- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Veitstanz
Veitstanz
Ich verbrachte nun schon einige Zeit glücklich in einer Einzimmerwohnung im vierten Stock des achtstöckigen Mietshauses in der Badstraße. Es war ein hübsches Leben hier oben, ich fühlte mich wohl. Darum kam es mir auch nie in den Sinn, darüber nachzudenken, wie es sein könnte, würde sich alles mit einem Schlag ändern. Würde nie mehr etwas so sein, wie es einmal war.
Die Regentropfen schlugen laut gegen das Fenster, vor dem mein Bett stand. Wenn man es Bett nennen konnte. Eine alte, verschlissene Matratze, die ich einfach auf dem Boden gelegt hatte. Müde drehte ich mich noch einmal auf die Seite, um einige Minuten weiterzuschlafen. Vor der einzige Heizung im Raum.
Als Lorelei mein Quartier zum ersten Mal sah, schlug sie die Hände über den Kopf zusammen: „Junge hier kannst du nicht leben! Das ist ein Rattenloch! Komm wieder zu mir, wir werden eine bessere Unterkunft für dich finden.“
Aber mir gefiel es in dieser Wohnung. Von einem Fenster aus konnte man auf die belebten Gehwege sehen, die direkt in die Innenstadt führten. Manchmal stand ich vor meinem Fenster und sah auf die Leute hinab. Im Sommer war es hübsch anzusehen, die vielen bunten Farben der Kleidung, die übermütigen Kinder, die verliebten Paare, Hand in Hand. An regnerischen Tagen konnte man keine Menschen erkennen, dafür zahllose bunte Regenschirme. Obwohl im vorherigen Herbst die Farbe schwarz deutlich zugenommen hatte. Wenn man aus dem zweiten Fenster blickte, sah man die nackte Hauswand gegenüber. Früher war sie sicherlich weiß, aber das musste schon so lange her sein. Andere Fenster gab es keine in meiner Wohnung. Aber die benötigte ich auch nicht. Ich mochte meine vier Wände und war glücklich über das Dach über meinem Kopf. Die ersten zwei Wochen, die ich in meiner Wohnung lebte, rief Lorelei jeden Tag an: „Geht es dir gut? Brauchst du bei irgendetwas Hilfe?“
Sie machte sich immer Sorgen um mich.
Lorelei war meine Mutter. Meine Ziehmutter. Sie adoptierte mich im Alter von 16 Jahren.
Als wir uns zwei Jahre zuvor kennenlernten, arbeitete sie ehrenamtlich in dem Kinderheim, in dem ich lebte, seit ich denken konnte. Einmal erzählte sie mir, es wäre meine unscheinbare Art gewesen, gerade die, die sie auf mich aufmerksam gemacht hatte. Sie wollte mich beschützen. Mir die schönen Dinge im Leben zeigen. Lorelei war mir von Anfang an aufgefallen. Nicht als Mutter. Sondern als Frau. Ihr kantiges Gesicht, die hohen Wangenknochen, ich hatte vom ersten Augenblick Gefallen an ihr gefunden. Ich mochte es, wie sie sich während der Arbeit die einzelnen blonden Strähnen aus dem Gesicht strich, um dann, stillschweigend weiter den Boden zu schrubben, die Fenster zu putzen, die Kartoffeln zu schälen. Egal was sie tat, jede einzelne ihrer weichen, leichten Bewegungen hatte etwas Anziehendes. Bald hatte ich mir angewöhnt ihr bei ihren Arbeiten zu helfen. Ich half ihr beim Kochen, beim Putzen, beim Säubern. Wir redeten viel. Über das, was uns gerade in den Sinn kam. Wir lachten zusammen und eines Tages fragte sie mich, ob ich bei ihr wohnen wolle. Natürlich wollte ich. Lorelei war mein Leben geworden. Mein Sinn, mein Ein und Alles. Aber jetzt? Jetzt war ich erwachsen. Und Lorelei war alt. Nicht alt, wie eine Großmutter, aber alt, wie eine Frau die ihre besten Tage hinter sich hatte. Trotz allem, sie war immer noch wunderschön. Man sah ihr die Zeit an, die vergangen war. Aber nicht, wie schwer es ihr manchmal fiel, jede einzelne Stunde weiter zu leben. In all den Jahren waren Männer gekommen und gegangen. Aber nie geblieben. Mit Ausnahme von mir. Doch ich musste bald einsehen, dass Lorelei in ihrem Herzen nur Platz für mich als Sohn hatte und nicht als Mann, der ich geworden war.
Der Schlaf wollte nicht einsetzen und ich bewegte mich nun doch schweren Herzens, um mein warmes Bett zu verlassen, die Decke dicht um mich geschlungen. Es war kalt im Raum. Umständlich stieg ich in meine Jeans und zog den alten, farblosen Zopfmusterpullover über. In meinem Bad, ein kleiner Raum, nicht größer als 4 Quadratmeter, konnte man den Atem vor Augen sehen. Als ich mich selbst in dem angelaufenen Spiegel, eingerahmt von einem, einst mal modernen Bronzerahmen, erblickte, hielt ich einen Moment inne. Was war aus mir geworden? Nichts. Ein Fabrikarbeiter am Fließband. Davon hatte ich als Kind nie geträumt. Ich wollte Kapitän werden. In einer blauen Uniform, auf der Brücke meines stolzen Schiffes. Und jetzt? Arbeiter in einem weißen Kittel, am Fließband einer Konservenfabrik. Das war wahrlich nicht die Erfüllung meines Lebens. Doch was brachte es mir Trübsal zu blasen? Es war wie es war.
Die Erinnerung an meine grauen Kindertage, ließ mich wieder einmal in tiefe Grübeleien versinken. Und als ich das schrille Klingeln meines Telefons hörte, musste ich mich einen Moment sammeln, um festzustellen, dass ich in meinem Badezimmer stand, vor dem Spiegel, mit müden Augen und mir auf die Unterlippe biss.
Ich hob den Hörer ab.
„Ja Bitte?“
„Hallo, mein Name ist Ilka Daumann, spreche ich mit Herrn Mai?“
„Am Apparat, was kann ich für sie tun?“
„Herr Mai, ich habe eine unerfreuliche Nachricht für sie. Ihre Mutter wurde vor einigen Minuten ins Krankenhaus gebracht. Sie bat mich, ihnen Bescheid zu geben.“
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Noch niemals vorher hatte ich mir Sorgen um Lorelei machen müssen. Trotz Allem war sie ein standhafter Mensch gewesen.
„Sagen sie ihr, dass ich auf dem Weg zu ihr bin. In 5 Minuten werde ich bei ihr sein.“
Ich knallte den Hörer auf die Gabel und riss meinen schwarzen Mantel vom Haken. Noch während ich ihn mir überzog, lief ich mit eiligen Schritten das Treppenhaus hinunter und nach draußen. Schon nach wenigen Metern hingen meine schulterlangen, schwarzen Haare, vom Regenwasser durchtränkt, schwer nach unten. Lorelei konnte nicht krank sein. Das war absolut unmöglich. Sie war stark. Natürlich, seit einigen Monaten war sie etwas wunderlich geworden. Auch ihre immer wieder kehrenden, kurzfristigen Depressionen hatten mir Anfangs Sorgen bereitet, doch dann kam ich zu der Erkenntnis, dass es sicherlich das Alter war, das sich bei ihr bemerkbar machte. Schließlich war Lorelei 53. Jede andere Frau hätte schon eher Beschwerden gehabt, doch sie war bis jetzt immer gesund gewesen. Manchmal einen Schnupfen, aber der war nach spätestens zwei Wochen wieder vergangen. Und nun war sie im Krankenhaus. Sicherlich war sie bei der Hausarbeit gestürzt und hatte sich verletzt. Das musste es sein. Wie oft hatte ich ihr gepredigt nicht auf die Fensterbretter zu steigen, um die Scheiben zu putzen.
„Paul! Wie schön dich zu sehen!“
Sie lag nicht in einem Krankenbett, saß nicht in einem Rollstuhl. Kein Gips, kein Verband, nicht ein einziges Pflaster. Lorelei lehnte an einer Säule im Foyer. Sie war nicht verletzt. Wie ich von Weiten feststellen konnte. Keine Platzwunde am Hinterkopf, kein Arm in der Schlinge. Sie stand da, ihren schwarz-weiß karierten Blazer über die linke Schulter geworfen, die blonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Ich rannte auf sie zu: „Geht es dir gut? Was ist denn passiert?“
Sie lachte. Glockenhell und unbeschwert.
„Es war falscher Alarm. Es ist alles in Ordnung.“ Ich schloss sie in meine Arme. Erleichtert drückte ich sie gegen meine Brust: „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“
„Oh mein Schatz“, sie hob den Kopf, sah mir ins Gesicht und strich mir über die Wange, „du kennst mich doch.“ Sie nahm mich bei der Hand und zog mich aus dem Gebäude.
„Wohin gehen wir?“, fragte ich misstrauisch. Ihr Verhalten war zweifelhaft. Es war mir fremd, dass Lorelei mich in der Öffentlichkeit bei der Hand nahm. „Nach Hause. Ich koch dir was und wir können mal wieder miteinander reden. Das haben wir so lange nicht mehr getan.“ Sie blieb stehen und sah mich an. Mir fiel ein Funkeln in ihren strahlend blauen Augen auf. Was war das? Unternehmungslust? Provokation? Aufregung? „Geht’s dir auch wirklich gut?“
Ihr Lächeln blieb. Sie legte ihren Kopf schief, stellte sich mir gegenüber und umfasste meine beiden Handgelenke: „Mir geht’s so gut wie nie.“
Ich schüttelte ihre Hände ab. „Warum warst du dann im Krankenhaus? Du musst mit mir reden. Ich hab doch ein Recht darauf zu erfahren, was los ist!“
„Schimpf doch nicht Paul“, sie stand da, ließ die Schultern hängen, sah mich an, unschuldig. „Es ist nichts Schlimmes passiert. Ich war gerade auf den Weg zur Arbeit, da spürte ich einen schrecklichen Krampf in meinem Arm, der hinaufzog, über meine linke Brust und ins Herz stach. Ich dachte ich hätte einen Herzinfarkt und habe sofort den Notarzt verständigt. Nachdem sie mich untersucht und auch alle Tests durchgeführt hatten, stellten sie fest, es wäre nur Stress, der das Stechen im Herz ausmachte. Und gegen die Krämpfe bekomme ich Magnesium. Ich bin für drei Tage frei geschrieben worden, ist das nicht großartig?“
Ein Lächeln glitt über meine Lippen und ich legte ihr einen Arm um die zierlichen Schultern, während wir nach Hause liefen. Aber auf dem Weg überkamen mich Zweifel. So kannte ich Lorelei nicht. So übermütig, wie ein Schulmädchen, so anhänglich, als wäre ich der Vater.
Ihr Messer raste in rasanter Bewegung auf und ab, während sie die Zwiebel in viele kleine Würfel hackte. Dabei redete sie, die Tränen, die ihr Gesicht entlangliefen ignorierend. Ich stand am Kühlschrank gelehnt, das Glas Rosé in der Hand, das sie mir vorher in die Hand gedrückt hatte. Ich sparte mir jedes Wort, wäre ich doch eh nicht dazugekommen etwas zu sagen. Lorelei sprach und sprach und als mir langsam der Verdacht aufkam, ihr wäre es gleich, ob ich ihr überhaupt zuhörte, sah sie von ihrer Arbeit auf. Wieder legte sie ihren Kopf schief, wieder begann sie zu lächeln. Sie fuhr sich mit der Handfläche über die Augen und fragte: „Paul, was ist los? Du bist so still.“
Ihr Blick war so bestimmt, als wüsste sie was in meinem Kopf vorging. Dass ich ihr nicht traute, dass sie mir unheimlich war, wie sie sich verhielt.
„Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist“, ich strich ihr über die blonde Mähne.
„Ja ich auch“, sie lachte, „Raoul, sei so gut mein Junge, könntest du mir die Zwiebeln in die Pfanne geben? Ich weiß auch nicht, das sind sicherlich die Nerven, ich hab so ein Zucken in meinen Fingern.“ Ich nahm ihr das Schneidbrett mit den gehackten Zwiebeln ab und gab sie in die Pfanne. Sofort begannen sie in dem heißen Öl zu zischen und zu brutzeln.
Der Regen hämmerte gegen die Fenster in Loreleis Küche. Ein undurchdringlicher Vorhang aus Wasser glitt an der Scheibe hinab. Ich sah hinaus. Die Blumen in ihrem Garten wurden vom Wind hin und hergepeitscht. Gelbe Tulpen. Ihre Lieblingsblumen.
In meiner ersten Woche bei ihr, sagte sie eines Nachmittags zu mir „Lass uns Blumen pflanzen.“ Wir gingen in den Garten. Schon damals haben wir die Zwiebel der gelben Tulpe gepflanzt. Als ich sie fragte, ob sie denn nicht auch andere Farben wolle, lachte sie und meinte: „Gelb, so hell wie die Sonne, so froh wie ein Lachen, so kräftig und rein? Kennst du eine schönere Farbe für Blumen?“ Es kamen mir viele schönere Farben in den Sinn. Aber ich behielt es für mich und ließ sie weiter gelbe Blumen pflanzen. Jahr für Jahr für Jahr.
Lorelei schaltete das Radio ein. Edward Grieg, Morgenstimmung. Ich rührte mit einem Holzlöffel in der Pfanne herum, um die glasigen Zwiebeln vor dem Anbrennen zu hintern.
"Lass mich das tun", forderte Lorelei und ich übergab ihr den Löffel. Sie griff danach, doch der Stiel glitt ihr einfach durch die Finger. Mit einem dumpfen Schlag fiel er auf den Boden. Als ich mich bückte, um ihn aufzuheben, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine abrupt tänzelnde Bewegung Loreleis.
Am letzten ihrer drei freien Tage, war Lorelei wieder im Krankenhaus. Ich wurde wieder gerufen, diesmal jedoch nicht auf ihren Wunsch. Wieder machte ich mir Sorgen.
Mit hastigen Schritten, lief ich den Gang entlang. Nervös klopfte ich an die dreckige Scheibe des Schwesternzimmers.
"Entschuldigung, wo liegt bitte Lorelei Mai?"
Ein Arzt, der zuvor konzentriert auf sein Klemmbrett gestarrt hatte sah auf: "Ich bin Dr. Julius Keller, der behandelnde Arzt von Frau Mai. Sie sind ihr Sohn?"
Er streckte mir seine Hand entgegen und während ich sie zerstreut schüttelte, fragte ich: "Was ist mit meiner Mutter?"
Der Doktor wies mit einer stummen Handbewegung auf einen der beiden blauen Stühle. Ich setzte mich.
"Herr Mai, Ihre Mutter hat heute Morgen versucht sich das Leben zu nehmen. Ihr geht es gut, die Sanitäter waren rechtzeitig bei ihr."
Jede einzelne Faser meines Körpers spannte sich an. Meine Finger gruben sich in die, mit Schaumstoff überzogenen Armlehnen des Stuhles. Die Knöchel traten deutlich hervor und die Fingerknochen standen ab wie Drahtseile. Lorelei und ich waren zwei Säulen, die einander Halt gaben. Und nun sollte eine dieser beiden Säulen wackeln?
"Das glaube ich nicht", sagte ich matt.
"Verzeihen Sie die Frage", der Doktor räusperte sich, "aber wussten sie um die Erkrankung Ihrer Mutter?"
Fast unmerklich schüttelte ich den Kopf. Lorelei war krank? Wieso hatte sie nichts gesagt?
"Frau Mai leidet schon seit geraumer Zeit an Chorea Huntington."
Veitstanz. Ich hatte davon gehört. Eine unheilbare Erkrankung des Gehirns. Psychische Beschwerden. Bewegungsstörungen. Depressionen. Realitätsverlust.
"Wie lange?", fragte ich schwach.
"Acht Jahre", sagte er und nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu, "Chorea Huntington ist erblich bedingt. Das heißt, wenn Ihre Mutter dieses fehlerhafte Gen in sich trägt, haben Sie es zu einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit auch. Es besteht die Möglichkeit sich testen zu lassen. Ihre Mutter bat mich Ihnen das ans Herz zu legen."
Fassungslos und kraftlos vergrub ich meinen Kopf in beide Hände.
"Sie hat mich adoptiert," murmelte ich leise.