Venus
Ein Stern tauchte auf. Ein winzig kleines Licht, zwischen einem goldigen Gelb und strahlenden Weiß, auf dem ansonsten pechschwarzen Himmel. Zwar zogen dunkle Gewitterwolken über die Erde, doch dieser klitzekleine Stern fand immer wieder den Weg durch den grauen Unwetterschal. Immer wieder zog er meinen Blick auf sich, wie ein Magnet ein Stück Metall.
„Das ist die Venus.“ Sagte mein Papa mit fast flüsternder Stimme. Er legte behutsam seine graue, sehr warme Lederjacke zum Schutz vor der abendlichen Kälte um meine schmalen Schultern und deutete mit ausgestrecktem Finger nach oben.
Ich erinnere mich an diesen Abend so häufig, als würde ich jede Nacht erneut davon träumen. Der Wind streicht über meine Haut und lässt mir die Locken ins Gesicht fallen, schon damals war es so. Auch heute sitze ich noch oft vor dem Haus, welches ich von meinen Eltern erbte und sehe in den Himmel. Niemals habe ich einen vergleichbaren Himmel gesehen, wie an jenem Abend. Von unserer Veranda wirkte er bedrohlich nah, als wären wir mittendrin, als zwei winzige Himmelskörper in der ewig weiten Atmosphäre.
„Die Venus wird auch Morgen- und Abendstern genannt. Und weißt du, wofür sie steht?“ Die Stimme meines Vaters blieb weiterhin ein Flüstern, doch in der Stille der anbrechenden Nacht klang sie laut und eindringlich. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich plötzlich auf der Bank um und sah in Richtung unseres Hauses. Damals wusste ich nicht, dass er nach meiner Mutter Ausschau hielt. Denn er wünschte sich, dass sie genau in diesem Moment auf die Veranda treten würde, um gemeinsam mit uns in den Himmel zu schauen.
Ich sah weiterhin mit meinen großen Kinderaugen hinauf und schüttelte auf die Frage hin offenen Mundes den Kopf.
„Sie steht für die Liebe.“
Jetzt wandte ich den Blick ab und sah meinem Papa fest in die Augen. In seinem Blick lag so viel Schmerz, gemischt mit einem Rest in den Jahren verebbter Hoffnung.
„Was ist die Liebe?“ Zwar hatte ich schon viel davon gehört, doch mit meinen neun Jahren wusste ich nichts Genaues und meine Neugierde war groß. Mein Papa zog mich zu sich heran und sagte mit traurigen Augen, aber bestimmt, sodass ich den Mut für weiteres Nachhaken sofort verlor:
„Die Liebe ist das Netz um dein Leben. Sie baut Brücken, hält die Welt im Gleichgewicht und sorgt dafür, dass ein kleines Mädchen wie du, genau wie dieser Stern dort oben, immer den richtigen Weg durch die grauen Gewitterwolken des Lebens finden wird.“
Jetzt packte er mich an den Schultern, hielt mich ganz fest mit seinem Blick und sagte etwas, das ich nie vergessen würde, auch wenn ich es damals noch nicht verstand:
„Versprich mir, wenn du eines Tages den einen Menschen findest, der dir zu dieser Liebe verhilft, der dich abends in den Schlaf wiegt, morgens mit einem sanften Kuss weckt und dich mit einem dahinschmelzenden Blick durch den Tag begleitet, lass ihn nicht mehr gehen. Gib auf ihn Acht wie auf deine kleine Edelsteinsammlung, die du in deinem Zimmer versteckst. Und gib ihm etwas von deiner eigenen Liebe. Denn das ist das größte Geschenk, welches du in deinem ganzen Leben bekommen und geben kannst.“