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Vaters Püppchen
„Komm schon, Sophia! Du bist dran. Mach es nicht so spannend.“ Sophia spielte mit dem Bierdeckel, der vor ihr auf dem Tisch lag. Nach der Gesangsübung bei Professor Heimlich hatten sich alle spontan dazu entschieden, in die Kneipe zu gehen, um vor dem großen Kolloquium noch einmal gemeinsam anzustoßen. Das große Kolloquium war am musikwissenschaftlichen Institut das wichtigste Vorsingen. Hier entschied Professor Heimlich, ob man zum Abschluss zugelassen werde. Dieses Kolloquium hatte für diejenigen, die Gesang studierten, eine wegweisende Funktion. Als professioneller Sänger sollte man solch einen Abschluss vorweisen können, denn nur in den seltensten Fällen werden sogenannte Naturtalente ohne eine entsprechende Qualifikation für Musicals, Opern oder ähnliches gebucht. Daher waren alle nervös. Besonders Sophia.
„Na komm schon“, stachelte Ettore, „jeder von uns hat schon eine peinliche Geschichte aus der Kindheit erzählt.“ Sophia blickte zu ihm. Damals, im Chaos des ersten Semesters, war Ettore der einzige Ruhepol gewesen, der einzige, der ihr zugehört und sich um sie gesorgt hatte. Dafür war sie ihm dankbar. „Mir fällt aber keine peinliche Geschichte ein“, sagte sie. Melissa rollte mit den Augen: „Dann erzähl uns einfach irgendeine Kindheitsgeschichte. Du wirst ja wohl nicht die ganze Zeit mit Puppen gespielt haben.“ Die anderen lachten, nur Ettore störte sich an Melissas gehässiger Art. Doch bei dem Wort Puppe kamen Sophia Erinnerungen hoch. Erinnerungen, die schon längst an Farbe verloren hatten, nun aber in ihrem Geist neu koloriert wurden. Sie zögerte kurz: „Okay, vielleicht kann ich euch doch etwas erzählen.“
Ich war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt und war ein eher schüchternes, introvertiertes Kind. Außerdem war meine Mutter in jungen Jahren gestorben, sodass ich mich im Laufe meiner Kindheit immer weiter zurückgezogen hatte. Mein Vater bemerkte das und schenkte mir eine Puppe. Eine von Hand angefertigte, mit echtem blonden Haar und glänzenden Augen. Sie ähnelte mir vom Aussehen, daher nannte ich sie Sofi. Sophia und Sofi, das gefiel mir damals. Ich verbrachte jede Sekunde meines Lebens mit ihr. Beim Fernsehen lachte ich mit ihr über die Kinderserien und beim Essen fütterte ich sie mit dem Gemüse von meinem Teller. Nur zum Gesangsunterricht durfte ich sie nie mitnehmen. Mein Vater entriss sie mir immer mit den Worten, ich würde mich nicht auf das Singen konzentrieren können, wenn Sofi dabei sei. Ich merkte damals schon, dass ihm das Fördern meines Gesangstalents sehr wichtig war, doch ich fürchtete mich immer mehr vor diesen Gesangsstunden, da mir Sofi sehr am Herzen lag und es die einzige Zeit in der Woche war, in der ich nicht ihre Nähe spüren konnte.
Eines Tages spielte ich mit Sofi auf der Straße, als ich ein sonderbares Geräusch vernahm. In unserer Nachbarschaft gab es ein verfallenes Haus. Das Unkraut spross im Garten hervor, sodass man die verwelkten Blüten der dahingesiechten Blumen nicht mal mehr erahnen konnte. Der Efeu rankte unkontrolliert an der brüchigen Fassade des Hauses empor und bedeckte sogar die meisten Fenster. Nur die hölzerne Haustür wurde von dem Efeu verschont. In dem Haus musste es unheimlich dunkel sein. Ich wusste nicht mal, ob dort noch Menschen wohnten und so hatte die Angst vor dem Düsteren bis zu diesem Tag meine kindliche Neugierde gebändigt. Doch dieses sonderbare Geräusch, welches einem metallischen Hämmern glich, quoll mehr und mehr in meine Sinne und letztlich war ich mir sicher, dass sich der Ursprung dieses Lautes hinter der hölzernen Tür des verfallenen Hauses verbergen musste. Ich packte Sofi und schritt vorsichtig in Richtung des düsteren Gebäudes. Mein Vater musste mich aus dem Küchenfenster beobachtet haben, denn sogleich stürzte er aus der Türe heraus. „Sophia! Bleib stehen“, brüllte er und rannte los. Ich wandte mich ihm zu, setzte sogleich die unschuldigste Miene auf, deren Wirkung mir schon in frühesten Kinderjahren bewusst war. „Wohin willst du gehen“, fragte mein Vater sichtlich aufgebracht.
„Ach, nur dahin“, sagte ich, während ich in Richtung des verfallenen Hauses zeigte.
„Nein!“ Entsetzen spiegelte sich in dem Gesicht meines Vaters wider. Die gleißenden Strahlen seiner tiefbraunen Augen schienen mich festhalten zu wollen.
„Aber warum denn nicht?“
„Ich verbiete es dir. Komm mit rein.“
„Warum denn? Ich möchte hier draußen spielen.“
„Fräulein, das muss ich dir nicht erklären!“
„Och, lass mich doch hier spielen, bitte.“
„Na gut, aber denk dran: Geh' nicht in das Haus dort drüben!“
Ich nickte ihm zu, doch war meine Begierde nach Wissen nicht gestillt. Zudem breitete sich in mir das dumpfe Gefühl aus, dass mein Vater mir etwas verheimlichen wollte. Ich war zwiegespalten: einerseits liebte ich meinen Vater, andererseits machte mir seine herrische, dominante Art, die ihn nach dem Tod meiner Mutter bestimmte, Angst und löste Unbehagen in mir aus. Doch ich spielte weiter mit Sofi, wohl lauschend ob des rhythmisch-metallischen Hämmerns, das nur ich zu hören schien, denn Passanten schauten nie in Richtung des düsteren Hauses. Nach einiger Zeit kam ein etwas älterer Nachbarsjunge zu mir, der mich ab und zu neckte und seine Späße mit mir trieb. Als er merkte, dass ich oft mit ängstlich-interessiertem Blick zu dem verfallenen Haus schielte, flüsterte er mir folgendes ins Ohr: „Ja, das ist das Haus der alten Hexe Stimloz. Einst verlor sie ihre Kinder, seitdem hat man sie nicht mehr gesehen. Man sagt, sie reiße Eindringlingen die Stimme aus dem Rachen und flöße sie den Puppen ihrer toten Brut ein, um in dem einsamen Haus etwas Gesellschaft zu haben.“ Ich fuhr erschrocken hoch, doch der Nachbarsjunge lachte mir unverhohlen ins Gesicht, sodass ich nicht wusste, was Wahrheit und was Lüge war. Als ich wieder mit Sofi alleine auf dem Boden saß, das hämmernde Schlagen mir doch im Ohre saß, wuchs die Neugier, denn dass diese Geschichte nicht gänzlich wahr sein konnte, wurde mir doch bewusst. Und so schlich ich mich an die steinerne Mauer, die das Verfallene umgab. Ich zögerte kurz vor dem Eingangstor zum Garten, blickte mich um, doch ich konnte außer dem Geräusch nichts Ungewöhnliches wahrnehmen, sodass mich die Neugierde weiter vorantrieb. Ich führte einen Fuß vor den anderen, bis ich an die hölzerne Tür gekommen war, die aus der Nähe betrachtet viele Risse besaß. Was man aus der Ferne nicht sehen konnte, war, dass diese lediglich angelehnt im Rahmen verharrte. So schob ich die Tür mit meinem rechten Fuß sachte nach innen, drückte Sofi nun doch mit schweißnassen Händen fest an mich, denn obwohl ich neugierig war, war mir das alles nicht völlig geheuer. Sogleich schlug das metallische Hämmern mir dröhnend entgegen. Tok – Tok,-- Tok. Das Geräusch ward lauter, nahm mich an die Hand und geleitete mich vor eine schwere Tür, die gleichsam angelehnt dastand. Noch einmal blickte ich mich um, aber entschied, dass ich nun zu weit gekommen war, um kehrt zu machen – und so siegte die Wissbegierde. Ich drückte die Tür auf und musste allerlei Kraft aufwenden, dazu strömte der Krach immer lauter in mein Gehör. TOK,-- TOK,-- TOK. Gekrümmt stand eine Frau an einem Tisch, mir den Rücken zugewandt, wobei ein Buckel merkwürdig ihre Rückseite bestimmte. Dort stand ich mehrere Sekunden in der halb geöffneten Tür, die mir schrecklich lange vorkamen. TOK,-- TOK,-- TOK. Die rechte Hand der Alten sank auf den Tisch, langsam dreht sie sich zu mir um und gellt mich mit ihren grünen, katzenförmigen Augen an. Das schiefe Maul verzerrt sich zu einer Grimasse. „Ei, ei, was haben wir denn hier“, zischt sie hervor. Ich bemerke den Hammer in ihrer rechten Hand und sehe hunderte, unzählige Puppenköpfe hinter ihr auf dem Tische liegen. Zu ihrer Rechten liegen die zertrümmerten, zu ihrer Linken die intakten. Ich bin unfähig zu sprechen. Zittern. Angst. Die Alte kommt auf mich zu, der Hammer hängt lose in ihrer Klaue. „Du kleines Kindsköpfchen, lass mich mal sehen, was deine Freundin so im Kopfe hat.“ Ich umschlinge Sofi, mir stockt der Atem, die Beine geben nach. Sie entreißt mir meine geliebte Puppe, grässlich zerrt sie an ihrem blonden Haar. Sie führt Sofi an ihre krumme Nase, schnuppert und spricht in höchster, kreischender Tonlage. „Wünsch dir was, Kindsköpfchen.“ Ich schüttele mit dem Kopf, unfähig mich sonst zu bewegen oder gar zu sprechen. Plötzlich fasst die Alte mich am Kopf, drückt feste zu, dass mir schwindelig wird. „Ei, ei. Ich weiß doch, was sich das Kindsköpfchen wünscht.“ Sie drückt bestimmter zu, mir dreht sich alles, da hält sie schlagartig inne und haucht Sofi an. Ich sinke zu Boden, sehe, wie Sofis Äuglein flackern und Sehstrahlen durch das Zimmer gleiten. Ich versuche zu schreien, doch ich kann keinen Laut aus meinem Munde hören. Fiebrige Hitze steigt in mir auf. Die Alte lacht schief, als sie Sofi einen Klaps auf den Rücken gibt. Das Püppchen geht auf mich zu, steif bewegen sich ihre Glieder und mechanisch öffnet sich ihr Mund, aus welchem wunderbare Töne strömen, die sich zu einem Lied formen. Ich starre in ihre tiefbraun verfärbten Augen. Die Ohnmacht überkommt mich, als mein Vater in das Zimmer stürzt. Noch Wochen später hatte Fieber von mir Besitz ergriffen. Die Alte und Sofi hatte ich nie wieder gesehen. Mein Vater sagte mir, dass alles nur ein böser Traum gewesen sei. --
*
Die Runde hatte sich größtenteils aufgelöst, nur noch Melissa, Ettore und Sophia saßen am Tisch. Es war spät, doch Ettore war von Sophias Geschichte noch in düstere Aufregung versetzt. Diese fantastische Erzählung hatte sich tief in seinem Gemüt verankert und ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Und er bemerkte, dass Sophias sonst so neugierig blickende Augen eine trübe Färbung erhalten hatten. Das ehemals Verdrängte hatte wieder vollständig Besitz von ihr ergriffen. So fürchtet sich der Mensch am meisten vor den Augenblicken, in denen die Realität nicht eindeutig von der Einbildungskraft zu unterscheiden ist und solch ein Gefühl – so glaubte Ettore – hatte sich seiner Freundin Sophia bemächtigt. Konnte diese Mär aus der Kindheit Wirklichkeit gewesen sein? Oder war sie nicht vielmehr Ursprung eines kindlichen Fantasiegebildes? Nur Melissa war ob des Erzählten völlig unbeeindruckt: „Na kommt schon, Leute! Wie dein Vater damals gesagt hat, war das bloß ein böser Traum gewesen.“ Ettore hätte gerne Sophias Vater zu diesen Ereignissen befragt, aber er wusste, dass er vor ein paar Jahren gestorben war. „Erzählt mir lieber, wie ihr euch auf das große Kolloquium vorbereitet“, sagte Melissa.
„Hm, ich weiß nicht. Ich versuche wohl einfach nur, meine Stimme die nächsten Tage zu schonen“, sprach Ettore.
„Also eine Freundin von mir schwört ja auf ein Getränk, nein, es ist wohl eher eine Art Medizin, welche die Stimme von jetzt auf gleich samtweich und absolut klar machen soll.“
„Ach, wirklich“, murmelte Ettore desinteressiert, doch im Augenwinkel vernahm er ein Zucken in Sophias Gesicht. Er wusste um ihr sensibles Wesen und ihre Nervosität bescheid.
„Ja, wirklich. Eine alte Frau verkauft es in einem Antiquariat unter dem Namen Das himmlische Öl. Sie wirbt damit, dass die Stimme einen engelsgleichen Klang erhalte.“
Ettore hielt von solchen Hilfsmittelchen nichts. Er wollte schon das Thema wechseln, als Sophia ihn unterbrach und Melissa nach dem genauen Standort des Antiquariats fragte. Melissa grinste zufrieden und gab ihr sogleich Auskunft. Ihm war Melissas Hilfsbereitschaft verdächtig, so was kannte er von ihr nicht. Doch Sophia, in ihrer ängstlichen Sorge bezüglich des großen Kolloquiums, schien das nicht aufzufallen. Sie sprachen im Laufe des Abends noch über allerlei Belangloses und Ettore nahm mit Freude zur Kenntnis, dass Sophia allmählich den trüben Schleier der Kindheitsmär abschüttelte. --
*
Der große Tag war gekommen. Sophia hatte die Nacht kaum einen geruhsamen Schlaf finden können. Das am Morgen vom Schweiße getränkte Bett roch fürchterlich. Sie blickte auf ihr Nachttischschränkchen. Dort stand ein Foto ihres verstorbenen Vaters. Obwohl seine tiefbraunen Augen das Lebenslicht vor langer Zeit verloren hatten, schien es ihr, als würde sie von dem eingerahmten Bild gemustert. Um 12 Uhr sollte das große Kolloquium beginnen. Als sie mit pochendem Herzen auf ihrem Bettrand saß, den Kopf tief in ihren Händen vergraben, beschloss sie, das Antiquariat aufzusuchen.
Sophia betrat das Geschäft. Ihr Eintreten wurde sogleich von einem metallischen Läuten begleitet. Sie erinnerte sich des metallischen Klangs, doch konnte sie über dem Türrahmen eine harmlose, alte Glocke entdecken. Sie atmete tief durch. Der Ladenraum machte einen verkommenen Eindruck und sie konnte keine andere Person ausfindig machen. Sie war alleine. Überall standen Regale mit allerhand kaputten und sonderbar aussehenden Dingen, die von einer staubigen Schicht überzogen waren. So wurde Sophia eines hässlich dreinblickenden Drachenkopfs gewahr, der zu ihrer Rechten aus einem Pappkarton hervor lugte. Entsetzt drehte sie sich um. Sie sah ein großes Gestell, auf welchem viele große, meist braune Flaschen standen, welche mit einem Korken verschlossen waren. An vereinzelten Gefäßen hingen Spinnweben und die Etiketten, die auf den Flaschen klebten, waren vom Schmutze so bedeckt, dass man die Schrift nicht mehr erkennen konnte. Aus den unzähligen gläsernen Behältern, die sich dort vor ihr befanden, pickte sie wahllos eins heraus. Sie wischte mit dem Ärmel ihrer Bluse über das Etikett und las die Aufschrift Elixier des Teufels. Sophia grübelte über den wunderlichen Namen und vergaß für wenige Augenblicke den Grund ihres Kommens. Nachdem sie die Flasche zurückgestellt hatte, bemerkte sie ein besonders großes und ausgesprochen schmutziges Gefäß. Die Staubschicht war so dick, dass man gar nicht erkennen konnte, aus welchem Material der Behälter war. Sophia entfernte auch hier grob den Schmutz, bis sie den Etikettenzug lesen konnte: Sköne Oke prangte dort mit verblassten Lettern. Diese Wörter sagten Sophia nichts und so beschloss sie, das Gefäß wieder zurückzustellen. „Ei, sköne Oke?“, schnatterte plötzlich eine Frauenstimme. Sophia schreckte sofort auf, riss fast eine der so kostbar aussehenden Flaschen mit um. Es war doch bloß eine zierliche Frau, und Sophia beruhigte sich alsbald, denn diese Verkäuferin hatte gar nichts mit der alten Hexe aus der Kindheitsmär gemein, deren Stimme sie zu hören geglaubt hatte. „Nein, ich bin nicht wegen sköne Oke hier“, fing Sophia vorsichtig an. Die Frau regte sich nicht, starrte Sophia scheinbar erwartungsvoll an. Sophia empfand Unbehagen und so fuhr sie fort: „Mir wurde gesagt, dass sie etwas verkaufen würden, womit man seine Stimme etwas…“
„Ei, das himmlische Öl“, fiel ihr die Verkäuferin ins Wort.
„Ja, genau.“
„Ei, ei. Das habe ich. Es ist dort oben. Ich hole eine Leiter.“ Sophia betrachtete die Flasche, die im höchsten Regalfach stand. Sie war die größte in dem ganzen Laden und Sophia wunderte sich, dass ihr diese nicht vorher aufgefallen war. Die kleine Verkäuferin schlurfte heran, platzierte die Leiter vor dem Regal, kletterte empor und packte die große Flasche. Beim Absteigen trat sie ungeschickt gegen die Füße des Regals, sodass aus der Leere, die der große Behälter im obersten Regalfach hinterlassen hatte, etwas Großes hervorpolterte. Es fiel hinunter und landete – wie es der Zufall will – in den Armen von Sophia. Diese blickte in die weit aufgerissenen Äuglein ihrer Kindheitspuppe Sofi. Tok,-- Tok,-- Tok. Die alte Hexe. Der Vater. Metall und Hammer. Sophia ließ die Puppe fallen – Entsetzen – aus dem weit aufgerissenen Mund entfährt kein Ton. „Wieso so Stimloz?“, wisperte die Alte.
„Was?“, krächzte Sophia hervor.
„Wieso so stimmlos?“ Stimmlos. Sie hatte nur stimmlos gesagt. Die zierliche Verkäuferin war harmlos. Sie war nicht die alte Hexe. Es ist bloß ein großer Zufall, sagte sich Sophia. Beruhige dich, dafür gibt es eine Erklärung.
„Das da, das ist meine alte Puppe, die mir mein Vater früher geschenkt hatte.“
„Nee, nee. Das kann nicht sein. Diese Puppe habe ich gemacht. Die hat den Laden nie verlassen“, sagte die Verkäuferin. Sophia betrachtete das Püppchen. Tatsächlich! Sie ähnelten sich, aber diese hier besaß eine andere Kopfform, obgleich die Augen ihr höchst bekannt vorkamen. Die Verkäuferin griff nach der Puppe und setzte sie auf einen Tisch. „Wie viel von dem Öl“, fragte die Frau.
„Ich brauche nicht viel, ich möchte es nur einmal nehmen.“
„Ei, ei. Einmal reicht auch.“ Und so schöpfte die Verkäuferin mit einer kleinen Kelle etwas von der Flüssigkeit ab und füllte es in ein kleines Fläschelchen. Sophia fragte nach dem Preis, worauf die Verkäuferin eine lächerlich geringe Summe nannte. Sie bezahlte das himmlische Öl und dachte zuerst, dass sie ein außerordentliches Schnäppchen ergattert habe, doch als sie beim Verlassen des Antiquariats ein lautes Lachen der Verkäuferin zu hören dachte, fühlte sie sich über das Ohr gehauen.
Sophia trat zögerlich in den großen Saal, der wegen seiner hervorragenden Akustik für das große Kolloquium verwandt wurde. Es waren eine Menge Leute anwesend, sie konnte nur schlecht abschätzen, wie viele Prüflinge sich eingefunden hatten, doch mussten es sicherlich an die 100 sein. Nachdem sie platzgenommen hatte, erscholl die Ansprache von Professor Heimlich. Er saß mit einer Gehilfin vorne an einem Tisch, die zu Prüfenden saßen in Reihen gegliedert davor. Zwischen dem Professor und den Stuhlreihen mochten fünf Meter Platz sein. Hier hatte man zu stehen, wenn man vorsang. Die Augen auf den grimmig schauenden Professor Heimlich gerichtet, der einen bewertete, während man unzählige Blicke im Rücken spürte. Lästernde, feixende, spöttische Blicke. Sophia drückte das kleine Fläschelchen eng an ihren Körper. Auf diesen Tag, auf dieses Vorsingen hatte sie so lange hingearbeitet. Seit ihrer Kindheit hatte sie gesungen, geübt, gelitten. Sie erkannte Ettore, der eine Reihe vor ihr saß und ihr aufmunternd zuzwinkerte. Sophia versuchte zu lächeln, doch ihre verkrampften Muskeln gehorchten nicht ihrem Willen. Professor Heimlich hatte seine Ansprache beendet und rief nun einen Namen nach dem anderen auf. Übelkeit stieg in Sophia hoch, doch sie versuchte, die Fassung zu wahren. So war sie in ihre eigene Welt versunken, in der sie gegen ihre nervöse Angst anzukämpfen suchte, als ihr Name deutlich erscholl. Stille. Die Gehilfin tönte abermals durch den Saal. Mechanisch erhob sich Sophia von ihrem Platz und schritt vor Professor Heimlich, wie sie es sich in ihrem Träumen schon so oft vorgestellt hatte.
„So, Sophia. Was möchtest du uns heute vorsingen“, sprach Heimlich mit kühler Stimme.
„Ich, -- ich wollte…“, krächzte Sophia mit hochrotem Kopf. Ihre Kehle schnürte sich zu, der Atem blieb stecken, sie fühlte die Ohnmacht. Panik.
„Muss – Toilette – Kurz“, presste sie hervor und stürzte aus dem Saal. Das Rauschen in ihren Ohren verschmolz mit dem aufbrausenden Gemurmel unter ihren Kommilitonen. Sophia fiel in die Toilettenräume hinein, zog das Fläschelchen hervor, blickte kurz in den Spiegel und kippte die Flüssigkeit hinunter. Ihr Rachen begann fürchterlich zu brennen. Sie öffnete den Wasserhahn, gierte nach kühler, klarer Flüssigkeit. Kurz danach begann sie zu zucken, verkrampfte, fiel hin, ward ohne Bewusstsein, schreckte auf und atmete wieder. Ihr Puls beruhigte sich nur sehr langsam. Sie kam wieder zu sich. Dies musste nun der positive Effekt des Öls sein. Nur die farbigen Punkte in ihrem Sehfeld irritierten sie, doch hing das vermutlich mit ihrer kurzen Bewusstlosigkeit zusammen. Sie verließ die Toilette, ging durch den Korridor in Richtung der großen Tür. Immer mehr Farben tänzelten an der Wand entlang. Blau, rot, gelb, grün – aber auch schwarz und grau waren dabei. Es rauschte wieder – nein, etwas schien zu röcheln. Mit jedem Meter, den sie sich der Tür näherte, wurde das Geräusch lauter. Die Farbtöne vermengten sich mit diesem sonderbaren Laut, den Sophia nicht einordnen konnte. Sie stand vor dem großen Eingang, blickte sich nochmal um, drückte die Klinke hinunter und schob mit ihrem Fuß die Tür nach innen auf. Sie wurde hineingesogen, stand plötzlich inmitten des Saals, die Prüflinge glotzten ohne Sehkraft aus pechschwarzen Augenhöhlen. TOK,-- TOK,-- TOK. Nicht die Gehilfin sitzt am Tisch, nein, es ist Sofi, das Püppchen aus der Kindheit, der Hammer in ihrer rechten Hand, ihre tiefbraunen Augen tasten Sophia ab, mustern sie, durchlöchern sie. Heimlich geht – der Kopf von einem riesigen, metallisch glänzenden Schnabel bedeckt – die Studenten stehen wie tot. Er packt sich einen Prüfling – der Rachen steht offen – saugt ihn aus und Heimlich lacht, röchelnd, gellend, feixend – das sonderbare Geräusch! Sofi hämmert auf den Tisch. TOK,-- TOK,-- TOK! Mit jedem Schlag treten die leblosen Körper der Studenten näher an Sophia heran – sie unfähig sich zu bewegen. Sie ist umstellt, schaut in tote Höhlen, Puppen. Heimlich will nach ihr greifen, doch Sofi fängt mit glockenheller und samtweicher Stimme an zu singen. Heimlich hält inne. Endlich krallt sich der Wahnsinn Sophia mit glutroten Klauen. Sie möchte lachen, schreien, kreischen, singen, doch kein Laut entfährt ihrem Rachen. Ihre Augen rollen, sie ist rasend, stürzt durch den Raum, wirft sich durch das Fenster. Ein dumpfer Aufschlag. Das Glas zerspringt, es klirrt auf der gepflasterten Straße neben ihrem zerschmetterten Schädel. --
*
Ettore, den der Tod seiner Freundin Sophia lange Zeit arg mitgenommen hatte, lernte später als Sänger entfernte Weltteile kennen und lebte den Traum, welcher Sophia und vor allen Dingen ihrem Vater Zeit ihres Lebens verwehrt worden blieb.