Vater mit grauem Bart – warum eigentlich nicht?
Vater mit grauem Bart – warum eigentlich nicht?
„27-jähriger Industriekaufmann tot. Vernachlässigung durch seinen Therapeuten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.“
So oder so ähnlich sah er sich schon in den Schlagzeilen der regionalen Presse. Und das wäre das Aus, egal was dran wäre. In der Bevölkerung bleibt doch immer irgendetwas hängen. Die wollen nur Sensationen, Mord und Totschlag.
Auf dem Praxisschild stand zu lesen: Diplom Psychologe Doktor med. Gernot von Blankenfeld, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse, Alle Kassen, Sprechstunden nach Vereinbarung.
Es prangte an einem edlen Gründerzeithaus, dem prachtvollstem Haus in der Gegend. An der Klingel stand: 1x klingeln – Patienten, 2x klingeln – privat, 3x klingeln – Praxis – außer Patienten.
Doktor von Blankenfeld saß auf seinem, gemütlichen aber abgewetzten Sessel und schaute auf die Armbanduhr, einem Erbstück seines Vaters und murmelte: „Schon 20 Minuten über der Zeit – Frechheit. Andere bräuchten es dringend. Bei neun Monaten Wartezeit für Patiententermine ist es einfach eine bodenlose Unverschämtheit.“
Er stand auf, öffnete einen alten Schrank im Biedermeier-Stil und holte eine Sprühdose und einen Lappen hervor. Er begann seinen Beistelltisch zu polieren, legte sich mit dem Ohr an die Tischplatte, als wolle er den Holzwürmern zuhören – doch er beabsichtigte nur den makellosen Glanz der Oberfläche zu inspizieren. Hier ein Wisch, da ein Anhauchen. Er wechselte zur klassischen Clichécouch und setzte seine Polierarbeit an den Holzteilen dort fort. Sie war sein Heiligtum. Auf ihr hatte er seine Lehranalyse durchlebt und durchlitten. Sein Lehranalytiker schenkte sie ihm zur bestandenen Abschlußprüfung. Überhaupt jedes Teil in der Praxis schien seine Geschichte zu besitzen. Die Möbel hatten quasi eine Persönlichkeit. Sie waren Erbstücke oder Geschenke. Die Umgebung war warm und herzlich und hatte nichts von der Sterilität eines Arztzimmers. Fast schon wie in einem kleinen Museum standen da Reisemitbringsel und Abschiedsgeschenke dankbarer Patienten.
Doktor von Blankenfeld schien inzwischen halbwegs zufrieden mit seinen Polierarbeiten.
Er warf einen Blick in seinen Terminkalender. 15 Uhr Kreisel war zu lesen. Er blätterte die Patientenakte auf. Im Laufe der zwölf Jahre therapeutischer Arbeit mit Gerd Kreisel hatte sich doch so einiges angesammelt. Es kam ihm vor wie gestern: Ein pubertärer, trotziger, blonder Junge wurde von seiner Mutter in die Praxis gezerrt. Nachdem er die hysterische, zappelige, hilflose Mutter aus der Therapie ausgegrenzt hatte konnte sich Gerd öffnen: Er erzählte von den unzähligen Malen wo er Prügel einstecken mußte und zusehen mußte wenn der betrunkene Vater seine Mutter schlug. Meist versteckte er sich unter dem Bett und weinte bis alles vorbei war. Diesem Jungen mußte er einfach helfen. Doch immer wieder brachen die alten Wunden auf. Gemeinsam durchstanden sie seine Drogenprobleme, seinen Schulabbruch nach der elften Klasse Gymnasium, seine Ausbildungsabbrüche und die ersten unglücklichen Liebschaften. Fast wie ein Vater mit seinem Sohn erarbeiteten sie Strategien um die Liebste doch noch herumzukriegen und er gab ihm Trost wenn es wieder mal nicht hinhaute.
Aus dem kleinen Bub war ein erwachsener Mann geworden mit einem eigenen Willen, der ihn heute wohl fernbleiben ließ.
Oder war etwas schreckliches passiert. Letzte Woche verabschiedete er sich besonders innig, umarmte Doktor von Blankenfeld sogar. War es ein Abschied für immer? Hätte er es als langjähriger Therapeut erkennen müssen. Doktor von Blankenfeld wurde es immer wärmer, er lockerte seine Fliege und zog das Jackett aus. Immer schneller blätterte er in der Akte, suchte nach Hinweisen. Doch nichts. Alles ergab keinen Sinn. Dieser verzogene Bengel. Was bildete er sich eigentlich ein?
Ein Psychotherapeut, der von prominenten Patienten und Schauspielern mit 500 DM pro Stunde bezahlt wurde wartete hier für 90 DM Kassensatz auf diesen unzuverlässigen Rotzlöffel.
Oder tat er ihm Unrecht, hatte er einen abgesandten Hilferuf in der Hektik oder mangels Konzentration ungehört verhallen lassen.
„Gerd, Gerd – Du machst mir wieder Kummer.“
Der gestandene Analytiker, ein untersetzter 60–jähriger in dunkler Weste, weißem Hemd, schwarzer Fliege mit einer Brille, bei der er über die halben Gläser hinwegsehen konnte, wirkte plötzlich zappelig, zornig und besorgt zugleich. Es paßte kaum zu seiner sonst stoischen väterlichen Ruhe und Überlegenheit.
Normalerweise sah Doktor von Blankenfeld das Wegbleiben eines Patienten nach längeren Sitzungsreihen als Erfolg an. Ein Patient hatte dann wieder selbst gehen gelernt. Warum ärgerte und sorgte er sich nur so?
Irgendwie war Gerd wirklich wie ein Sohn und zu eigenen Kindern war er nie gekommen. Finanziell reichte es auch nie so recht dafür. Erst das Studium, die Assistenzzeit und dann die Analyseausbildung, die eine Viertelmillion DM verschlang, sein kleines Lehrgebäude, wie er sie scherzhaft nannte. Und dann fand er sich inzwischen zu alt. Ein Papa mit grauem Bart – nein, das wollte er nicht sein. Und da kam Gerd gerade recht, auch wenn er viel Kummer bereitete. Für seine Frau Roswitha, eine kleine flippige Anästhesistin mit viel Temperament führte es ab und zu in eine Identitätskrise ohne eigenes Kind. Den Job als Anästhesistin fand sie sehr überschaubar. Da gab es wenig Neues. Sie versuchte das alles mit Sport zu kompensieren.
Ein bißchen lebten sie schon nebeneinander her. Gernot machte oft spät abends noch Sitzungen oder telefonierte mit Patienten, meist weiblichen Geschlechts. Anfangs regte sie sich noch darüber auf, aber inzwischen war es ihr gleichgültig. Doktor von Blankenfeld hatte heute sogar 2 Stunden für Gerd eingeplant. Um Punkt 16 Uhr nach einer unendlich langen Stunde vergeblichen Wartens fuhr er mürrisch nach Hause. Er legte sich an diesem Abend früh schlafen, na ja, was heißt schlafen, ins Bett.
Gerd ging ihm nicht aus dem Kopf. Das war ja wirklich bedenklich. In der Freizeit über Patienten nachdenken – es war wohl soweit, er brauchte wieder einmal eine Supervisionsstunde bei einem erfahrenen Kollegen, um sich selbst den Rücken zu stärken. Gegen 3 Uhr schlief er endlich ein.
Um 6 Uhr klingelte der Wecker und wie ein Uhrwerk liefen seine morgendlichen, haarklein ausgearbeiteten Vorbereitungen ab. Alles war an seinem Platz und pünktlich um 7 Uhr stand er in seiner Praxis und hing seinen Mantel an den Wandhaken.
Auf dem Weg hatte er sich die Post aus seinem Postfach abgeholt. Werbung, Werbung, Rechnung, Einladung zum Analytikerkongreß und da... eine Postkarte mit nackten Brüsten und Damenpopos. Was war das?
„Lieber Doktor von Blankenfeld,
ich grüße aus Brasilien. Sitze gerade an der Bar, genieße eine Pinacolada und sehe massenweise genau das, was Sie auf der Rückseite erkennen können ;-) Das Leben kann so schön sein. Mußte an Sie denken, wie Sie immer sagten: „Stellen Sie sich Ihr Gegenüber einfach nackt vor, dann verliert es seinen Schrecken.“ Stimmt. Aber hier muß ich es mir nicht vorstellen. Es ist so.
Grüsse
Ihr Gerd Kreisel
PS: Werde erst in ca. 3 Monaten wieder auftauchen.
Doktor von Blankenfeld mußte schlucken. So eine Frechheit. Er hatte sich die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, saß vollkommen zerknautscht bei trübem Wetter in seiner Praxis, den Kalender voller Patienten, kaum Zeit für die Familie und Freizeit. Dieser Rotzlöffel. Über 200 Stunden hatte er in ihn investiert und jetzt sowas.
War das jetzt nicht total unprofessionell? Es ging schließlich um einen Patienten. Und der war wieder glücklich und lebensfroh. Warum also dieser Frust? Als Analytiker hätte er nie so engen emotionalen Kontakt aufbauen dürfen. Er selbst schien nun gekränkt und soweit hätte es nie kommen dürfen. Fall Kreisel, Gerd dürfte dann jetzt wohl als abgeschlossen betrachtet werden.
Und Fall von Blankenfeld, Gernot?
Wie wäre es eigentlich, Roswitha mit ein paar Blumen und einem Spontantrip übers Wochenende nach Venedig zu überraschen?
Und ein Vater mit grauem Bart – warum eigentlich nicht?