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Vergessen
„Herr Schichtinger, ehemaliger Bürgermeister. Sehr umgänglich. Allerdings musst du aufpassen, wenn du ihm zu nahe kommst. Er verteilt gerne Wangenküsse."
Unbewusst wischte ich über meine Wange.
„Valentin, der da links im Rollstuhl. Raucht andauernd in der Eingangshalle und wenn er nicht raucht, isst er am liebsten. Er ist ziemlich ruppig. Aber nimm's nicht persönlich."
Genauso sah er aus. Sein schwabbeliger Körper füllte den gesamten Rollstuhl aus und auf dem aufgedunsenen Gesicht lag ein mürrischer Ausdruck, wie ich Vergleichbares noch nie zuvor gesehen hatte. So stellte ich mir menschgewordene Unzufriedenheit vor.
„Und daneben sitzt Kathi. Schwere Demenz. Sie kann nur noch drei verschiedene Phrasen."
„Drei?", fragte ich erstaunt.
„Ja, die wirst du bald herausgefunden haben. Und ich sag's dir gleich, Kathi wird deine Hauptaufgabe sein."
Ich stand mit Simone am Gang und schaute durch die Glastür auf die Bewohner des Altersheims. Valentin begann an Kathis Rockärmel zu zupfen. Zuerst sachte, dann immer fester und bald wurden leichte Schläge daraus. Kathi starrte ihn an und lächelte.
„Valentin, hör auf jetzt!", rief Simone und stürmte hinaus. Noch drei weitere Klapse, dann hörte er widerwillig auf. Genervt kam Simone zurück.
„Der Valentin schikaniert die Kathi immer, weil er neidisch auf ihr Zimmer ist. Blick auf die Hauptstraße. Weißt eh, Billa, Trafik, Polizeiposten und so", sagte sie.
Ich wusste gar nichts. Was sollte an dieser Aussicht toll sein? Ich fühlte mich in meiner Überzeugung, alte Leute seien eigenartig, wieder einmal bestätigt.
Simone war zum Tagesablauf übergegangen. Frühstück austeilen, Entertainment für die alten Leute, Ballschubsen, Bilder malen, alte Fotos anschauen – sie erzählte mir das so aufgeregt, als würde sie von Extremsportarten sprechen - Essen eingeben, die Dritten reinigen, Windeln wechseln. Ich musste mich zusammennehmen, um mein Gesicht nicht angewidert zu verziehen. Warum war ich nochmal hier? Ach ja, um Kohle zu verdienen. Um mein bescheidenes Studentenleben ein bisschen aufzubessern. Meine Mutter konnte sich nur schwer zusammennehmen, als ich ihr vom Job im Altersheim erzählte. Sie schnitt komische Grimassen und ein Glucksen drang aus ihrer Kehle. Ich wusste, dass sie höhnisches Gelächter und ein „Du und Altersheim?“ unterdrückte. Aber sie sagte nichts, denn letztendlich waren meine Eltern froh, wenn ich ihnen nicht dauernd auf der Tasche lag.
„Na gut.“ Simones Stimme drängte sich wieder in mein Bewusstsein. „Dann würde ich sagen, du drehst gleich mal eine Runde mit Kathi. Besonders gerne mag sie Treppensteigen.“
Ich blendete die unangenehmen Dinge wie Arsch abwischen und Essensreste von den Prothesen entfernen aus. Eine alte Frau herumführen, die sich ohnehin an nichts erinnern konnte, das hörte sich doch nach einer guten Einnahmequelle an.
„Grüß euch, ich bin die Anja und arbeite in den nächsten Wochen hier."
Herr Schichtinger streckte mir sofort seine schrumpelige Hand entgegen, die ich zögernd ergriff. Er zog mich zu sich und begutachtete meine Wangen. Hastig ließ ich los.
Valentin sagte nichts, Kathi auch nicht.
„Komm, Kathi. Lass uns ein bisschen herumgehen.“ Ich war vorgewarnt, aber trotzdem konnte ich es kaum glauben, dass ich keinerlei Reaktion erhielt. Nur Valentins Mund verzog sich zu einem süffisanten Grinsen und ich hörte ihn etwas murmeln, das verdächtig nach „Närrin“ klang.
Ich packte Kathi am Arm, zog sie hoch und spazierte den Gang auf und ab. Nach ewig langer Zeit ohne ein gesprochenes Wort, in Wahrheit dürften es maximal zwei Minuten gewesen sein, wurde es mir zu blöd. Aber was sollte ich zu einer Dementen schon sagen?
„Wie geht's dir?" Etwas Besseres war mir tatsächlich nicht eingefallen.
„Mhm."
„Jetzt gehen wir mal den Gang zurück."
„Mhm."
„Und jetzt gehen wir wieder nach vorne."
„Mhm."
„Und jetzt gehen wir runter ins Erdgeschoss."
Kathi blieb stehen, nahm meine Hand und lächelte mich an. Irgendwie süß.
„Jaja", sagte sie.
Gut, wir waren bei Phrase zwei angekommen.
„So, jetzt hältst du dich gut am Stiegengeländer fest und dann geht's hinunter." Ich hakte sie bei mir ein.
„Eins, zwei", sagte Kathi.
„Hey, du kannst zählen?" Erstaunt blieb ich stehen.
„Mhm", sagte Kathi.
„Wie weit schaffst du es denn?"
"Mhm."
Wir gingen weiter.
„Eins, zwei, drei."
Bei Stufe vier war wieder Stille eingekehrt.
Kathi saß auf dem Bett und ich versuchte, den Brei aus der Schüssel in ihren Mund zu manövrieren, was nur teilweise gelang. Meistens packte sie meine Hand und riss sie auf die Seite. Das pürierte Naturschnitzel mit Karotten und Kartoffeln verteilte sich auf der Bettwäsche. Genervt verdrehte ich die Augen, das sah nach zusätzlicher Arbeit aus. Ich war vorhin in der Küche, um den Essenswagen zu holen. Das Wasser war mir im Mund zusammengelaufen, als ich dem Koch zuschaute, wie er die saftigen Schweineschnitzel in der Pfanne wendete. Bis er zwei davon rausnahm und in den Mixer steckte. Manfred musste meinen veränderten Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn er fragte amüsiert: „Ist was?“
„Das ist … Essensvergewaltigung.“
Er lachte.
„So etwas macht man für Babys, aber doch nicht für Erwachsene“, ereiferte ich mich weiter.
„Das sieht doch nur anders aus, schmeckt aber genau gleich. Ein paar von den Bewohnern kriegen das eben nicht mehr anders runter.“
Manfred steckte einen Löffel in den Mixer und hielt mir dieses breiige Etwas entgegen.
„Hier, probier mal.“
„Nein, danke.“ Das war echt widerlich.
Eine Stunde später entschied ich für mich, dass püriertes Essen doch nicht so schlimm war, wenn es oben reinkam. Unten raus war es viel, viel schlimmer. Es sah zwar noch ziemlich gleich aus, aber der Gestank, der sich in meine Nase drängte, war bestialisch. Denk an das Geld, denk an das Geld, sagte ich mir in Gedanken vor, während ich die Luft anhielt und gemeinsam mit Simone eine frische Windel einlegte.
„So, jetzt kannst du wieder eine Runde drehen mit ihr“, sagte Simone.
Gerne schnappte ich mir Kathi und wir machten uns auf den Weg durchs Heim.
„Schönes Wetter haben wir heute."
„Mhm."
„Hat dir das Essen geschmeckt?"
„Mhm."
Sie blieb stehen und blickte mich grinsend an. Beinahe stolz. Das konnte doch nicht sein, dass die wirklich gar nichts mehr mitbekam. Ich wollte es wissen.
„Bist du gerne hier?"
„Mhm."
„Sind alle nett zu dir?"
„Mhm."
Alles Fragen, die man durchaus mit Ja beantworten kann. Dann eben auf die harte Tour.
„Bist du blöd?"
„Mhm."
„So richtig bescheuert?"
„Mhm."
„Kannst du was anderes sagen außer mhm?"
„Eins, zwei ..."
Wir waren an den Stufen angekommen. Ich gab auf.
Wieder im zweiten Stock zurück blickte ich auf die große Wanduhr. Zwei Uhr. Noch drei volle Stunden Langeweile und Ekelerregung. Seufzend fragte ich mich, wie ich das noch fünf Wochen aushalten sollte.
Die Veränderung kam schleichend. Ich registrierte erst, was mit mir passiert war, als ich zwei Wochen später am Waschbecken stand, die Prothesen schrubbte und mich nebenbei unterhielt, ohne einen Würgereiz unterdrücken zu müssen. Am Vortag hatte Herr Schichtingers Wange die meine schon berührt, bevor ich zurückschrak. Das Windelwechseln und Leibstuhl entleeren war zwar nach wie vor nicht meine Lieblingstätigkeit, aber ich akzeptierte, dass es zum Alltag mit alten Leuten gehörte.
Ich war nicht mehr die, die alte Menschen schräg von der Seite ansah, wenn sie mit ihren Rollatoren aufmerksamkeitsheischend über die Pflastersteine ratterten. Oder wenn sie aus dem mit Senioren vollgestopften Reisebus stiegen, mit einem Ausdruck von Glückseligkeit im Gesicht, als wäre diese Gruppenreise das schönste Erlebnis, das sie je hatten. Oder wenn sie ihre Blähungen nicht unterdrücken konnten oder dich zurechtweisen möchten, als wüssten sie, wie man es besser macht. Ich zählte alte Menschen nicht mehr zu einer anderen Spezies, die nicht zum Rest unserer Gesellschaft gehörte. Nein, so dachte ich nicht mehr. Ich saß im Zimmer einer über Neunzigjährigen und versuchte den Schmerz im Hals hinunterzuschlucken, als sie mir von ihrem Ehemann erzählte, der im Zweiten Weltkrieg gefallen war. Von ihren drei Kindern, die sie alle überlebt hatte. „Alle tot“, sagte sie nüchtern, als würde das zum Leben gehören. Und ich spürte kein Missfallen mehr, sondern Achtung.
Dabei vergaß ich für eine Weile auf Kathi, die ich auf einen Stuhl im Gang verfrachtet hatte. Als ich dort hinkam, war sie weg.
Nachdem ich den gesamten zweiten Stock durchsucht hatte, lief ich nach unten.
„Valentin, hast du Kathi gesehen?"
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, wuchtete seinen massigen Körper im Rollstuhl hin und her, als würde er es sich gemütlich machen, stieß den Rauch aus, direkt in mein Gesicht, verzog den Mund zu einem dreckigen Lächeln und sagte: „Nein." Ich wusste, dass er log.
„Valentin, bitte!"
Er grinste weiter, bevor ein hässlicher Hustenanfall das Grinsen beendete. Ich wollte gar nicht mit ansehen, was da alles hochkam und eilte zum Ausgang, als er mir nachrief: „Hey, du! Warte!"
Erwartungsvoll blieb ich stehen.
„Kannst du mir eine Leberkässemmel mitbringen?"
Ich fand Kathi am Tor zum Garten. Der Anblick hatte beinahe etwas Andächtiges. Sie stand da, in ihrem moosgrünen, gestrickten Rock und ihren Strohpantoffeln, mitten auf dem schneebedeckten Gehweg, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und lächelte mich an, während sich weiße Atemwölkchen vor ihrem Mund bildeten. Ich hätte sie knuddeln können.
„Ist dir kalt?"
„Mhm."
„Komm, gehen wir schnell rein ins Warme."
„Mhm."
„Wo wolltest du denn hin?"
„Mhm."
Valentin kramte in der Marlboroschachtel und würdigte uns keines Blickes, er ahnte wohl, dass ich ohne Leberkässemmel zurückgekehrt war.
Wir nahmen wieder die Treppen in den zweiten Stock – „Eins, zwei, drei." - doch als wir die Hälfte geschafft hatten, sagte Kathi plötzlich: „Ich will heim."
Verdattert blieb ich stehen und riss sie fast von der nächsten Stufe.
„Was hast du gerade gesagt?", fragte ich aufgebracht.
Kathi blickte mich lange an, packte meine Hände, lächelte ihr Knuddelbärlächeln und sagte: „Mhm."
„Kathi hat gerade gesagt Ich will heim.", erzählte ich Simone aufgeregt.
„Nein!“
„Doch, ehrlich. Hast du das auch noch nie gehört? "
„Nicht, dass ich wüsste."
Ich wurde nachdenklich.
„Bekommt sie eigentlich nie Besuch?", fragte ich.
„Seit ich hier bin, kein einziges Mal. Und das sind auch schon mehr als fünf Jahre."
„Schon traurig. Hat die niemanden? Oder wohnen die so weit weg?"
„Ach was, das ist die Mutter vom Leo Saller, weißt eh, vom Bankchef."
„Was?"
„Ja, Tatsache."
„Dann war ihr Enkel, der Peter, sogar mit mir in der Hauptschule."
Wir schwiegen.
„Aber warum kommt da nie jemand?", fragte ich erneut.
„Die werden schon ihre Gründe haben“, meinte Simone.
„Schau dir doch die Kathi an", sagte ich.
Wir schauten zum Tisch am Gang, wo Kathi saß und uns zulächelte. Wir grinsten.
„Die hat doch so ein sonniges Gemüt, die muss man doch gern haben", fuhr ich fort.
„Vielleicht denken die sich, ein Besuch würde eh nichts bringen“, mutmaßte Simone.
„Wahrscheinlich“, sagte ich und ließ es dabei bleiben.
Die nächsten Tage schaffte ich es nicht, Kathi aus dem Bett zu bewegen. Sobald ich ihr auf die Beine half, knickten diese ein und mit einem trotzigen Gesichtsausdruck ließ sie sich wieder auf das Bett fallen. Ich vermisste ihr Lächeln und glaubte zu spüren, dass sie sich nach ihrer Familie sehnte.
„Das ist so schlimm. Die bekommt keinen Besuch, nie! Kannst du dir das vorstellen?"
Die drei Weißweinspritzer hatten meine Zunge gelockert und tapfer kämpfte meine Stimme gegen Micky Krauses Zehn nackte Frisösen und eine Gruppe grölender Holländer an.
Marina, meine Freundin, saß neben mir in der Après-Ski-Hütte und trank schluckweise ihr Bier. Schon den ganzen Tag erzählte ich ihr vom Altersheim, wobei meine Worte immer um dasselbe Thema kreisten: Kathi.
„Das geht dich doch eigentlich nichts an, oder?", meinte sie schließlich.
„Ich weiß. Aber du musst dir vorstellen, seit Jahren sagt die nichts mehr und dann plötzlich sagt sie, sie will heim. Das kam mir vor wie ein Wunsch."
„Interpretierst du da nicht zu viel hinein?"
„Und wennschon, die ist so lieb, echt. Die muss man mögen."
„Seit wann kümmert dich eigentlich das Schicksal alter Leute? Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie du letztes Jahr in der Straßenbahn einen verstauchten Fuß vorgetäuscht hast, als dich eine alte Frau um deinen Sitzplatz gebeten hat.“
„Musst du mich daran erinnern?“ Ich schämte mich für diese Aktion und vor allem dafür, dass ich das tatsächlich einmal witzig gefunden hatte.
„Schau mal, wer da gerade reinkommt“, sagte Marina.
Peter.
„Hallo Peter."
„Hi Anja, lange nicht mehr gesehen. Wie geht's dir?"
Er drückte mich an sich und schmatzte mir ein Küsschen links und rechts auf die Wange. Unwillkürlich dachte ich an Herrn Schichtinger und war versucht, mir mit dem Ärmel über die Wange zu streichen.
„Ganz gut. Dir?"
„Auch, danke. Du hast auch Ferien, oder? Bist du immer mit dem Board unterwegs?"
Das Gespräch verlief ganz nach meinem Geschmack.
„Nur am Wochenende. Ich arbeite nämlich im Altersheim."
Ich hoffte, er würde nun so etwas sagen wie: „Oh, da ist ja meine Oma, die muss ich unbedingt wieder mal besuchen!", aber nichts dergleichen kam. Er machte vielmehr ein Gesicht, als wäre das Wort Altersheim ein Startschuss für die langweiligste Geschichte, die er je gehört hatte.
„Deine Oma ist auch dort", versuchte ich es weiter.
Fragend blickte er mich an, dann: „Ach, du meinst Großmutter. Stimmt."
Großmutter? Wer nannte seine Oma heutzutage noch Großmutter?
„Ja, die Mutter deines Vaters, oder?“, hakte ich nach.
„Ha! Mein Vater hat keine Mutter mehr.“
„Was? Aber ich dachte, Kathi …“
Ich hielt inne, denn ich kapierte. „Oh.“
„Ich hab die als Kind ein paar Mal gesehen, da wohnte sie noch im Nebenhaus. Aber meine Eltern wollten nicht, dass ich Kontakt zu ihr aufnahm. Und so wie es aussah, war sie daran auch nicht interessiert.“
„Aber warum?“, brach es aus mir hervor. Ich wusste, es ging mich nichts an, aber Peter war schon immer redselig und er schien die nötige Distanz zu seiner Großmutter zu haben, um unbeirrt fortzufahren.
„Hast du schon mal die Narbe meines Vaters über dem Auge gesehen?“
Jetzt, wo er es sagte, war mir diese in der Tat schon aufgefallen, wenn sein Vater mir am Schalter gegenüberstand.
„Ja“, sagte ich.
„Die hat er von seiner Mutter, als sie wieder mal ausgezuckt ist. Hat ihn an den Haaren gepackt und gegen den Küchentisch geknallt.“
„Was?“
Sprach er gerade von derselben Kathi wie ich? Von meinem Knuddelbärchen?
„Ja, und es ist ein Glück, dass nur diese Narbe geblieben ist. Diese Gewaltausbrüche, die gehörten zum Alltag. Ich sag’s dir, die hat ihren eigenen Sohn gehasst wie die Pest.“
„Aber warum?“, fragte ich wieder.
„Das weiß keiner. Die war einfach so. Vielleicht einfach unzufrieden mit sich selbst, mit ihrem Leben.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich fühlte mich wie vor den Kopf gestoßen.
„Komm, ich bestell uns einen Schnaps und du versprichst mir, dass wir jetzt nicht mehr über die Alte reden“, sagte Peter schließlich und gab dem Kellner ein Handzeichen.
Aus dem einen Schnaps wurden schließlich vier. Oder fünf. Ich wusste es nicht mehr, ich wusste nur, dass ich sie brauchte.
Am Montag, als ich ins Altersheim kam, saß Valentin schon in der Eingangshalle. Etwas war anders an ihm. Ich blickte genauer hin und entdeckte, dass sein dreckiges Grinsen einem strahlenden Lächeln gewichen war, das nach echter Freude aussah.
"Wunderschönen guten Morgen!", sagte er. Fast wollte ich fragen, ob er falsche Tabletten bekommen hatte, aber ich war zu perplex und antwortete nur: "Guten Morgen!"
Im zweiten Stock angekommen sah ich den Doktor im Gang stehen, der sich mit dem Pfarrer unterhielt. Die Tür zu Kathis Zimmer stand offen. Nein! Ich eilte hinein und lief Simone in die Arme.
„Ist sie …?“, sprudelte es aus mir hervor.
„Nein. Aber sie ist schon sehr schwach. Es wird nicht mehr lange dauern.“
Wir standen an ihrem Bett. Sie lag da, ruhig, zufrieden.
„Die Familie weiß Bescheid“, sagte Simone.
„Kommt jemand?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
„Ich glaube nicht. Schon unglaublich, oder?“
„Die werden wohl ihre Gründe haben“, sagte ich.
„Bestimmt.“
Kathi lag da, die Augen geschlossen, das Gesicht ausdruckslos. Ich starrte auf ihren Brustkorb, bildete mir ein, keine Bewegung zu sehen. Ich dachte daran, was Peter mir erzählt hatte. Diese Kathi, wie sie hier friedlich vor mir lag, die konnte doch nie und nimmer eine derart brutale Frau gewesen sein. Die Frage nach dem Warum stellte ich mir seit Samstagnacht immer und immer wieder. Was war ihr selber widerfahren, dass sie glaubte, Gewalt sei der letzte Ausweg? Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen.
„Ich glaube, du kümmerst dich besser um die anderen“, sagte Simone. Ich nickte.
Ich trottete in die Eingangshalle hinab und ertappte mich dabei, wie ich die Treppen zählte. Ich ließ mich neben Valentin auf den Stuhl fallen.
„Ist sie tot?“, fragte er.
„Nein.“
„Kann ja nimmer lange dauern, wenn der Pfarrer schon da war.“
Wir saßen da und schwiegen.
„Valentin?“, fragte ich.
Ich nahm sein Schnauben als Aufforderung, weiterzusprechen.
„Warum bist du eigentlich so, wie du bist?“
Das Schnauben wurde lauter und ich war mir ziemlich sicher, dass ich entweder gar keine oder eine patzige Antwort erwarten konnte.
„Weißt du“, begann Valentin nach einer langen Pause, „ich könnte jetzt sagen, ich bin so geworden, weil mich mein Vater regelmäßig verdroschen und blutig gehauen hat. Weil meine Mutter dabei nur zugesehen hat und meinte, das müsse so sein. Weil mein Lehrmeister mich bis zum Umfallen schuften hat lassen und mir einen Scheißdreck dafür bezahlt hat. Weil mein Kumpel mir meine Frau ausgespannt hat. Weil sie abgehauen ist und mir nie Kinder geschenkt hat.“
Ich saß mit offenem Mund da und starrte ihn an. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er sich mir öffnen würde und es machte sich etwas in mir breit, das ich nie glaubte, es für jemandem wie Valentin empfinden zu können: Mitleid. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
„Aber im Grunde“, fuhr Valentin fort, „ bin ich wohl selbst verantwortlich für das, was aus mir geworden ist. Anstatt in Selbstmitleid zu zerfließen hätte ich mein Leben in die Hand nehmen und etwas daran ändern können. Aber jetzt, jetzt ist es zu spät dafür.“
Er begann in seiner Zigarettenschachtel zu kramen.
„Ich hab‘ Hunger. Bring mir was zu essen!“
Ich blieb sitzen und wartete auf ein „Bitte“, ich wollte den Valentin noch einmal sehen, der er gerade für ein paar Sekunden war.
„Wird’s bald?“
Ich stand auf und ging in die Küche.