Superidee.
Beim lesen dachte ich ständig: Das ist kein Stoff für eine Kurzgeschichte, das ist ein Stoff für einen Roman.
Ja, und das ist auch das Problem mit Deiner Geschichte, wie ich meine:
Du packst irre viel Handlung in die, relativ kurze Geschichte. Dadurch wirkt sie wie ein Bericht. Es mangelt an Atmosphäre. Es entstehen wenig Bilder.
Ich hätte mir gewünscht von den erstaunten Gesichtern der Leute zu lesen, oder von Deinem Zittern oder Herzklopfen, als Du nicht erkannt wurdest. Hast Du geweint, als Deine Mutter nichts von Dir wußte? Wie ist es, wenn ein Auto durch einen hindurch fährt?
Klar, dann wäre es ein Buch geworden.
Warum nicht?
Einige kleine Holprigkeiten in der Logik sind mir auch aufgefallen:

---Den gesamten Vormittag verbrachte ich damit, Beweise für meine Anspruchsrechte an diesem Büro zu finden, doch ergaben meine Forschungen nur, daß ich offensichtlich in diesem Unternehmen nie existiert hatte. Ich zweifelte langsam an meinem Verstand.

Ein Unbekannter, der in einer Firma rumschnüffelt, fliegt doch raus.

--packten mich einige Sanitäter von hinten und fesselten mich an eine Bahre

Das war eine Trage. Auf einer Bahre trägt man Tote.

Trotz allem finde ich die Idee super und meine, sie müßte ausgearbeitet werden.
Ein richtiges Ende brauchst Du dann allerdings.

Nicht verzweifeln, dranbleiben
Gruß Manfred

Wem erzähl´ ich das eigentlich?????

 

Hm... wenn ich mir Deine Kommentare so durchlese, könntest Du durchaus Recht haben. Ich hatte mir damals beim Schreiben (das ist schon ein paar Jahre her) bewußt gedacht, keinen Roman, sondern eine kurze Erzählung daraus zu machen. Ich stellte mir die Situation vor, daß jemand all dies durchmacht, merkt, daß er allmählich von dieser Welt und aus jedermanns Wahrnehmung verschwindet und nun den Leser als letzten Rettungsanker sieht, dem er versucht, sein Erlebtes glauwürdig zu erzählen. Daher ist es auch eher eine Aufzählung dessen, was er erlebt hat und keine detaillierte Schilderung, wie er dabei empfand. Mir gefiel das in dieser Form ganz gut, aber ich verstehe auch Deine Einwände.

Die Bahre wird natürlich sofort geändert, natürlich heißt das Teil Trage :)

Viele Grüße,
Daya

 
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Oh, das kenne ich gut: Man schreibt in einer bestimmten Stimmung, versetzt sich direkt in die Geschichte rein und findet es ganz toll, wie man das rüberbringt. Da schlägt das Herz vor Anteilnahme auch schon mal schneller und die Hände werden feucht.
Die Enttäuschung kommt dann, wenn man den Text jemanden zum lesen gibt und der dann nicht so viel damit anfangen kann, weil er nicht das selbe fühlt wie man selbst und auch die Idee nicht entwickelt hat.
Mein Problem ist dabei: Ich hab die Bilder im Kopf und muß so schreiben, daß diese Bilder auch beim Leser entstehen. Das zu beurteilen ist schwer.

Deine Idee einer Erzählung ist nicht schlecht, nur meine ich, müßtest Du dann den Leser zwischendurch öfter direkt ansprechen. Wie: "Ich kann nur hoffen, daß Sie meine Verzweiflung verstehen." Oder : "Stellen Sie sich bitte vor, daß.....".
Aber auch bei einer Erzählung sind Bilder für mich wichtig und die entstehen bei der Beschreibung der Atmosphäre.
Genug genörgelt :D
Liebe Grüße Manfred

 

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