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Vater und Sohn
Ich hoffe dir ist bewusst, wie beschämend das gerade für mich war.
Sein Tonfall war scharf, als wollte er einen Eisblock mit seiner bloßen Stimme zerschneiden, sodass ich unwillkürlich den Kopf drehte.
Du hast mich zutiefst enttäuscht.
Jetzt blickten auch die übrigen Fahrgäste herüber. Es waren nur noch zwei weitere. Der Obdachlose auf dem Notsitz – jedenfalls kam er mir wie ein Obdachloser vor, dem Geruch und Aussehen wegen – verlor jedoch sofort sein Interesse und widmete sich lieber wieder seinen Nägeln, über denen er schon die gesamte Fahrt lang gekauert hatte. Die ältere Frau mir gegenüber schob die Brille, die ihr beim Lesen auf die Nasenspitze gerutscht war, hoch und suchte verwirrt nach dem Urheber der kalten Worte.
Mir war schon immer bewusst, was für ein verdorbener Nichtsnutz du bist, aber selbst ich hätte mir so etwas nie von dir erträumen lassen.
Obwohl ihm nun zweierlei fremde Aufmerksamkeit galt, schien sein eigentlicher Adressat ihn nicht zu bemerken. Stumm starrte der Junge aus dem Fenster, doch die Art, wie er seine Lippen zusammenkniff, deutete auf innere Anspannung. Er hörte sehr wohl mit, jedes einzelne Wort drang in ihn ein. Diese trotzige Nichtbeachtung versetzte den Vater nur noch mehr in Rage.
Sieh mich an wenn ich mit dir spreche!
Jetzt wurde er laut. Widerwillig wandte der Junge seinen Kopf, blickte furchtsam und zugleich beschämt darüber in das verzerrte Gesicht gegenüber. Armer Kleiner, er tat mir wirklich leid. Ich überlegte, ob es wohl ratsam wäre, sich einzumischen. Wahrscheinlich nicht. Auch die ältere Frau schien sich darüber Gedanken zu machen. Sie hatte ihr Buch zögerlich zusammengeklappt, mit einem Zeigefinger zwischen den Seiten. Unsere Blicke trafen sich, einvernehmlich in der gleichen Situation. Der Vater trank einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse.
Das war das letzte Mal, hast du gehört, Junge? Das lasse ich mir nicht mehr von dir bieten! Dieser Unfug hat jetzt ein Ende! Ich werde dir ab jetzt das Leben zur Hölle machen, von nun an kannst du was erleben!
Jetzt stieß er die Worte hastig aus, zischte sie beinahe. Diese Wendung zur unterdrückten Wut war schlimmer als der kalte Zorn von vorhin. Ich beobachtete, wie die Hände des Kleinen unter dem Tisch sich zitternd zu Fäusten ballten. Der Junge schluckte krampfhaft und blickte wieder mit aller Kraft aus dem Fenster.
SIEH MICH AN, VERDAMMT NOCH MAL!
Der Ausbruch, ein Brüllen. Er spuckte dabei, die Speicheltröpfchen setzten sich auf dem reglosen Gesicht des Jungen ab. Selbst der Obdachlose fuhr erschrocken zusammen. Der Zug hielt mit einem Ruck an, aus der Tasse vor dem Vater schwappte Flüssigkeit auf den Tisch. Ich bemerkte, wie ich den Atem angehalten hatte, und stieß die Luft flach wieder aus. Die Miene der Frau wirkte erstarrt. Der Vater trank noch einen Schluck.
DU BASTARD VON EINEM SOHN, DU FEIGLING! ICH BIN DEIN VATER, VERFLUCHT NOCH MAL! Nicht einmal zuhören kannst du wie ein Mann, was? Kleine Memme, schau nur, was aus dir geworden ist.
Sein irres Grinsen triefte vor Verachtung; mir wurde schlecht. Erneut setzte er die Tasse an die Lippen, zufrieden mit sich selbst. Entschlossen öffnete ich den Mund, aber mein Protest blieb lautlos. Der Kleine schien den Tränen nahe.
Ich sollte dich aussetzten, ja, das sollte ich. Glaub nicht, dass Mami dich noch will, wenn ich ihr erst mal alles erzähle. NEIN, ERZIEHEN WERDE ICH DICH! MACH DICH AUF EINE LEKTION GEFASST, UND EINE ORDENTLICHE TRACHT PRÜGEL!
Mit einem Knall schlug die Frau ihr Buch zu. Über der plötzlichen Stille hing eine fast greifbare Bedrohung, nur im Hintergrund das Rauschen des Zuges. Ich sah die Muskeln im hochroten Nacken des Mannes anschwellen. Mit klammen Händen umfasste ich die Sitzlehnen. Im Gesicht der Frau saß die Furcht. Dann zerriss ein leises Klingeln die Spannung. Das Handy des Vaters vibrierte auf dem Tisch.
Arbeit, murmelte er. Das kennste gar nicht, was? Anstand nennt man so was.
Er packte das kleine Gerät und stand auf.
Bleib hier, verstanden?
– zu dem Jungen. Dann drängte er sich hastig durch den Gang ins Freie, nicht ohne vorher eine rüde Geste in Richtung der Frau gemacht zu haben. Als die Tür sich schloss, schluchzte der Junge unterdrückt. Rasch öffnete die Frau ihre Tasche und kramte darin, vielleicht nach einem tröstenden Taschentuch. Doch ein seltsam klirrendes und gleichzeitig schabendes Geräusch ließ sie verwirrt innehalten und aufsehen, mit einer Hand noch immer in den Tiefen tastend.
Langsam schob der Junge die Kaffeetasse über die Länge des Tisches zu sich heran. Seine Tränen waren getrocknet, einer konzentrierten Mimik gewichen. Mit einem entsetzlich lauten und widerwärtigem Ton zog er die Nase hoch. Einen Bruchteil später wusste ich, was nun folgen würde. Der Junge spuckte. In die Tasse. Ein kurzes Plopp, dann war es vorbei, wie ungeschehen. Schockiert riss die Frau die Augen auf, zog langsam ihre Hand aus der Tasche, leer. Verlegen wandte sie den Blick ab.
Der Kleine nahm genüsslich einen kleinen Löffel und rührte kräftig um. Dann schob er die Tasse zurück, auf dem Gesicht ein breites und selbstzufriedenes Lächeln.