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Vampyr
-- Antoine de Saint-Exupéry (1900-44), frz. Flieger u. Schriftsteller
Draussen ziehen die Lichter der schlafenden Stadt an ihm vorbei. Leuchtend weiße Streifen verblassen und sein Gesicht taucht langsam als Spiegelung in der Scheibe auf. Er wendet den Blick ab.
Vor ihm in der U-Bahn sitzen nur wenige Menschen.
Ein alter Mann mit einem braunen Hut und einem grauen Mantel, der anscheinend eingeschlafen ist. Sein Kopf pendelt von einer Seite zur anderen.
Ein junges Paar, dass sich laufend küsst und andauernd kichert und damit die eintönigen Geräusche der Bahn unterbricht.
Ein Junge von nicht mal 12 Jahren, aus dessen riesigen Kopfhörern laute Musik dringt. Sein Kopf bewegt sich hoch und runter. Man den Bass bis hier hinten zu seinem Sitzplatz fühlen.
Und schliesslich die Frau. Sie sitzt 2 Bänke vor ihm, liest in einem Buch, dass sie sofort nach dem Hinsetzen aus ihrer roten Handtasche geholt und seitdem nicht weggelegt hat. Sie hat glatte blonde Haare und helle Haut. Ihre Augen sind blau, das hat er bereits beim Einsteigen gesehen. Sie hat eine schwarze Wollmütze bis kurz über die Ohren heruntergezogen. Die schwarzen Wollhandschuhe liegen neben ihr auf der Sitzbank.
Er rutscht etwas weiter vom Fenster weg, damit er einen Blick auf ihr Profil werfen kann.
Der Bass der Musik prallt in Wellen gegen seine Brust, und der Puls der Frau schlägt genau im gleichen Takt. Er kann das Pulsieren der Schlagader an ihrem Hals sehen.
Plötzlich schlägt sie das Buch zu, streift ihre Handschuhe über und steht auf. Schnell wirft er einen Blick hinaus. Die U-Bahn ist in eine Haltestelle eingefahren. Wie lange hat er auf den Hals der Frau gestarrt? Erst als die Frau in Richtung des Ausgangs am Fenster an ihm vorbei geht, steht er auf und verlässt ebenfalls die Bahn.
Die Tür schliesst sich ächzend hinter ihm und quietschend fährt die Bahn weiter. Er steht einen Moment bewegungslos einen halben Schritt vom Bahnsteigrand entfernt, bevor er sich ebenfalls in Richtung des Ausgangs wendet.
Die Frau hört keine Musik, was mittlerweile selten geworden ist. So gut wie jeder Mensch geht scheinbar nur noch mit Kopfhörern in beiden Ohren nach draussen. Was ihm ganz gelegen kommt. Aber auch ohne laute Musik, die jedes Geräusch von draussen übertönt, wird sie ihn nicht hören.
Als er mit schnellen Schritten die Treppe hinauf geht, ist kein einziges Geräusch in er leeren Haltestelle zu hören.
Oben angekommen braucht er sich gar nicht nach der Frau umzusehen, denn er weiß genau, wo sie hingeht. Er wendet sich nach rechts und nach wenigen Schritten sieht er, wie die Frau in eine Seitenstrasse einbiegt und bereits in ihrer roten Handtasche kramt. Sie sucht den Wohnungsschlüssel.
Als sie vor einer Tür stehen bleibt, ist er nur wenige Schritte von ihr entfernt. Sie schaut sich um, doch die Schatten haben ihn verschluckt und obwohl sie genau in seine Richtung schaut, sieht sie nicht, wie er einen weiteren Schritt auf sie zu kommt.
Sie wendet sich wieder dem Türschloss zu, steckt den Schlüssel ein und dreht ihn herum. Plötzlich legt sich seine Hand über ihren Mund. Sie reisst die Augen auf. Sie sieht wie seine rechte Hand, kalkweiß, die Tür weiter aufdrückt und spürt, wie er sie mit seinem Körper weiter in den Hauseingang schiebt.