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Vergänglichkeit
Eva sitzt gemütlich im dämmrigen Zimmer. Vor sich hat sie die Tastatur, welche ihr ermöglicht, die Gedanken überzuleiten zu einem Bild aus Buchstaben, aus Worten. Der Kaffee ist ohnehin noch ein wenig heiß und sie schiebt die Tasse zurück. Sie denkt nach in der Behaglichkeit des stillen Zimmers, über das Wort das sich ihr in einem Gespräch genähert hat. Sie hatte damals den Pinsel genommen und die Farben von der Palette genommen und auf der Leinwand verteilt. Viele Gedanken sind ihr dabei durch den Kopf gegangen und jetzt hat sie den Wunsch sie auch niederzuschreiben. Die Finger gleiten über die Tasten, ein Wort entsteht: Vergänglichkeit ....
Sie schreibt, wir sind voll Energie und von Lebensfreude erfüllt, unverändert nach den vielen Jahren und dennoch gibt es Momente in denen wir spüren, dass die Kraft anders geworden ist. Sie verteilt sich neu in unserem Körper, in unserem Geist, verlagert den Schwerpunkt dorthin wo Kraft für Ausdauer und Durchhalten oder aber für neue Aufbrüche benötigt wird.
Wir blicken aus unseren Augen, und sehen wir nicht wie vor Jahren mit dem gleichen Interesse, mit der gleichen Intensität aus ihnen hinaus in eine Welt voll Wunder und Farben? Aber seit geraumer Zeit doch auch im Bewusstsein, dass es ebendort auch Einsamkeiten und Traurigkeit gibt? Lebensfreude und schöne Erlebnisse haben uns wärmer, Schicksalschläge und Bitterkeit kälter werden lassen. Der Blick wird frei auf die Vergänglichkeit dessen was ist.
Es gibt Zeiten da treiben wir geschützt in einem kleinen Boot über stille Wasser. Das Leben ist dann leicht und luftig, ohne Gedanken an Unzulänglichkeiten gibt es uns, was immer wir brauchen. Alles erscheint unbegrenzt und lässt die Sehnsucht nach Unendlichkeit und Ewigkeit in uns erwachen, lässt uns maßlos den Anspruch an das Leben stellen und die Leidenschaften werden bedingungslos eingefordert und gelebt. Dies sind Momente, Augenblicke des Glücklichseins, der Zärtlichkeit und des besinnungslosen Wahnsinns, hervorgerufen durch Liebe und Gefühlsausbruch. Doch das Leben lehrt uns, dass sie nicht ewig währen, jene Momente.
Denn immer sind wir auch gezwungen, Ausgleich zuzulassen. Letztlich werden wir wieder in unsere Schranken gewiesen durch Dinge die nicht vorhersehbar sind. Manchmal haben sie sich angekündigt um dann ausharrend, ignoriert von uns, abzuwarten. Sie haben Raum genommen im Laufe der Zeit um dann die wunderbaren Momente des Angekommenseins wieder der Vergänglichkeit zuzuführen.
Die anfangs noch ausschließlich lebhaften, frischen Farben ändern sich, werden erdverbundener. Die Leichtigkeit des hellen, grünen Blattes wird durch Regen und den ersten Frost zur Schwere der Last gezwungen. Der Mensch entwickelt in diesem Kreislauf der Natur eine wunderbare Strategie. Gleich schweren rubinroten Samtvorhängen legt er das Vergessen über jene Dinge, derer er sich nicht mehr erinnern will und lässt dort einsehbare Zwischenräume offen, wo er hinsehen möchte, erhalten will – nicht zerstören, sondern Augenblicke beschützen möchte vor dem Verlust der Illusion.
Einem Raster gleich schaut der Mensch nun zurück auf sein Dasein, hebt bebend in der Erinnerung die Dinge heraus, die er nicht vergessen möchte. Das was Schmerz und Schuld, vielleicht sogar Hass und Verrat bedeuten würde, das gibt er dann gerne preis – der Vergänglichkeit.
Und dann, irgendwann, merkt er, dass er sich etwas vorgemacht hat, versucht hat, es sich unbewusst leicht zu machen. Aber er hat sich dadurch nur selbst ausgetrickst, nicht gelernt die Wahrheit zu sehen, sie anzuerkennen in ihrer ganzen Tragweite. Irgendwann holt einen der Augenblick ein, in dem wir hinsehen müssen auf alles, die dichten und schweren Vorhänge werden zur Seite gezogen um das ganze Bild zu erkennen, in seiner ganzen Ausdehnung, nicht nur ausschnittsweise, und zu akzeptieren was da war und ist.
Das hat viel aufgewirbelten Staub zu Folge, aber der setzt sich wieder, und die Aussicht wird klar und das Licht dringt endlich von außen herein in den Raum. Und wir nehmen die Möglichkeit wahr, den Blick einmal von außen auch nach innen zu wenden, die Perspektive zu wechseln. Und so trägt uns Erkenntnis um Erkenntnis unseren Weg weiter bis wir eines Tages die Brücke überschreiten werden und den Begriff Vergänglichkeit vielleicht völlig neu erfahren dürfen.
Eva lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse. Ein schaler Geschmack macht sich breit in ihrem Mund. Der Kaffee ist kaum noch lauwarm und hat eine graubraune Farbe angenommen. Sie grübelt noch ein wenig nach über die Vergänglichkeit dieser Gedanken, die in Wochen oder Jahren vielleicht von ihr selbst längst wieder in Frage gestellt sind.
Dann liest sie den Text noch zwei- dreimal durch, bessert hier und da Kleinigkeiten aus, übersieht andere, und lässt ihren Mauszeiger die Taste „veröffentlichen“ niederdrücken.