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Vergessen
Ich liege in meinem viel zu großen Bett und kann nicht schlafen. Wieder einmal nicht, wie so unzählige Male seitdem ich die Nachricht erhalten habe. Der Sekundenzeiger meines Weckers bewegt sich mit kriechender Langsamkeit und sein Ticken ist das Einzige das die erdrückende Stille durchbricht. Ich schaue auf deine Seite wo dein T-Shirt liegt. Seit sechs Wochen, seitdem du fort bist, habe ich es nicht über mich gebracht es wegzuräumen. Ich lege mein Gesicht auf das Brustteil, so wie ich oft auf deiner Brust geschlafen habe. Doch es riecht nicht mehr nach dir, vielmehr nach alter Wäsche und unzähligen Tränen. Auch jetzt kämpfe ich wieder mit mir, versuche die Tränen hinter meinen brennenden Augen zurückzuhalten um nicht ein Opfer der Verzweiflung zu werden.
Die Einsamkeit droht mich zu ersticken. Um mich abzulenken schalte ich den Fernseher an und die bunte Glitzerwelt des Home Order Television flimmert vor meinen Augen über die Mattscheibe. Ein rustikaler Mittfünfziger in Karo-Flanell versucht von den Vorteilen seiner Kreissäge zu überzeugen. Ich muß grinsen. Die Kreissäge erinnert mich an damals, als du versucht hast ein Regal für mich zu bauen. Nach zwei Tagen hattest du ein wackliges Gebilde zusammengezimmert, das nur mit Müh und Not meine Büchersammlung halten konnte. Nachdem unsere Katze allerdings beschlossen hatte, das Regal zu erkunden brach es unter den zusätzlichen vier Kilos leider zusammen. Ich konnte dich nur mit Mühe davon abhalten, die Katze an das nächste China-Restaurant zu verkaufen. Wieviele Erinnerungen verbinden uns doch, wieviel haben wir gemeinsam durchgemacht. All die Reisen, die vielen Erlebnisse, die alltäglichen Probleme und die schweren Sorgen. Alles haben wir in den 15 Jahren geteilt seitdem wir uns damals in München getroffen haben, als ich dich fast mit meinem Fahrrad über den Haufen gefahren habe. Seitdem hast du soviel Farbe, Lachen und Lebendigkeit in mein Leben gebracht, daß es mir jetzt ohne dich zehnmal einsamer, grauer und trauriger vorkommt.
Ich schalte den Fernseher aus. Nichts kann mich von dir ablenken denn alles erinnert mich an dich. Die Vorhänge, die im Nachtwind wehen, haben wir zusammen ausgesucht ebenso wie jedes Möbelstück in diesem Zimmer. Es war immer unser Lieblingsraum und wir haben aus diesem einfachen Zimmer mit den Jahren eine gemütliche Insel für uns zwei geschaffen. Jetzt sind es nur noch tote Gegenstände für mich. Ich würge den Kloß hinunter der sich in meinem Hals ausbreitet und greife nach den Schlaftabletten. Ich schlucke zwei und spüre dankbar wie ich langsam in einen Dämmerzustand verfalle. Am nächsten Morgen wache ich auf und fühle mich wie gerädert. Nicht einmal eine kalte Dusche bringt meine Lebensgeister zurück. Ich schaue mich im Spiegel an und sehe nichts mehr von der lebenslustigen, attraktiven Zweiunddreißigjährigen die ich noch vor ein paar Monaten gewesen bin. Meine Augen liegen tief in den Höhlen und meine Augenschatten sind nicht zu übersehen. Ich bin blaß wie ein Geist. Das bin ich nicht! Das kann ich nicht sein! Wo ist mein richtiges Selbst? Fortgegangen, mit dir. Ich weiß, daß ich weiterleben muß, daß ich mein Leben nicht von einem anderen Menschen abhängig machen sollte. Aber wie kann ich das, wo mich doch jeder Atemzug so unendlich viel Überwindung kostet?
Mit einem letzten resignierenden Blick in den Spiegel schlüpfe ich in mein Kleid und versuche, mir mit Make-up eine menschliche Maske zu schaffen. Zum Frühstück würge ich eine Tasse Kaffee hinunter und mache mich dann, wie jeden Morgen, auf den Weg. Nach einer Fahrt von 20 Minuten taucht das verhasste weiße Gebäude vor mir auf. Ich stelle den Wagen ab und gehe an der Anmeldung vorbei. "Guten Morgen Frau Wagner, schönes Wetter heute nicht?" kommt es von der netten jungen Rezeptionistin. Ich bringe so etwas wie ein Lächeln zustande und gehe weiter durch die langgezogenen Gänge bis ich vor einer gelben Tür ankomme. Ich atme ein und versuche meinen rebellierenden Magen zu beruhigen. Dann drücke ich die Türklinke und öffne langsam die Tür. Jetzt kommt das wovor es mir jeden Tag graut.
Ich blicke in deine Augen. Diese wunderschönen Augen mit den silbernen Sprenkeln in die ich mich auf Anhieb verliebt habe weil sie immer soviel Wärme ausstrahlten. Doch jetzt schauen sie mich verständnislos an. Ich würde dich am liebsten unarmen, doch ich möchte dich nicht erschrecken. Ich sage: "Guten Morgen", und hoffe, daß meine Stimme nicht zittert. Du lächelst mich an: "Guten Morgen, sind Sie neu hier? Sie kommen mir bekannt vor. Könnte ich bitte noch etwas Tee haben Schwester?"
Ach Schatz …