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Mein Zimmer hat keine Fenster, wie die meisten Räume keine Fenster haben auf Dijod, ganze Gebäude ohne Fenster auskommen, weil die Alten keine Fenster brauchen – sie sind allesamt blind – und die Jungen sich fragen, wozu Augen gut sein sollen, ihre Augen gar nicht zu nutzen wissen, so schwache Vorstellungen haben sie von Licht, schwach wie das ferne Leuchten der Sterne, dem einzigen blassen Schimmer auf dem Planeten Dijod, dessen Nacht ein halbes Leben lang dauert und dessen Tag das ganze Leben verbrennt.
Die Tür zu meinem Zimmer öffnet sich. Ein schwarzes Loch stanzt sich in eine schwarze Wand und ich erblicke keinen schwarzen Mann, weiß aber, er ist da, habe seine Schritte schon vor Minuten vernommen, stolze Schritte, die nun verstummen, abgelöst von einer ebenso stolzen Stimme – einschneidend, durchdringend, den Raum erfüllend und zuletzt auch mich einnehmend, ohne dass ich auch nur ein einziges Wort verstünde, so aufgeregt bin ich, allein der Tonfall packt mich an, lässt mich von meinem Stuhl hoch fahren, spult ein Programm ab in mir, das ich seit Monaten ein geübt habe: Fünf Schritte nach vorne gehen, hölzern wie eine Puppe, der die Kniegelenke fehlen, um die Beine an zu winkeln, dann stehen bleiben, Hacken zusammen schlagen, salutieren und bloß nicht atmen, auf keinen Fall bewegen – warten.
Der Mann ist zufrieden oder auch nicht, sein Tonfall lässt das nicht erkennen, schwankt zwischen lautem Reden und brüchigem Schreien, bleibt dabei aber emotionslos, routiniert, wahrscheinlich genauso, wie bei den anderen Jungen, die der Mann heute schon aus ihren Zimmern geholt hat und genauso wie bei denen, die er noch holen wird, nachdem er mich draußen abgeliefert hat, wo es dunkel ist wie immer, nichts und niemand zu sehen ist wie immer und vom Planeten nur das kleine Stückchen Boden zu spüren ist, das sich unter meinen Füßen befindet und spitz in meine Sohlen sticht. Außergewöhnlich ist jetzt nur eines: Ich höre nichts; ein paar andere Junge bohren mit ihren Schuhen im steinigen Grund herum, schlurfen aufgeregt hin und her, doch ist das kein Vergleich zu sonst, wenn hier Markt ist und das Trommeln der Schritte nahezu unerträglich an schwillt, der Platz unter Rufen lärmt, es schwer fällt, sich zu orientieren und man ständig mit jemandem zusammen stößt – das alles fehlt jetzt; niemand ist mehr da.
Wir Dijodan sind keine Ratten, wir verkriechen uns nicht in dunklen Höhlen tief unter der Erde, wo man den Tag über ausharren könnte, wir bleiben in Bewegung, ziehen weiter, wenn die Sonne naht, ziehen in unser zweites Heim, denn jeder Dijodan hat zwei Heime – eines dort, wo es ihm gefällt, wobei ohnehin alles gleich ist hier und das andere genau gegenüber, auf der anderen Seite des Planeten, so dass ein Dijodan nur senkrecht nach unten graben müsste, durch den Mittelpunkt des Planeten hindurch und immer geradeaus weiter, um von seinem ersten Wohnsitz zu seinem zweiten Wohnsitz zu gelangen; aber das ist natürlich Unsinn.
Bald dämmert es und die Sonne wird auf die verlassenen Hütten unseres Dorfes fallen, alles wird strahlen und ganz weiß sein, hat man mir erzählt, aber es fällt mir schwer, zu begreifen, was damit gemeint ist, was es heißen soll, dass alles leuchtet, dass alles wunderschön ist und schrecklich zugleich – die ganze Nacht beten die Alten ihre Geschichten davon herunter, reiben sich wehmütig die blinden Augen, ihre Finger zittern, dass man die aufgewühlte Luft auf der Haut spürt, doch wenn es wieder so weit ist, wenn der Sonnenaufgang naht, dann müssen sie gehen, müssen die Kinder mitnehmen, die noch zu jung sind; nur die Ältesten bleiben zurück, um ihre letzte Aufgabe zu erfüllen: Die jungen Dijodan ins Licht führen, ihnen die große Prüfung abnehmen, nach der auch sie sagen dürfen: Wir gehören zu den Alten.
Die Nacht erhellt sich. Ich kann sehen – noch nicht sehr viel, noch nicht sehr weit, aber ich kann sehen, kneife die Augen zusammen, schirme sie ab, indem ich meine Hand an die Stirn lege, was nicht erlaubt ist, ich weiß, doch das Licht ist so brennend hell und ich nehme die Hand erst wieder weg, als einer der Ältesten mich mahnend anblickt, schließlich auf mich zu kommt, ein Metallgestell in der Hand, das er mir über den Kopf zieht, es drückt an den Schläfen und noch schlimmer: Meine Augenlider werden an kleinen Haken befestigt, meine Augäpfel treten hervor, liegen nun fast frei in der Sonne, sind ihrer Schönheit ungeschützt ausgeliefert.
Etwas nähert sich vom Horizont; es glitzert bunt im Morgenlicht. Noch kann ich es nicht erkennen, doch ich weiß, was es sein muss, so oft haben die Alten davon erzählt, davon geschwärmt und es beschrieben bis ins kleinste Detail: die schwebende Burg, die nicht Schwarz ist wie die Nacht und nicht Weiß wie der Tag, sondern so viel mehr als das mit ihren kristallinen Formen und vielfarbigen Scheiben, von denen ich mir nie eine Vorstellung machen konnte, solange ich nur die Nacht kannte und nichts von Licht und Farben wusste – jetzt aber reicht ein Blick, um mir sicher zu sein: Sie ist es; und sie ist hier, um das Ritual zu überwachen.
Es gibt nur wenige schwebende Burgen, hat man mir erzählt, die Weisen des Lichts leben darin, denen die Sonne gnädig ist – sie dürfen unter ihr wandeln, dürfen ihre Schönheit genießen, ohne ihre Schmerzen ertragen zu müssen, dürfen sehen, was sie zeigt, ohne dabei zu erblinden, ohne in die ewigen Nacht verbannt zu werden wie unsere Alten und wie ich, der ich jetzt erfahren darf, wie köstlich es ist, zu sehen und erfahren muss, wie viel es kostet, zu erkennen; aber ich will nicht.
Die Sonne beißt, die Jungen um mich fangen an zu schreien, die Ältesten tanzen, die Weisen überwachen und ich reiße mich los, breche aus, ziehe mir das Metallgestell vom Kopf, die Haken schlitzen meine Lider auf, Blut füllt meine Augen, färbt das grelle Licht rot, doch schmerzt die Sonne noch immer, dringt durch die Löcher meiner Lider, nur mein linker Arm schützt mich, ich kann nichts mehr sehen, mein rechter Arm schwingt vor und zurück, vor und zurück, im Takt der rennenden Beine, ich stolpere, falle, stehe auf, renne weiter, weg von den Ältesten, die nicht schnell genug sind, mich ein zu holen, weg von den Jungen, denen jetzt Kohlen in den Augenhöhlen sitzen und weg von der schwebenden Burg, der ich nicht entkommen werde, wie schnell ich auch laufe, wie weit ich mich auch hinaus wage in den feuerzüngelnden Tag – die Weisen werden mich jagen, werden kommen und mich holen; weil ich mich im Licht nicht verstecken kann; weil ich nichts sehen kann im Licht, sie aber alles; weil sie mich zu lange im Dunkeln gelassen haben und ich stets ins Dunkel zurück geworfen werde, ihm nicht entkommen kann. Etwas schlägt mir gegen den Kopf.