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Vergangenheit
Es hatte zu schneien begonnen. Verspielt tanzende Schneeflocken in der Dämmerung.
Lea stand unschlüssig vor Marcus Haus und überlegte, ob sie überhaupt die Klingel drücken sollte. Ihre Hand hob sich wie von selbst, zitterte.
Als sie seine Schritte hörte, schloss sie die Augen und atmete tief ein. Jetzt nur nicht davonlaufen.
Er öffnete die Tür und sie standen sich Auge in Auge gegenüber, starrten sich an. „Du hier?“, fragte er schließlich mit brüchiger Stimme. Lea sah das Begehren in seinen Augen, diese seltsame unerfüllte Leidenschaft, die sie ängstigte und gleichzeitig faszinierte. „Ja“, antwortete sie schlicht und sah ihn an. Sie mochte sein Gesicht, das gleichzeitig so hässlich und so interessant war. Vollkommen in Unvollkommenheit. Er hatte einen vor Jahren statt gefundenen - ziemlich schlimmen - Autounfall gehabt.
Persönlichkeit – sein Gesicht war vor dem Unfall schon voller Leben gewesen, aber auch mit den roten Narben, die sich über die linke Gesichtshälfte zogen, hatte sich daran nichts geändert. Seine Augen. So einfühlsam, so sanft. Unergründlich.
„Wenn du jetzt reinkommst, kann ich für nichts garantieren“, sagte Marcus. „Ich hab es satt. Ich kann nicht mehr. Du bist das Gift in meinen Adern. Ausgeblutet fühle ich mich. Erledigt. Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, ob ich dich nun lieben oder hassen soll.“
„Dessen bin ich mir bewusst“, sagte Lea ruhig, und er gab ihr den Weg frei, schloss nach ihrem Eintreten die Haustür. Sie gingen ins Wohnzimmer. Auf dem Tischchen stand eine halbleere Weinflasche.
„Du solltest nicht alleine trinken“, sagte Lea.
„Du wirst ihn nie verlassen“, murmelte Marcus resigniert.
„Ich werde ihn nie verlassen“, bestätigte Lea. „Er ist meine große Liebe, wir sind schon seit Ewigkeiten unseren Lebensweg gemeinsam gegangen, wir werden zusammen alt werden. Und all die Jahre hast du uns begleitet. Muss es jetzt so enden?“
„Weiß Jack, dass du heute hier bei mir bist?“, fragte Marcus. „Natürlich“, antwortete Lea.
„Er ist mein Freund ... das macht es nicht leichter für mich ... die Frau meines Freundes zu begehren“, sagte Marcus und setzte die halb geleerte Weinflasche an seine Lippen.
„Ich habe dir nie Hoffnungen gemacht“, sagte Lea leise. „Das stimmt“, sagte Marcus höhnisch, „aber erzähl mir bloß nicht, dass es dir nicht gefällt, dass ich mich so nach dir verzehre“.
„Manchmal gefällt es mir, und manchmal macht es mir Angst“, sagte Lea.
„Du und deine verdammte Aufrichtigkeit“, sagte Marcus bitter.
„So kann das einfach nicht weitergehen. Das ist ungesund ... für dich, aber auch für Jack und für mich“, sagte Lea eindringlich. „Wieso kann es nicht einfach wieder so sein wie früher? Wir drei ... unbeschwert und unbelastet ... weißt du noch?“
„Wie könnte ich es jemals vergessen. Aber so kann es niemals mehr sein. Das gehört längst der Vergangenheit an“, sagte Marcus und starrte vor sich hin.
Auch Lea versank in Gedanken. Sie beschwor Bilder aus längst vergangenen Tagen herauf.
Eine unvergleichliche Freundschaft hatten sie gehabt, und auch wenn die Liebe zueinander nicht verschwunden war, so hatte sich das Verhältnis zwischen Jack und Marcus doch merklich abgekühlt. Aus Freunden waren Rivalen geworden.
Wo war das unvergleichliche Dreiergespann geblieben, das miteinander durch Pech und Schwefel ging? Als Marcus ihr gestand, dass er sich in sie verliebt hatte, hatte sich Lea völlig verwirrt zurück gezogen. Sie kannten sich nun schon seit über zehn Jahren und nie war ihr in den Sinn gekommen, dass Marcus seine freundschaftlichen Gefühle für sie in diese Richtung lenken würde.
„Du weißt, dass ich dich liebe“, sagte Lea in die Stille hinein, „du bist mein Freund.“
„Das bin ich“, antwortete Marcus bitter, „aber das reicht mir nicht. Ich will mehr. Aber ich weiß, dass meine Hoffnungen in dieser Hinsicht unbefriedigt bleiben werden. Wieso bist du überhaupt gekommen?“
„Weil ich dich sehen wollte“, sagte Lea, „das kann doch alles nicht sein. Das ist doch absurd. Ich will, dass alles wieder so wird wie früher. Unsere Freundschaft, unsere Unbekümmertheit. Ich weigere mich zu akzeptieren, dass sich diese förmlich in Luft auflöst!“
„Die Welt dreht sich weiter“, sagte Marcus sanft, „du kannst nicht erwarten, dass die Zeit stehen bleibt. Menschen verändern sich. Wenn du das nicht begreifst, bist du naiv.“
Marcus stand auf und holte eine neue Flasche Wein. „Komm, trink was mit mir, Lea“, sagte er, „lass uns auf vergangene Zeiten anstoßen.“
Lea nahm den ihr angebotenen Drink und nippte daran. Die rote Flüssigkeit des Weines wirkte beruhigend. Das flackernde Kaminfeuer spiegelte sich im Glas.
Wärmende, verspielte Schattenspiele.
Sie tranken und schwiegen. „Du weißt noch, was ich anfangs zu dir sagte?“, unterbrach Marcus schließlich die Stille.
Lea wehrte sich nicht besonders, als Marcus über sie herfiel. Sie spürte nichts. Keine Spur von Gefühl, als er den Reissverschluss ihrer Hose auseinander riss. Und sie spürte auch nichts, als er in sie eindrang. Lea sah sein Gesicht über ihr aufragen – sich keuchend auf und ab bewegend. Auf und ab. Auf und ab. Lea spürte nichts. Sie begab sich mit den Augen auf eine Reise durch die Narbenlandschaft von Marcus linker Gesichtshälfte. Ihr Körper blieb stumm und unbeteiligt, aber ihre Seele schrie ungehört auf.
„Ja, tu was du willst, nur lass es wieder so werden wie früher! Ich sehne mich nach unseren gemeinsamen Ausflügen, nach unseren Gesprächen, nach unserer Unbeschwertheit! Lass uns bei Wind und Wetter wieder über unseren See fahren, wir drei vereint. Weißt du noch, wie wir uns gemeinsam gefürchtet haben, als wir durch das Waldstück geradelt sind? Ist das wirklich über zwölf Jahre her? Ich will die Zeit zurückdrehen. Wir drei – immer im Mittelpunkt des Geschehens. Unsere Magie. Diese Fröhlichkeit, diese Schlagfertigkeit, auch die gemeinsam verbrachten stillen Stunden. Du hast damals immer Clever&Smart gelesen, weißt du noch? Sogar im Zelt, mit deiner Taschenlampe. Und als wir älter wurden! Wir haben uns nie aus den Augen verloren. Soll das jetzt alles zu Ende sein? Ich verstehe es nicht. Bitte. Du tust mir weh. Ich liebe dich. Bist du mir böse, weil ich dir immer wieder gesagt habe, dass gerade du als Arzt aufpassen solltest, nicht zuviel zu trinken? Verantwortung! Ich wollte nie den Moralapostel raushängen lassen, es tut mir leid. Ich mache mir Sorgen. Um dich. Es zerbricht, endgültig. Denkst du überhaupt noch an unsere nächtelang geführten Gespräche? Ich kann unsere leeren Colaflaschen und Chipstüten noch vor mir sehen, jeder von uns in einem Morgenmantel gehüllt. Dann aneinander gekuschelt, im Schlaf.
Später wurden die Colaflaschen und Chipstüten gegen Wein und Käse ausgetauscht. Ist das wichtig? Ich liebe dich! Ich verstehe dich nicht. Warum musst du das jetzt tun? Gut, ich bin naiv. Ich glaubte, dass unsere Freundschaft noch zu retten ist. Jetzt glaub ich es nicht mehr. Bin ich etwa schuld, weil ich dich besucht habe? Und deine einleitenden Worte anders interpretiert habe? Weißt du eigentlich, wie ich mich jetzt fühle?“
Als Marcus fertig war, strich er zitternd über seinen wirren Haarschopf. „Fällt das jetzt unter Vergewaltigung?“, fragte er mit rauher Stimme. „Wenn dem so wäre, tut es mir leid, dir sagen zu müssen, dass es mir nicht leid tut.“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht“, sagte Lea.
„Verachtest du mich jetzt?“, fragte Marcus mit belegter Stimme.
„Auch das weiß ich nicht. Keine Ahnung,“, murmelte Lea.
Sie sammelte ihre Kleidung auf, zog ihren Mantel an und ging.
Auf dem Nachhauseweg wurde sie von Schneeflocken begleitet.