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Verbotene Erinnerungen
Dieser eine Geruch, dieser undefinierbare nach Erfahrungen duftende und gleichzeitig beißende, die Tränen in die Augen treibende Geruch, der, der tausend verbotene Erinnerungen heraufbeschwört. Es ist kein schöner Geruch, gibt einem keinerlei Sicherheit. Im Gegenteil. Er entreißt einem sämtliches Vertrauen. Viel zu kalt ist er, verknüpft sich im Gehirn mit seinen Gedanken, seinen Gesichtsausdrücken, seinen Worten. Ich sitze in meinem Zimmer.
Mir ist schrecklich kalt. Ich spüre, wie ein Schauer über meinen Rücken zieht. Ich erinnere mich.
Einige Stunden zuvor. Seine Hände streichen an meinen Seiten hinab und bleiben auf meinen Hüften liegen. Mein Kopf kommt auf seinem muskulösen Oberkörper zu liegen. Der Geruch nach Wollwachs und Feuchtigkeit vermischt sich mit dem seines Parfüms. Ich habe die Augen geschlossen, tausend Gedanken wirbeln durch mein Gehirn und gleichzeitig breitet sich eine seltsame Ruhe in mir aus. Ich atme. Einatmen. Ausatmen.
Dann richtet sich meine Konzentration wieder völlig auf ihn. Mir ist kalt und er spürt das. Langsam und leise fällt der Regen. Feine Tröpfchen durchdringen den dünnen Stoff meines Kleids. Es ist stockdunkel. Wir stehen mitten im Feld, der Matsch verdreckt meine Sandalen, die Wildkräuter am Boden ritzen meine Haut. Wir beide wissen nicht genau, was wir hier tun. Er gibt vor, die Kontrolle zu haben. Er gibt vor, das alles zu kennen, das alles zu wissen. Ab wann nennt man einen Ablauf Routine? Die Wahrheit ist, er weiß genauso wenig wie ich. "Man muss nicht alles erklären können", flüstert er, während seine Hände weiter meinen Rücken erkunden. "Was soll das heißen?" Ich schaue ihm ins Gesicht, er weicht meinem Blick aus. Ich frage mich, was Anna jetzt macht, was sie dazu sagen würde. Sie würde mich hassen. Er zieht sich den Pullover über den Kopf und reicht ihn mir.
Dieser Geruch raubt mir den Atem. Ich halte kurz die Luft an. So riecht Freiheit. Nach Kräutern, nach kalter, feuchter Luft, nach Wolle. Alles an ihm und alles um uns herum riecht in diesem Moment nach Freiheit. In meinem Gehirn verbindet sich das Gefühl mit seinem Parfüm. Ich spüre, wie die Tränen nach draußen drängen.
Dieses Gefühl ist unglaublich. Mein Brustkorb zieht sich zusammen, ich habe das Gefühl, sämtliche Nerven konzentrieren sich darauf. Jeder Atemzug schmerzt.
Gleichzeitig fühlt sich mein Inneres endlos weit an.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Die Gedanken über meine Fähigkeit, so kalt, so herzlos zu sein drehen mir den Magen um. Ich halte es nicht aus, das in mir zu tragen. Ich schlucke. Der Geruch hängt in meinen Haaren, in meinem Kleid. Er breitet sich langsam aber sicher in meinem Zimmer aus.
Ich stehe auf und trete vor die Wand. Der Spiegel zeigt ein zierliches Mädchen mit wie zum Schutz hochgezogenen Schultern, blauen, wässrigen Augen und langen, ungekämmten Haaren. Ein Mädchen, das vor dem Spiegel steht, sich betrachtet. Ich fühle mich hübsch. Ich fühle mich weiblich. Es ist beinahe wie ein Rausch.
Anna liegt zu Hause in ihrem Bett, die Augen verheult. Es geht ihr schlecht. Dieses Mädchen war einmal meine beste Freundin.
Ich drehe mich einmal um mich selbst. In mir wächst ein trotziges, atemberaubendes Selbstvertrauen. Ich bin es, verdammt. Ich bin es, die er will. Es geht hier nicht um Liebe, nein, ich weiß selbst nicht, was an ihm mich dermaßen fasziniert. Ich habe eine Gänsehaut. Das hier sind keine romantischen Gefühle. Das hier ist undefinierbar. Wieder wandern meine Gedanken.
In seinen Pullover eingekuschelt versinke ich in seinen Armen. Ich stolpere rückwärts, lasse mich von ihm fangen, lasse ihn sich über mich beugen, spüre das Gras unter mir.
Ich liege auf dem Rücken und habe die Augen geschlossen, während seine Lippen gegen meine drängen. Ich küsse ihn, doch die Welt um mich herum ist schrecklich gegenwärtig. Mit Schwerelosigkeit hat das hier nichts zu tun. Der Boden unter mir ist hart und es regnet noch immer. Seine Hand gleitet unter mein Kleid und streichelt mein rechtes Bein, dann meinen Hüftknochen, meinen Bauch. Ich spüre, dass er mehr will. Statt ihn zu stoppen schlinge ich meine Arme fester um seinen Hals.
Ich verschwende keinen Gedanken an Anna. Mit einem Ruck dreht er sich auf den Rücken, zieht mich auf ihn. Es sind geübte Bewegungen. Viel zu geübt. Doch es gefällt mir. Der Geruch dringt in alle Poren meines Körpers ein und befreit mich von allen Zweifeln. Ich bin hier, ich lebe. Ich würde am liebsten gleichzeitig lachen und weinen.
"Du denkst viel zu viel nach, Kleine." Seine tiefe Stimme inmitten der Dunkelheit und der absoluten Stille erschreckt mich.
Es schüttelt mich bei dem Gedanken. Ich liege mit geschlossenen Augen in meinem Bett. Warum? Ich weiß es nicht. Noch immer hängt dieser Geruch in meinen Haaren und zerrt weiterhin an Vertrauen und Geborgenheit. Er füllt meinen Kopf und verdrängt alles andere, schmeckt nach Abenteuer, nach Freiheit, nach Leben.
Er lässt zu, dass ich Anna verletze. Und das schlimmste ist, er tut das mit meiner Zustimmung.