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Veitstanz

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25.05.2013
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Veitstanz

Veitstanz

Ich verbrachte nun schon einige Zeit glücklich in einer Einzimmerwohnung im vierten Stock des achtstöckigen Mietshauses in der Badstraße. Es war ein hübsches Leben hier oben, ich fühlte mich wohl. Darum kam es mir auch nie in den Sinn, darüber nachzudenken, wie es sein könnte, würde sich alles mit einem Schlag ändern. Würde nie mehr etwas so sein, wie es einmal war.

Die Regentropfen schlugen laut gegen das Fenster, vor dem mein Bett stand. Wenn man es Bett nennen konnte. Eine alte, verschlissene Matratze, die ich einfach auf dem Boden gelegt hatte. Müde drehte ich mich noch einmal auf die Seite, um einige Minuten weiterzuschlafen. Vor der einzige Heizung im Raum.
Als Lorelei mein Quartier zum ersten Mal sah, schlug sie die Hände über den Kopf zusammen: „Junge hier kannst du nicht leben! Das ist ein Rattenloch! Komm wieder zu mir, wir werden eine bessere Unterkunft für dich finden.“
Aber mir gefiel es in dieser Wohnung. Von einem Fenster aus konnte man auf die belebten Gehwege sehen, die direkt in die Innenstadt führten. Manchmal stand ich vor meinem Fenster und sah auf die Leute hinab. Im Sommer war es hübsch anzusehen, die vielen bunten Farben der Kleidung, die übermütigen Kinder, die verliebten Paare, Hand in Hand. An regnerischen Tagen konnte man keine Menschen erkennen, dafür zahllose bunte Regenschirme. Obwohl im vorherigen Herbst die Farbe schwarz deutlich zugenommen hatte. Wenn man aus dem zweiten Fenster blickte, sah man die nackte Hauswand gegenüber. Früher war sie sicherlich weiß, aber das musste schon so lange her sein. Andere Fenster gab es keine in meiner Wohnung. Aber die benötigte ich auch nicht. Ich mochte meine vier Wände und war glücklich über das Dach über meinem Kopf. Die ersten zwei Wochen, die ich in meiner Wohnung lebte, rief Lorelei jeden Tag an: „Geht es dir gut? Brauchst du bei irgendetwas Hilfe?“
Sie machte sich immer Sorgen um mich.
Lorelei war meine Mutter. Meine Ziehmutter. Sie adoptierte mich im Alter von 16 Jahren.
Als wir uns zwei Jahre zuvor kennenlernten, arbeitete sie ehrenamtlich in dem Kinderheim, in dem ich lebte, seit ich denken konnte. Einmal erzählte sie mir, es wäre meine unscheinbare Art gewesen, gerade die, die sie auf mich aufmerksam gemacht hatte. Sie wollte mich beschützen. Mir die schönen Dinge im Leben zeigen. Lorelei war mir von Anfang an aufgefallen. Nicht als Mutter. Sondern als Frau. Ihr kantiges Gesicht, die hohen Wangenknochen, ich hatte vom ersten Augenblick Gefallen an ihr gefunden. Ich mochte es, wie sie sich während der Arbeit die einzelnen blonden Strähnen aus dem Gesicht strich, um dann, stillschweigend weiter den Boden zu schrubben, die Fenster zu putzen, die Kartoffeln zu schälen. Egal was sie tat, jede einzelne ihrer weichen, leichten Bewegungen hatte etwas Anziehendes. Bald hatte ich mir angewöhnt ihr bei ihren Arbeiten zu helfen. Ich half ihr beim Kochen, beim Putzen, beim Säubern. Wir redeten viel. Über das, was uns gerade in den Sinn kam. Wir lachten zusammen und eines Tages fragte sie mich, ob ich bei ihr wohnen wolle. Natürlich wollte ich. Lorelei war mein Leben geworden. Mein Sinn, mein Ein und Alles. Aber jetzt? Jetzt war ich erwachsen. Und Lorelei war alt. Nicht alt, wie eine Großmutter, aber alt, wie eine Frau die ihre besten Tage hinter sich hatte. Trotz allem, sie war immer noch wunderschön. Man sah ihr die Zeit an, die vergangen war. Aber nicht, wie schwer es ihr manchmal fiel, jede einzelne Stunde weiter zu leben. In all den Jahren waren Männer gekommen und gegangen. Aber nie geblieben. Mit Ausnahme von mir. Doch ich musste bald einsehen, dass Lorelei in ihrem Herzen nur Platz für mich als Sohn hatte und nicht als Mann, der ich geworden war.

Der Schlaf wollte nicht einsetzen und ich bewegte mich nun doch schweren Herzens, um mein warmes Bett zu verlassen, die Decke dicht um mich geschlungen. Es war kalt im Raum. Umständlich stieg ich in meine Jeans und zog den alten, farblosen Zopfmusterpullover über. In meinem Bad, ein kleiner Raum, nicht größer als 4 Quadratmeter, konnte man den Atem vor Augen sehen. Als ich mich selbst in dem angelaufenen Spiegel, eingerahmt von einem, einst mal modernen Bronzerahmen, erblickte, hielt ich einen Moment inne. Was war aus mir geworden? Nichts. Ein Fabrikarbeiter am Fließband. Davon hatte ich als Kind nie geträumt. Ich wollte Kapitän werden. In einer blauen Uniform, auf der Brücke meines stolzen Schiffes. Und jetzt? Arbeiter in einem weißen Kittel, am Fließband einer Konservenfabrik. Das war wahrlich nicht die Erfüllung meines Lebens. Doch was brachte es mir Trübsal zu blasen? Es war wie es war.
Die Erinnerung an meine grauen Kindertage, ließ mich wieder einmal in tiefe Grübeleien versinken. Und als ich das schrille Klingeln meines Telefons hörte, musste ich mich einen Moment sammeln, um festzustellen, dass ich in meinem Badezimmer stand, vor dem Spiegel, mit müden Augen und mir auf die Unterlippe biss.
Ich hob den Hörer ab.
„Ja Bitte?“
„Hallo, mein Name ist Ilka Daumann, spreche ich mit Herrn Mai?“
„Am Apparat, was kann ich für sie tun?“
„Herr Mai, ich habe eine unerfreuliche Nachricht für sie. Ihre Mutter wurde vor einigen Minuten ins Krankenhaus gebracht. Sie bat mich, ihnen Bescheid zu geben.“
Mein Herz begann schneller zu schlagen. Noch niemals vorher hatte ich mir Sorgen um Lorelei machen müssen. Trotz Allem war sie ein standhafter Mensch gewesen.
„Sagen sie ihr, dass ich auf dem Weg zu ihr bin. In 5 Minuten werde ich bei ihr sein.“
Ich knallte den Hörer auf die Gabel und riss meinen schwarzen Mantel vom Haken. Noch während ich ihn mir überzog, lief ich mit eiligen Schritten das Treppenhaus hinunter und nach draußen. Schon nach wenigen Metern hingen meine schulterlangen, schwarzen Haare, vom Regenwasser durchtränkt, schwer nach unten. Lorelei konnte nicht krank sein. Das war absolut unmöglich. Sie war stark. Natürlich, seit einigen Monaten war sie etwas wunderlich geworden. Auch ihre immer wieder kehrenden, kurzfristigen Depressionen hatten mir Anfangs Sorgen bereitet, doch dann kam ich zu der Erkenntnis, dass es sicherlich das Alter war, das sich bei ihr bemerkbar machte. Schließlich war Lorelei 53. Jede andere Frau hätte schon eher Beschwerden gehabt, doch sie war bis jetzt immer gesund gewesen. Manchmal einen Schnupfen, aber der war nach spätestens zwei Wochen wieder vergangen. Und nun war sie im Krankenhaus. Sicherlich war sie bei der Hausarbeit gestürzt und hatte sich verletzt. Das musste es sein. Wie oft hatte ich ihr gepredigt nicht auf die Fensterbretter zu steigen, um die Scheiben zu putzen.

„Paul! Wie schön dich zu sehen!“
Sie lag nicht in einem Krankenbett, saß nicht in einem Rollstuhl. Kein Gips, kein Verband, nicht ein einziges Pflaster. Lorelei lehnte an einer Säule im Foyer. Sie war nicht verletzt. Wie ich von Weiten feststellen konnte. Keine Platzwunde am Hinterkopf, kein Arm in der Schlinge. Sie stand da, ihren schwarz-weiß karierten Blazer über die linke Schulter geworfen, die blonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Ich rannte auf sie zu: „Geht es dir gut? Was ist denn passiert?“
Sie lachte. Glockenhell und unbeschwert.
„Es war falscher Alarm. Es ist alles in Ordnung.“ Ich schloss sie in meine Arme. Erleichtert drückte ich sie gegen meine Brust: „Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.“
„Oh mein Schatz“, sie hob den Kopf, sah mir ins Gesicht und strich mir über die Wange, „du kennst mich doch.“ Sie nahm mich bei der Hand und zog mich aus dem Gebäude.
„Wohin gehen wir?“, fragte ich misstrauisch. Ihr Verhalten war zweifelhaft. Es war mir fremd, dass Lorelei mich in der Öffentlichkeit bei der Hand nahm. „Nach Hause. Ich koch dir was und wir können mal wieder miteinander reden. Das haben wir so lange nicht mehr getan.“ Sie blieb stehen und sah mich an. Mir fiel ein Funkeln in ihren strahlend blauen Augen auf. Was war das? Unternehmungslust? Provokation? Aufregung? „Geht’s dir auch wirklich gut?“
Ihr Lächeln blieb. Sie legte ihren Kopf schief, stellte sich mir gegenüber und umfasste meine beiden Handgelenke: „Mir geht’s so gut wie nie.“
Ich schüttelte ihre Hände ab. „Warum warst du dann im Krankenhaus? Du musst mit mir reden. Ich hab doch ein Recht darauf zu erfahren, was los ist!“
„Schimpf doch nicht Paul“, sie stand da, ließ die Schultern hängen, sah mich an, unschuldig. „Es ist nichts Schlimmes passiert. Ich war gerade auf den Weg zur Arbeit, da spürte ich einen schrecklichen Krampf in meinem Arm, der hinaufzog, über meine linke Brust und ins Herz stach. Ich dachte ich hätte einen Herzinfarkt und habe sofort den Notarzt verständigt. Nachdem sie mich untersucht und auch alle Tests durchgeführt hatten, stellten sie fest, es wäre nur Stress, der das Stechen im Herz ausmachte. Und gegen die Krämpfe bekomme ich Magnesium. Ich bin für drei Tage frei geschrieben worden, ist das nicht großartig?“
Ein Lächeln glitt über meine Lippen und ich legte ihr einen Arm um die zierlichen Schultern, während wir nach Hause liefen. Aber auf dem Weg überkamen mich Zweifel. So kannte ich Lorelei nicht. So übermütig, wie ein Schulmädchen, so anhänglich, als wäre ich der Vater.

Ihr Messer raste in rasanter Bewegung auf und ab, während sie die Zwiebel in viele kleine Würfel hackte. Dabei redete sie, die Tränen, die ihr Gesicht entlangliefen ignorierend. Ich stand am Kühlschrank gelehnt, das Glas Rosé in der Hand, das sie mir vorher in die Hand gedrückt hatte. Ich sparte mir jedes Wort, wäre ich doch eh nicht dazugekommen etwas zu sagen. Lorelei sprach und sprach und als mir langsam der Verdacht aufkam, ihr wäre es gleich, ob ich ihr überhaupt zuhörte, sah sie von ihrer Arbeit auf. Wieder legte sie ihren Kopf schief, wieder begann sie zu lächeln. Sie fuhr sich mit der Handfläche über die Augen und fragte: „Paul, was ist los? Du bist so still.“
Ihr Blick war so bestimmt, als wüsste sie was in meinem Kopf vorging. Dass ich ihr nicht traute, dass sie mir unheimlich war, wie sie sich verhielt.
„Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist“, ich strich ihr über die blonde Mähne.
„Ja ich auch“, sie lachte, „Raoul, sei so gut mein Junge, könntest du mir die Zwiebeln in die Pfanne geben? Ich weiß auch nicht, das sind sicherlich die Nerven, ich hab so ein Zucken in meinen Fingern.“ Ich nahm ihr das Schneidbrett mit den gehackten Zwiebeln ab und gab sie in die Pfanne. Sofort begannen sie in dem heißen Öl zu zischen und zu brutzeln.
Der Regen hämmerte gegen die Fenster in Loreleis Küche. Ein undurchdringlicher Vorhang aus Wasser glitt an der Scheibe hinab. Ich sah hinaus. Die Blumen in ihrem Garten wurden vom Wind hin und hergepeitscht. Gelbe Tulpen. Ihre Lieblingsblumen.
In meiner ersten Woche bei ihr, sagte sie eines Nachmittags zu mir „Lass uns Blumen pflanzen.“ Wir gingen in den Garten. Schon damals haben wir die Zwiebel der gelben Tulpe gepflanzt. Als ich sie fragte, ob sie denn nicht auch andere Farben wolle, lachte sie und meinte: „Gelb, so hell wie die Sonne, so froh wie ein Lachen, so kräftig und rein? Kennst du eine schönere Farbe für Blumen?“ Es kamen mir viele schönere Farben in den Sinn. Aber ich behielt es für mich und ließ sie weiter gelbe Blumen pflanzen. Jahr für Jahr für Jahr.
Lorelei schaltete das Radio ein. Edward Grieg, Morgenstimmung. Ich rührte mit einem Holzlöffel in der Pfanne herum, um die glasigen Zwiebeln vor dem Anbrennen zu hintern.
"Lass mich das tun", forderte Lorelei und ich übergab ihr den Löffel. Sie griff danach, doch der Stiel glitt ihr einfach durch die Finger. Mit einem dumpfen Schlag fiel er auf den Boden. Als ich mich bückte, um ihn aufzuheben, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine abrupt tänzelnde Bewegung Loreleis.

Am letzten ihrer drei freien Tage, war Lorelei wieder im Krankenhaus. Ich wurde wieder gerufen, diesmal jedoch nicht auf ihren Wunsch. Wieder machte ich mir Sorgen.
Mit hastigen Schritten, lief ich den Gang entlang. Nervös klopfte ich an die dreckige Scheibe des Schwesternzimmers.
"Entschuldigung, wo liegt bitte Lorelei Mai?"
Ein Arzt, der zuvor konzentriert auf sein Klemmbrett gestarrt hatte sah auf: "Ich bin Dr. Julius Keller, der behandelnde Arzt von Frau Mai. Sie sind ihr Sohn?"
Er streckte mir seine Hand entgegen und während ich sie zerstreut schüttelte, fragte ich: "Was ist mit meiner Mutter?"
Der Doktor wies mit einer stummen Handbewegung auf einen der beiden blauen Stühle. Ich setzte mich.
"Herr Mai, Ihre Mutter hat heute Morgen versucht sich das Leben zu nehmen. Ihr geht es gut, die Sanitäter waren rechtzeitig bei ihr."
Jede einzelne Faser meines Körpers spannte sich an. Meine Finger gruben sich in die, mit Schaumstoff überzogenen Armlehnen des Stuhles. Die Knöchel traten deutlich hervor und die Fingerknochen standen ab wie Drahtseile. Lorelei und ich waren zwei Säulen, die einander Halt gaben. Und nun sollte eine dieser beiden Säulen wackeln?
"Das glaube ich nicht", sagte ich matt.
"Verzeihen Sie die Frage", der Doktor räusperte sich, "aber wussten sie um die Erkrankung Ihrer Mutter?"
Fast unmerklich schüttelte ich den Kopf. Lorelei war krank? Wieso hatte sie nichts gesagt?
"Frau Mai leidet schon seit geraumer Zeit an Chorea Huntington."
Veitstanz. Ich hatte davon gehört. Eine unheilbare Erkrankung des Gehirns. Psychische Beschwerden. Bewegungsstörungen. Depressionen. Realitätsverlust.
"Wie lange?", fragte ich schwach.
"Acht Jahre", sagte er und nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu, "Chorea Huntington ist erblich bedingt. Das heißt, wenn Ihre Mutter dieses fehlerhafte Gen in sich trägt, haben Sie es zu einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit auch. Es besteht die Möglichkeit sich testen zu lassen. Ihre Mutter bat mich Ihnen das ans Herz zu legen."
Fassungslos und kraftlos vergrub ich meinen Kopf in beide Hände.
"Sie hat mich adoptiert," murmelte ich leise.

 

Hallo Lisalie

Herzlich willkommen hier im Forum!

Zu Beginn nahm ich deine Geschichte etwas lustlos wahr, nicht dass es reizlos geschrieben wäre, aber dem Einstieg messe ich verstärkt Bedeutung zu. Ein paar Sätze, die meine Neugierde wecken oder Spannung auslösen, gewinnen mich eher. Es zieht sich hier über einige Absätze beschreibend hin, was in einer Erzählung nicht falsch sein muss, aber es muss einem dann wirklich fesseln.

An manchen Stellen beschreibst du poesievoll Details, an denen die Form der Kurzgeschichte einen prägnanteren Schreibstil erlauben würde. Etwa nach der Hälfte hattest du mich dann aber am Wickel, da setzte für mich eigentlich die Spannung ein.

Nachfolgend habe ich punktuell aber nicht vollständig festgehalten, was mir so auffiel.

Würde nie mehr etwas so sein, wie es einmal war...

Leerschlag vor Auslassungspunkten [Duden K 17]. Nur bei einem unvollendeten Wort folgen diese direkt dem letzten Buchstaben anschliessend .

Als wir uns zwei Jahre zuvor kennen lernten,

kennenlernten

Ich mochte es[KOMMA] wie sie sich während der Arbeit die einzelnen blonden Strähnen aus dem Gesicht strich,

Im Text hat es noch an verschiedenen Stellen fehlende Kommas, dafür bei ein paar andern Sätzen solche, die überflüssig sind. Diesbezüglich solltest du es nochmals durchsehen.

Nicht alt, wie eine Großmutter, aber alt, wie ein Frau die ihre besten Tage hinter sich hatte.

eine

Trotz Allem, sie war immer noch wunderschön.

Trotz allem, … - Dieser Vertipper tritt nochmals an anderer Stelle auf.

Mit Ausnahme von mir.Doch

Leerschlag nach Punkt.

Doch ich musste bald einsehen, dass Lorelei in ihrem Herzen nur Platz für mich als Sohn hatte und nicht als Mann, der ich geworden war.

Damit wäre immerhin die Situation eines „sozialen und moralischen Inzests“, sie sind annehmbar keine Blutsverwandte, gegeben gewesen. Inzest hatten verschiedene bekannte Literaten schon aufgegriffen, doch, soweit ich mich erinnere, nicht in dieser Konstellation. Doch dein Protagonist erlebt diese ödipale Regung auch mehr als Idealisierung der Frau, die sich seiner annahm.

Ich hob den Hörer ab[PUNKT]

„Sagen sie ihr, dass ich auf dem Weg zu ihr bin. In 5 Minuten werde ich hier sein.“

Die Wohnung befindet sich ja nicht im Spital, ein Kreislauf erübrigt sich. Also eher vielleicht: In 5 Minuten werde ich bei ihr sein.

Ich knallte den Hörer auf die Gabel und riss meinen schwarzen Mantel vom Haken. Noch während ich ihn mir überzog, lief ich mit eiligen Schritten das Treppenhaus hinunter und nach draußen. Schon nach wenigen Metern hingen meine schulterlangen, schwarzen Haare, vom Regenwasser durchtränkt, schwer nach unten.

Dass Mantel und Haare schwarz sind, hat für die Geschichte im weiteren keine wesentliche Bedeutung. Die drei Sätze wirken auf mich mit Ausschmückungen überlastet. Natürlich sollte es nicht einfach kurz und bündig lauten, dass er das Telefon aufhängte und im Regen ins Krankenhaus rannte. Das Ideale in einer KG liegt irgendwo dazwischen, das Wesentliche festhaltend.

Lorelei konnte nicht krank sein. Das war absolut unmöglich. Sie war stark.

Auch wenn ich es als emotionale Überschwänglichkeit des Protagonisten deute, überzeugt es mich nicht. Auch wenn das Antonym von stark kränklich ist, kann es nicht als Abwesenheit von Krankheit an sich interpretiert werden. Hier dünkte mich die Fortsetzung der Gedanken plausibler mit: Sie war immer gesund. Oder doch nicht? Der Zweifel könnte etwas ausgeprägter auftreten, der Arzt spricht am Schluss immerhin von geraumer Zeit seit Ausbruch der Krankheit. Es musste nicht nur psychisch bemerkbar gewesen sein, sondern auch motorisch. Als erste Kennzeichen treten unkontrollierte Bewegungen an Armen und Beinen auf. Dies muss natürlich nicht alles aufgeführt sein, aber doch rückblickend ein ahnendes Erinnern. – Du bringst es beim Zwiebelschneiden dann ein, doch neu kann es nicht sein.

Kein Platzwunde am Hinterkopf, kein Arm in der Schlinge.

Keine

die blonden Haare zu einem Zopf zusammen gebunden.

zusammengebunden

Ich schüttelte ihre Hände ab: „Warum warst du dann im Krankenhaus?

Punkt statt Doppelpunkt nach ab.

„Schimpf doch nicht Paul“, sie stand da, ließ die Schultern hängen, sah mich an, unschuldig,

Punkt statt Komma nach unschuldig. Die nachfolgende direkte Rede steht selbständig, ansonsten müsste der erste Satz dort mit Kleinschreibung beginnen.

da spürte ich einen schrecklichen Krampf in meinem Arm, der hinauf zog,

hinaufzog

Nachdem sie mich untersucht und auch alle Test durchgeführt hatten,

Tests

Ich bin für drei Tage frei geschrieben worden, ist das nicht großartig?“

Möglicherweise sagt man so in Deutschland, präziser dünkte mich aber krankgeschrieben.

Aber auf dem Weg überkamen mich Zweifeln.

Zweifel

Das ich ihr nicht traute, dass sie mir unheimlich war, wie sie sich verhielt.

Dass

So übermütig, wie ein Schulmädchen, so anhänglich, als wäre ich der Vater.

Auch wenn der Protagonist ein leicht ödipales Charakteristikum hat, diese Assoziation finde ich hier überzeichnet und deplatziert. Natürlicher dünkte mich etwas wie: so anhänglich, wie ich sie noch nie erlebte.

„Raoul, was ist los? Du bist so still.“

Hier stutzte ich, im Spital sprach sie ihn doch zweimal mit Paul an! Bei vielen Namen kennt man ja Koseformen, aber Paul und Raoul haben da nur den Klang gemeinsam.

Die Blumen in ihrem Garten wurden vom Wind hin- und hergepeitscht.

hin und her gepeitscht.

„Lass uns Blumen pflanzen[PUNKT]

Aber ich behielt es für mich und ließ sie weiter gelbe Blumen Pflanzen.

pflanzen

Sie sind ihr Sohn?"

Hier würde der Arzt einen rhetorischen Fehler begehen, da es ein Suggestivsatz ist. Besser also: Sind Sie ihr Sohn?

Er streckte mit seine Hand entgegen und während ich sie zerstreut schüttelte[KOMMA] fragte ich: "Was ist mit meiner Mutter?"

mir

"Das glaube ich nicht", sagte ich. Tonlos.

Das tonlos würde ich nicht isoliert stellen, sondern an den vorgehenden Satz anbinden.

Veitstanz. Ich kannte die Krankheit.

Das klingt so bestimmt, als hätte er nicht nur Kenntnisse dazu, sondern sie wäre ihm in ihren Entsprechungen sehr vertraut. Dies wäre mir sehr widersprüchlich zu seiner bisherigen Auffassung. Es würde dies neutralisieren, wenn es etwa lautete: Mir war die Krankheit nicht ganz fremd.

Das heißt, wenn Ihre Mutter dieses fehlerhafte Gen in sich trägt, haben Sie es zu einer fünfzigprozentigen Wahrscheinlichkeit auch.

So schockierend sollte der Arzt nicht sprechen, besser etwa sinngemäss: Das bedeutet, wenn Ihre Mutter dieses fehlerhafte Gen in sich trägt, das Risiko sehr hoch ist, dass Sie auch betroffen sein könnten.

Der Ausgang der Geschichte überraschte mich, das ist dir gelungen. Allerdings fragte ich mich, wieso er nie stutzte, denn als Erwachsener musste er doch über die amtlichen Papiere verfügen, die nicht nur Identität, sondern auch Herkunft belegen? Aus solchen gehen Daten wie Adoption oder Namensänderungen hervor. Doch an sich hat es mich nicht gestört, nur stolpere ich über solche Realitätsverschiebungen. :D

An sich hat mir die Geschichte zunehmend gefallen. Wenn du die eingebrachten Hinweise, sofern sie dich überzeugen, übernimmst, werden dir andere Leser sicher noch weitere Kommentare schreiben.

Ich wünsche dir noch viel Spass beim Lesen, Schreiben und auch Kommentieren anderer Geschichten.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus Lisalie,

mir ging es ähnlich wie Anakreon, ich war nicht gleich von Beginn weg richtig gepackt, aber doch zum Weiterlesen animiert, und ich spürte dann bald auch, wenn schon nicht Begeisterung, so zumindest Wohlwollen für die Geschichte.
Ja, und letztendlich empfand ich sie als eine wirklich sympathische Geschichte, sehr leise und sehr zart irgendwie.
Immerhin erzählst du von einer nicht ganz alltäglichen Beziehung, von einem jungen Mann und seinen Gefühlen für seine Ziehmutter, und das machst du an manchen Stellen wirklich gut, ja, und wenn mir dein Stil auch noch ein wenig ungelenk scheint, gelingt es dir, mir deine Figuren richtiggehend ans Herz zu legen.
Da sind wirklich schöne Stellen drin, finde ich, die Beschreibung des Kennenlernens von Lorelei und Paul (Raoul?) im Kinderheim, oder seine Selbstzweifel bezüglich seines Lebens, und sein trotzdem Zufriedensein, also ich mochte den Typ einfach, auch wenn ich nicht recht wusste, wie alt ich mir den jetzt eigentlich vorstellen sollte.

Einen großen Teil meines Lebens verbrachte ich glücklich in einer Einzimmerwohnung im vierten Stock des achtstöckigen Mietshauses in der Badstraße. Es war ein hübsches Leben hier oben, ich fühlte mich wohl. Darum kam es mir auch nie in den Sinn, darüber nachzudenken, wie es sein könnte, würde sich alles mit einem Schlag ändern. Würde nie mehr etwas so sein, wie es einmal war...
Dieser erste Absatz, also ich weiß nicht, ob’s den überhaupt braucht. Der hat sowas unnötig Einleitendes und obendrein verwirrt mich im weiteren Verlauf der Geschichte dann der Begriff „Einen großen Teil meines Lebens“, weil immerhin war Paul ja seine gesamte Kindheit und halbe Jugend im Kinderheim.
Sie adoptierte mich im Alter von 16 Jahren.
Den Satz würde ich anders formulieren, der ist zwar nicht gerade falsch, aber er klingt missverständlich, als wäre Lorelei sechzehn gewesen, ja, und schreib Zahlen aus, das sieht hübscher aus.

War Lorelei eine junge Frau, als der vierzehnjährige Paul sie kennenlernte? Und jetzt ist er ein richtig erwachsener Mann? Keine Ahnung, wie gesagt, aber eigentlich nicht so wichtig, oder? Ich weiß nicht recht, auf jeden Fall konnte mich das Schicksal der beiden wirklich berühren, also ich sehe, dass du da eine wirklich schöne Geschichte hast, ich will’s nicht gerade einen „Rohdiamanten“ nennen, aber wenn du noch dran arbeitest, könnte da wirklich was sehr Feines draus werden.

Anakreon hat dir ja schon ein paar Mängel aufgezeigt, über die Kommasetzung solltest du dich wirklich mal schlaumachen, und ich will dir noch einen beispielhaften Absatz anführen, um dir zu zeigen, woran du arbeiten solltest:

Der Doktor wies mit einer stummen Handbewegung auf einen der beiden blauen Stühle. Ich setzte mich.
"Herr Mai, Ihre Mutter hat heute Morgen versucht sich das Leben zu nehmen. Ihr geht es gut, die Sanitäter waren rechtzeitig bei ihr."
Jede einzelne Faser meines Körpers spannte sich an. Meine Finger gruben sich in die, mit Schaumstoff überzogenen Armlehnen des Stuhles. Die Knöchel traten deutlich hervor und die Fingerknochen standen ab wie Drahtseile.
Mir ist schon klar, der Doktor sagt nichts, während er auf den Stuhl weist. Aber ist deswegen die Handbewegung stumm? Das mag jetzt haarspalterisch klingen, aber genau auf solche Kleinigkeiten solltest du in einem Text achten. (Solltest du dir bei der Verwendung eines Adjektivs unsicher sein, versuch dir einfach das Gegenteil vorzustellen. Würde das auch funktionieren? Eine sprechende Handbewegung?)
Dass die Stühle blau sind, ist mir eigentlich egal, und dass die Armlehnen mit Schaumstoff überzogen sind auch. (Sollte es doch wichtig sein, ist das Komma vor mit falsch.)
Und statt der Fingerknochen meintest du wohl die Sehnen.

Kleinigkeiten, wie gesagt. Aber solche Sachen meine ich, wenn ich deinen Stil als noch etwas ungelenk bezeichne.
Auf jeden Fall sehe ich in deiner Art zu schreiben echtes Potential schlummern, mir hat die Geschichte überwiegend wirklich gefallen.

offshore

 

Hallo Anakreon, hallo ernst offshore,
vielen Dank für eure Kritik, ich werde sie mir zu Herzen nehmen ;)

viele Grüße,
Lisalie

 

Hi,

Doch ich musste bald einsehen, dass Lorelei in ihrem Herzen nur Platz für mich als Sohn hatte und nicht als Mann, der ich geworden war.
Der ganze erste Absatz ist ein Musterbeispiel für Show, don't tell. Da wird ein großes Adoptions/Inzest-Drama in ein paar Zeilen abgehandelt, da frag ich mich: Was ist denn da los? Adoptiert worden mit 16, war total verliebt in sie, aber och – das hat sich dann alles aufgelöst, jetzt ist sie ja eh alt, was soll's? Bitte! Was geht?
Wie das formuliert ist „musste bald einsehen“ - ja, wann? Als 16jähriger? Hab ich dann eingesehen, mein einziger Bezugspunkt, neues Leben, erwachende Sexualität – och, hab ich dann eingesehen.
Man muss doch dem eigenen Text auch Bedeutung zumessen und das alles ernst nehmen, wie soll man das denn als Leser sonst?

Also: Der Text hat die schwersten Themen, die man sich nur vorstellen kann. Die allerschwersten: Es hätte noch Folter in Guantanmo gefehlt und Sklaverei in der 3. Welt, sonst ist hier alles drin. Und der Text kommt den Themen überhaupt nicht bei, weil das ein ganz andres Instrumentarium erfordern würde, einen ganz anderen Aufbau des Textes.
Dann hat man als Schlußpointe: Sie legt ihm nahe, sich testen zu lassen. Dann fragt man sich warum? Ist es doch ihr leiblicher Sohn, den sie als Mädchen weggeben hat und den sie später wieder zu sich nahm, war das alles geplant, dass sie in dem Heim anfängt? Oder: Hat sie vergessen, dass sie ihn adoptiert hat, ist sie total traumatisiert und wirr? Oder: Will sie ihm mit der Geste zu verstehen geben, dass sie ihn als ihr Fleisch und Blut annimmt?
Diese Schlußpointe wäre der Hammer, dieses offene Ende, diese offene Fragen – wenn der Text so ein Ende rechtfertigen würde.
Aber der Text ist echt zu dürr, um die Thematik zu tragen, es fehlt ihm an Format. Schade!
Die einfachsten „Ratschläge“: Sich immer fragen, ob der Leser die Figuren sehen kann, ob sie zum Leben erwacht sind. Nicht nur im Kopf des Autors, auch im Kopf des Lesers. Wenn das klappt, hat man gewonnen.

Gruß
Quinn

 

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