- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Völlig losgelöst
Er stand auf dem Absprungplatz des Col de la Foclaz in 1527 m Höhe. Ein wunderbarer Tag, der warme Wind erzeugte die perfekte Thermik. Der See lag still und türkisfarben unter ihm. Die meisten Springer packten schon ihre Sachen zusammen und machten sich auf dem Heimweg. Die Sonne wanderte tiefer und malte das warmorange Licht des zu Ende gehenden Tages. In ihm war es endlich wieder ruhig, er war völlig klar, seine Sinne geschärft. Er roch den harzigen Geruch des Waldes, die warme Brise schmeichelte auf seiner Haut. Perfekt und zu schön um wahr zu sein.
Seit dem Tag als der Arzt ihm sagte, dass sein Krebs zurück sei, hatte er nie mehr einen solchen Frieden gespürt. „Sie sind austherapiert“, hatte der gesagt „jetzt können wir Ihnen nur noch palliativ helfen.“
„Wie lange habe ich noch?“
„Ich weiß es nicht, vielleicht ein paar Monate, mit Glück ein Jahr, wenn wir schnell mit der Chemo beginnen. Sie gewinnen damit etwas Zeit und Lebensqualität. Wir legen ihnen einen Port, das ist schonender für alle. Ordnen Sie Ihre Angelegenheiten und geben Sie Ihrer Frau Vollmachten. Das können Sie jetzt noch tun." Der Arzt stand auf, gab ihm die Hand und verabschiedete sich. „Wir sind jetzt nicht mehr zuständig, melden Sie sich bei Ihrem Hausarzt, der betreut sie weiter. Leben Sie wohl.“
Als er auf den Flur des Krankenhauses trat, wurde ihm schwindelig und er musste sich festhalten. Er ging taumelnd bis zum Parkplatz und erreichte seinen Wagen. Daheim sah er in den Spiegel, „fesch“ aber grau geworden! Hager war er immer, aber jetzt machte sich ein Bauch bemerkbar, fest und rund, wie bei einer Schwangeren. Seine Gesichtsfarbe war blass und etwas gelblich. „Das war es wohl, alter Junge", sagte er zu seinem Spiegelbild.
Seine Frau war im Wohnzimmer und telefonierte, sie sah noch nicht mal auf, als er den Raum betrat. Was hatte er mit dieser Person noch gemein? Sie lag auf dem Sofa, perfekt geschminkt mit einem leicht spöttischen Gesichtsausdruck und beachtete ihn nicht. Sie schwatzte weiter in das Telefon, es ging um Urlaubspläne und Verabredungen zum Shopping. „Sagt man nicht mehr Einkaufen?"
„Die alte Karre", sagte sie und lachte. Ich hoffe, dass ich mit der noch sicher in die Stadt komme. Er kauft mir ja nichts Anständiges, der alte Geizhals." Alter Geizhals? Sicher, er war 23 Jahre älter als sie, aber alt? Sie teilten sein Geld, aber mehr nicht. Sie schmückte sein Ego und er ihren Körper.
Was würde werden? Gemeinsame Kinder hatten sie nicht, sein Sohn lebte in Paris. Der hatte zwei Kinder, seine Enkel. Seine Töchter lebten irgendwo im Süden, den Ort hatte er vergessen.
Sie hatte immer Kinder gewollt, aber er nicht mehr, hatte ja schon drei. Seitdem hat sich ihr Verhältnis bis auf den Nullpunkt abgekühlt. Wenn sie die Vollmacht über ihn hat, würde sie ihn sicher in ein Heim abschieben, fertig.
„Ich verreise“ sagte er ein paar Tage später, morgens nach dem Frühstück. „Für ein paar Tage in die Berge.“
„Ach, schon wieder. Ich will lieber ans Mittelmeer. In Menton hat eine Freundin ein Haus, sie hat mich eingeladen, nächste Woche fliege ich" antwortete sie bestimmt. Diese Freundin kenne ich, dachte er, Sie ist mein alter Geschäftsfreund Martin. "Viel Spaß", erwiderte er emotionslos.
Eine Woche später, stieg er in seinen Wagen. Er hatte seine Gleitschirmausrüstung mitgenommen, ein paar Sachen und sonst nichts. Seinem Freund und Anwalt hatte er ein paar Zeilen geschrieben. Seinen letzten Willen, Heiner würde ihn durchsetzen.
Die Fahrt von Hamburg aus war lang, doch sein alter Benz zog mühelos und bequem über die Höhen der Autobahnen. Der Reiseverkehr hatte begonnen und er fuhr von einem Stau in den nächsten, kam deshalb nur langsam voran und musste bei Limburg in einem Hotel Station machen. Am nächsten Tag ging es weiter am Rhein entlang bis Freiburg und dann über die Schweiz nach Annecy.
Er war erschöpft, als er in dem kleinen Hotel am See ankam, aber beruhigte sich sofort. Die Stadt hat schon südliches Flair, hier hat er sich immer wohl gefühlt. Die mächtigen Berge, die den See einrahmen, begrüßten ihn sofort warmherzig. Am nächsten Morgen schwamm er eine Runde im See, das Wasser war kristallklar und angenehm warm. Dann bummelte er durch die die Gassen der Stadt und kehrte in einer kleinen Kirche ein. Der Geruch von altem Holz und Weihrauch stieg ihm in die Nase. Er atmete tief ein und betrachtete das Kruzifix. „Du hattest keine Wahl,“ dachte er „aber ich entscheide selbst, wie es mit mir zuende geht. Du hast Dich quälen lassen, mich quälen sie nicht weiter. Ich bleibe mein eigener Herr.“ Er wurde ruhig, schloss die Augen.
„Du bist nicht allein“
Es war schon früher Nachmittag, als er sich auf den Weg zum Col de la Foclaz machte. Er folgte der Straße um den See, das geliebte Auto lag glatt auf der Straße und gehorchte ihm. Er hatte alle Fenster geöffnet und genoss den Fahrtwind. Im Radio lief David Bowies Space Oddity. Aus voller Kehle sang er mit.
Zum Pass führte eine schmale kurvenreiche Straße. Angekommen, parkte er den Wagen und trug seine Ausrüstung zum Absprungplatz. Sie kam ihm schwerer vor, als er sie in Erinnerung hatte. Routiniert prüfte er alles noch einmal, bevor er sich fertig machte. Den Brief hatte er im Wagen gelassen.
Die Schönheit des Augenblicks ließen Tränen in seine Augen steigen, sein Herz schlug ihm bis an den Hals, er schluchzte. Der Wind nahm ihn in den Arm.
„Du bist nicht allein!“
Dann lief der los und sprang.