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Verbrannte Erde
Der Name auf dem Ortsschild wirkt auf mich wie eine Warnung.
Ich habe mir immer eingeredet, dass diese Stadt nur noch in meiner Erinnerung existiert, sie sich vielleicht nach meiner "Flucht" in Luft aufgelöst, oder durch einen Erdrutsch einen großen Krater hinterlassen hat. Ausgelöscht, inklusive meiner Spuren von verbrannter Erde. Ich stehe mit meinem Wagen an der ersten roten Ampel. Die ist genauso real, wie der Kiosk zu meiner Rechten. Dort kaufte ich als Kind immer Wassereis für zehn Pfennig das Stück. Auch die Penner davor sind immer noch da, nur mit anderen Gesichtern. Ich fahre weiter. Links und rechts von mir formt jeder Baum, jede einzelne Straßenecke, ein verloren geglaubtes Bild der Erinnerung.
In meinem Hotelzimmer angekommen, ziehe ich die Gardinen beiseite und öffne die Balkontür. Frische Ostseeluft dringt in meine Lungen.
Ich schaue über den Strand. Vereinzelt sieht man noch verwaiste Strandkörbe. Auf der Promenade laufen einige Leute mit ihren Hunden, andere zerkratzen mit ihren Stöcken die Pflastersteine und tun so, als würden sie etwas von Nordic Walking verstehen.
Auf einer Bank sitzen zwei ältere Männer und unterhalten sich auf Plattdeutsch. Ich erinnere mich, wie ich im Alter von 16 Jahren bis in die frühen Morgenstunden im Sand lag. Schlafend, mit den Haaren in meiner eigenen Kotze. Das Erste, was ich sah, als ich aufwachte, waren die Fußspuren von dem namenlosen Mädchen, das mich begleitet hatte.
Ich lächle, als ich den alten Wassersteg sehe. Ich bin überrascht, dass es ihn noch gibt. Er war damals schon instabil wie eine Hängebrücke. Dort verbrachte ich viele Sommerabende mit meinen Freunden Lars und Arne. Wir redeten dummes Zeug, lachten viel und pinkelten in das Wasser. Als Steffi uns von dort einmal abholte und wir ihr auf dem Steg entgegen gehen wollten, stolperten wir über unsere Bierflaschen. Sie fielen um wie Kegel.
»Ihr seit ja schon wieder gut drauf«, sagte Steffi.
Als sie mich vor knapp acht Monaten auf Facebook das erste Mal anschrieb, war das eine Überraschung für mich. Sie war geschieden und ihr Sohn hatte eine Lehre als Bankkaufmann begonnen. Steffi arbeitete als Bürokraft bei einem Rechtsanwalt. Ihre Geschichten über die alten Zeiten klangen immer heller und fröhlicher, als ich sie in Erinnerung hatte.
Und immer wieder fragte sie:
»Wann kommst du mal vorbei?«
In die Stadt zurückzukehren, in dieses Museum des Schmerzes, konnte ich mit meinem Inneren nicht vereinbaren. Ich bot ihr an mich in Hamburg zu besuchen, aber sie wollte sich unbedingt in unserem Heimatort treffen. Wegen der Nostalgie und so, schrieb sie.
Aber ich zögerte sehr lange, zu lange und dachte mir immer neue Ausreden aus.
Irgendwie sollte es damals nicht sein mit uns. Wir standen mal in der dunkelsten Ecke der Disco und knutschten. Der Boden klebrig von verschüttetem Bier und ihre Haare rochen nach billigem Spray. An dem Montag darauf in der Schule tat ich so, als wäre nichts gewesen und wich ihrem traurigen Blick aus.
Oder sie kam manchmal zu mir. In meinem Zimmer spielte ich ihr meine Depeche Mode Platten vor und schielte dabei auf ihre Dinger. Ich spürte, dass sie in mich verliebt war, aber die Gefühle für sie lagen verschüttet unter meinem Selbsthass.
Ich schleiche durch die Hotellobby, überquere den Parkplatz und gehe mit schnellen Schritten die Promenade entlang.
Den Blicken der Leute weiche ich aus. Ich gehe am "Kreta" vorbei. Steffi und ich waren dort damals einige Male Essen und die Summe für Bier und Metaxa machte immer den Löwenanteil meiner Rechnungen aus.
»Du trinkst zu viel.« Diesen Satz sagte Steffi sehr oft zu mir. Fürsorglich klang sie dabei, aber das fiel mir damals nicht auf.
»Ach«, sagte ich. »Ist doch halb so wild. Andere saufen viel mehr als ich.«
Im Sommer 1991 hörte ich ein Hupkonzert unten im Hof. Steffi stieg aus einem alten dunkelgrünen VW- Käfer aus und winkte.
Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie mir ihren Führerschein zeigte. An dem Tag fuhren wir kreuz und quer durch die Stadt und am Ende war der Tank halb leer. Ihr Wagen war fortan immer unser Konferenzraum für Gespräche über Beziehungsprobleme, miese Chefs und den neuesten Klatsch. An einem unserer letzten Abende parkten wir direkt am Wasser und hörten Musik, während ich eine geleerte Bierdose nach der anderen aus dem Seitenfenster warf.
»Lass den Scheiß«, sagte sie.
Ich rülpste und grinste sie nur an.
»Du bist so eine Pottsau«, lächelte sie. »Echt jetzt.«
In der Nacht bevor ich abhaute, kritzelte ich ihr bekifft noch einen Abschiedsbrief, den ich ihr hinter die Windschutzscheibe klemmen wollte. Erklärungsversuche, Gefühlsduselei, verwischte, undeutliche Buchstaben. Sie bekam ihn nie.
Am Hafen gehe ich am gelbgrün gestrichenen Leuchtturm vorbei. Die Kühlhäuser sind einem kalten Klotz aus Eigentumswohnungen gewichen. Mit langsamen Schritten gehe ich über die Holzbrücke. Ground Zero, denke ich, als ich das Ufer an der Grenze zu meinem alten Wohnviertel erreiche. Ich gehe den Weg zum Aussichtsplatz hinauf.
Von dort oben sehen die Menschen, die Brücke und der Leuchtturm klein und friedlich aus, irgendwie harmonisch.
In mir steigt ein Hauch der innerlichen Kraft und Zuversicht aus der längst vergangenen Jugend auf, leicht und unbeschwert.
Ein Gefühl aus einer verlorenen Zeit, als die Hoffnung noch regierte und als die Träume noch nicht in den dunklen Gassen der Altstadt an den Häuserwänden verhallt waren.
Ich schaue bewusst nur flüchtig zu dem Baum unten an der Biegung der Straße. Ich erkenne, dass die Stelle mit der aufgeplatzten Rinde mit einer Art Lasur übermalt worden ist. Bremsspuren davor kann ich nicht erkennen. Dort küsste ich Steffi das erste Mal auf die Wange. Sie lächelte nur und schaute zu Boden. Vorher saßen wir stundenlang auf der Steintreppe am Wasser und ich erzählte ihr von zu Hause, wie ich dazwischen gehen musste und meinen Vater zu Boden geworfen hatte.
Ich verdränge diese Erinnerung, drehe mich hastig um und gehe ein paar Schritte. Ich schaue zu der Kirche, in der ich konfirmiert wurde. Nur einige Meter hinter dem Friedhof verdeckt das Gebäude meiner Berufsschule den Blick auf die Wohnung, in der ich aufwuchs.
Ich will sie auch gar nicht sehen. Ich atme tief ein und aus und öffne das Eisentor zum Friedhof. Minutenlang gehe ich die Reihen auf und ab und studiere die Namen. Es ist ein weißer Marmorstein mit schwarzer Inschrift, vor dem ich stehen bleibe. Ich gehe in die Hocke, nehme den vergilbten Briefumschlag aus meiner Jackentasche und lege ihn vor den Stein.
»Hallo Steffi. Zu spät, wie immer, kennst mich ja. Einen schönen Platz hast du hier.«
Ich schlucke und sammele mich einen Moment.
»Hatte ich dir das eigentlich schon erzählt? Ich habe aufgehört, du weißt schon, mit dem Trinken und mit dem ganzen anderen Mist. Hat lange gedauert, bis ich so weit war. Aber am Ende habe ich doch noch auf dich gehört. Ich war damals durcheinander, ich war wütend, die ganze Scheiße zu Hause, du weißt, was ich meine.« Ich schließe die Augen.
»Ich hätte dir sagen müssen, dass ich dich liebe. Denn es war so und so ist es immer noch. Das weiß ich jetzt. Ich hätte es dir zeigen sollen, irgendwie. Dann wären wir vielleicht gemeinsam von hier abgehauen, du wärst nicht gegen diesen Baum geknallt und ich würde jetzt nicht mit einem Stein reden.
Ich hätte auf dich aufgepasst.«
Minutenlang starre ich schweigend auf den Grabstein und lese immer wieder ihren Namen.
»O.k, ich werde jetzt gehen«, sage ich und stehe auf.
»Aber ich nehme dich mit o.k? Hier kommst du mit.«
Ich klopfe mit der Faust auf meine linke Brust.
»Machs gut.«
Auf dem Weg zurück zum Hotel sehe ich mich nur noch sporadisch um. Ich habe genug gesehen, mehr als genug.
Das Bett in meinem Zimmer bleibt unberührt.