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Väter und Töchter

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Seniors
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21.12.2015
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Väter und Töchter

Mechthild lehnte im Türrahmen zum Arbeitszimmer ihres Vaters, die Hände in den Hosentaschen, einen Fuß gegen die Zarge gestemmt, und betrachtete Albrechts Rücken. Seit sie in Berlin Soziologie studierte, hatte sie die Wörter 'Vater' und 'Mutter' aus ihrem aktiven Wortschatz gestrichen. 'Alberich' nannte sie ihren Erzeuger, wenn von ihm die Rede war. Es war ihr egal, welche Vermutungen ihre Freunde mit diesem Namen verbanden.
Albrecht legte soeben den Hörer auf. Nun saß er steif und unbeweglich in seinem Schreibtischsessel. Nur seine Schultern zuckten. Er schwieg.
„Hallo, hast du was rausgekriegt? Was hat dein Kollege gesagt?“
Mechthild wippte ungeduldig mit dem Fuß. Überhaupt bestimmte Ungeduld ihre momentane Gemütslage. Es war nicht leicht, sich nach der temporeichen, aufregenden Metropole wieder auf das spießige Leben in der Provinz einzulassen. Dazu kam der geheime Groll, dass Albrecht ihr während der Semesterferien kein Geld überweisen wollte. Missmutig betrachtete sie den dunkel gebeizten, ausladenden Schreibtisch mit der akkurat verteilten Marmorgarnitur für Ablage, Stifte und Löschwippe. Albrechts Brief hatte sie aus weit fortgeschrittenen Reiseplänen gerissen, per Anhalter, mit Leuten aus ihrer WG, je weiter weg von zuhause, desto besser.
„Hier kannst du billiger leben. Und deine Mutter braucht dich auch, sie wird für eine Operation drei Wochen im Krankenhaus liegen.“
Um was für eine Operation es sich handelte, hatte er nicht geschrieben. Bei Mechthilds erstem Besuch in der Klinik lachte Hedi und deutete auf ihre bandagierten Beine.
„Typisch dein Vater, aus einer Krampfadernoperation macht er eine Beinamputation. Meinetwegen hättest du nicht nach Hause kommen müssen. Nächste Woche werde ich übrigens entlassen.“

Nächste Woche war übermorgen.
„Also, was ist nun mit Wally? Warum lässt sie sich nicht blicken? Habt ihr wieder Streit wegen Klaus?“
Klaus war Wallys Freund, fünfzehn Jahre älter, geschieden und in den Augen des Vaters kein passender Umgang für seine Tochter, die vor einem halben Jahr ihre erste Stelle als Lehrerin angetreten hatte. Auf dem Land, eine halbe Stunde mit dem Auto, wenn man eines hatte. Klaus, der Sparkassenfilialleiter, fuhr ein schnelles Coupé, ausreichend für zwei Personen und vielleicht noch einen Hund.
„Klaus, der verdammte Mistkerl … Wally ist im Schwangerschaftsurlaub. Ihr Chef wollte gar nicht glauben, dass wir davon nichts wüssten.“
„Schwanger also … wie süß. Ist das nicht ein Grund zur Freude? Und wo steckt sie jetzt?“
„Wenn ich ihn recht verstanden habe, ist sie in Herrsching am Ammersee. In einem Entbindungsheim für Schwangere, die ihr Kind zur Adoption freigeben. Eigentlich darf er das gar nicht verraten.“
Mechthild zuckte zusammen. Ausgerechnet Wally, die ihr noch schlaue Ratschläge für Berlin gegeben hatte. Sie schob den Gedanken weg, straffte sich und baute sich vor ihrem Vater auf.
„Meine Schwester doch nicht! Meine Schwester hat es doch nicht nötig, ihr Kind wegzugeben. Hallo, Opa, dein erstes Enkelkind! Du solltest dich wirklich freuen. Los, rühr dich! Wir fahren nach Herrsching.“
Albrecht Rücken wurde noch steifer. Er strich über die polierte Fläche des Schreibtischs, obwohl da nichts wegzuwischen war. Mechthild hasste diese Wischbewegung.
„Wie soll das denn gehen mit dem alten VW? Außerdem kann ich doch jetzt Hedi nicht alleinlassen. Du musst mir versprechen, ihr nichts davon zu erzählen. Versprichst du's?“
So ist er eben, Alberich, der große Verdränger, der Mitläufer, der Oberfeigling, dachte Mechthild, die Galle stieg ihr brennend in die Speiseröhre hoch, aber nicht mit mir. Ich finde einen Weg nach Herrsching. Ich frag Luise. Sie ballte die Fäuste. Mit Luise kann man reden.

„Aber natürlich, meine Liebe, Herrsching hast du gesagt? Interessant. Das wird sich Ferdinand nicht nehmen lassen. Weißt du, bevor er nach ...“
Sie brach ab, weil eben dieser Ferdinand ins Zimmer trat, wo Luise und Mechthild bei Kaffee und Apfelkuchen über den Notfall berieten.
Luise war für Mechthild eine mütterliche Freundin, eine Zuflucht und eine großzügige Gastgeberin. Sie stammte aus dem gleichen Arbeiterviertel wie Albrecht und Hedi. Im Gleichschritt hatten die Nachbarskinder eine hastig geschlossene Kriegshochzeit, eine Bombardierung und die Not der Nachkriegszeit überlebt. Während Albrecht nach sowjetischer Gefangenschaft in seinen gelernten Beruf als Lehrer zurückkommen durfte, musste Ferdinand als Offizier der Waffen-SS erst einmal für ein paar Jahre untertauchen, natürlich in Südamerika. Luise, eine feingeistige Buchhändlerin mit einer Schwäche für die Oper wie Hedi, hatte sich, so fand Mechthild, eine höchst romantische Geschichte von großer Liebe, Verlust und Wiederfinden zurechtgezimmert, die schließlich mit der Geburt einer Tochter ihre Krönung fand.
„Für mei Madel tu ich alles!“, hatte der vernarrte Vater verkündet, noch bevor das Mädchen die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestand, „die kriagt den Doktor, den kauf ich ihr in St. Gallen, host mi?“, und sein breites, bayerisches Gesicht, das Mechthild unangenehm an FJS erinnerte, wurde durch das Grinsen noch breiter.
Sie schwankte ständig zwischen Abscheu und geheimer Bewunderung wegen der Tatkraft, mit der Ferdinand sein Steinsägewerk geschaffen hatte. Alles hatte damit begonnen, dass er mit einem Musterbuch über die Dörfer zog und den Bauern Grabsteine aufschwatzte.
Nur selten erzählte er von seiner Zeit in Kolumbien. Wenn Mechthild wagte, danach zu fragen, runzelte er die Stirn, überlegte eine Weile und skandierte: „Bogotá …, Bogotá ...“ Es klang wie Gewehrschüsse, meistens stand er auf und verzog sich in sein Büro. Luise verdrehte dann die Augen und tippte sich gegen die Schläfe: „Weißt du, die zwanzig Prozent von seinem Kopfschuss machen ihm manchmal zu schaffen.“

Luise behielt recht. In weniger als einer Stunde war der Reiseplan fertig. Ungefähr vier Stunden würden sie mit dem Mercedes brauchen. Bereits am nächsten Morgen sollte es losgehen.
„Wir holen dich ab, sag, es ist eine Geschäftsfahrt ins Alpenvorland. Dein Vater muss nichts wissen“, Ferdinand legte die Spielregeln fest, „der soll bei seiner Frau bleiben. Lasst mich nur machen. So ein granatenmäßiger Blödsinn von der Wally ...“

Der Kies unter den Rädern knirschte, als Ferdinand mit Schwung auf den Parkplatz einbog. Alle drei stiegen aus, dehnten und streckten sich nach der langen Fahrt. Böiger Wind fuhr durch die uralten Bäume des weitläufigen Parks. Das Aprilwetter hatte wieder einmal umgeschlagen. Mechthild zog ihre Strickjacke enger um die Schultern. Sie fröstelte. Das weiße Haus, die Villa Bornstedt, lag direkt am Ufer des Sees. Entlang der Hausfront standen zwei Reihen Kinderwagen, alle akkurat ausgerichtet, am Lenker ein Fähnchen mit der Aufschrift 'Wartaweil'. Aus den weit geöffneten Fenstern drangen Babygeschrei und beschwichtigende Stimmen.
„Hier sind wir richtig, ich kenn das Anwesen. Hätt' nicht gedacht, dass ich noch einmal in meinem Leben hierherkäme. Wie ist's, wollt ihr zwei nicht einen Spaziergang am See entlang machen? Hier habt ihr eine wunderbare Sicht auf die Alpen.“
„Meinst du nicht, es wäre ganz nützlich, wenn du in Begleitung von Frauen in einem Entbindungsheim auftauchen würdest?“
Luise wollte offensichtlich ihren Mann im Auge behalten. Es war schließlich eine heikle Mission. Da war Diplomatie gefragt.
„A geh', alles, was ich brauch, hab ich hier.“ Er klopfte auf die linke Jackettseite in Höhe seines Herzens und grinste.
„Du meinst wohl, mit deinem Charme kannst du sie bezirzen? Das sind Nonnen, mein lieber Mann, Nonnen!“
„Ja mei, Luiserl, genau, mit meinem Charme und mit meinem Diridari, das passt scho. Dann kommt halt.“
In Südamerika vielleicht, aber nicht in Deutschland, hätte Mechthild gerne gesagt, aber dies war wohl kein passender Augenblick für eine Grundsatzdiskussion.
Die Lobby war in fröhlichen Pastellfarben gehalten. An einer Wand hing ein hölzernes Kruzifix, darunter eine große Vase mit Forsythienzweigen, dekoriert mit bunt bemalten Ostereiern. Drei runde Tischchen und schlichte Holzstühle gaben dem Raum einen überraschend heimeligen Anstrich.
Am Empfangstresen blätterte eine weißgekleidete Schwester in einer Broschüre, auf deren Deckblatt bunte Fotos von fröhlich lachenden Kindern abgebildet waren. Ein Katalog? Mechthild hätte gerne einen genaueren Blick darauf geworfen.
Ferdinand streckte die Rechte aus und rückte vor die Theke.
„Ferdinand Linner, gell', da schaun S', dass wir schon da sind. Und jetzt holen Sie uns das Madel.“
„Ich verstehe nicht ganz, Ferdinand … wer? Waren Sie angemeldet?“
„Aber natürlich, Fräulein, vorgestern schon, das müssen S' doch irgendwo notiert haben.“
Die Schwester zog ein dickes Buch vom Telefon herüber, schlug mehrere Seiten rückwärts und vorwärts um, schüttelte den Kopf.
„Da steht nichts. Ohne Anmeldung können Sie keine unserer Klientinnen sehen.“
„Ja Kruzitürken, das können S' doch nicht machen! Jetzt sind wir durch halb Süddeutschland gefahren. Wissen S' was? Am besten holen Sie die Frau Oberin oder jemanden, der hier was zu sagen hat. Nix für ungut.“
Die Schwester hob die Augenbrauen, zuckte mit den Schultern und wählte eine Nummer.
Mechthild hätte nicht gedacht, dass dieses Manöver klappen könnte. Aber eine paar Minuten später tauchte eine elegante, grauhaarige Dame auf, die sich als Leiterin der Institution zu erkennen gab.
„Lassen Sie den beiden Damen einen Kaffee bringen“, befahl sie und winkte Ferdinand in ihr Büro.
„Der Ferdi ist halt ein Schlitzohr“, sagte Luise halb entrüstet, halb belustigt, „aber glaub mir, anders hätte er die Jahre in Bogotá nicht überstehen können.“
Der Kaffee war heiß und stark, eine Wohltat nach der langen Fahrt, man merkte, dass das Haus auf Gäste eingestellt war. Mechthild wusste eigentlich gar nichts über die Einrichtung, eben nur, dass sie in ihrer Entbindungsstation Adoptionen vermittelte. Daneben gab es auch ein Kinderheim, las sie nun in der Broschüre, die mit dem Kaffee serviert wurde. Adoptionswillige Paare konnten in Gästezimmern auf die Geburt warten und ihre Entscheidung nochmals überdenken, bevor sie glücklich mit einem Neugeborenen von dannen zogen.
Nach einer knappen Stunde kamen Ferdinand und die Leiterin aus dem Büro heraus. Die grauhaarige Dame, hochrot bis unter die Haarwurzeln, nickte nur kurz herüber und verschwand im Treppenhaus nach unten. Ferdinand fletschte die Zähne. Neben dem Triumph über die erfolgreiche Verhandlung schwang Entrüstung in seiner Stimme mit, statt bairisch sprach er jetzt Schriftdeutsch.
„Sie holt die Wally aus der Küche. Die arbeiten hier ohne Vertrag mit den Hausschwangeren. Wenn ihr mich fragt, ist es eine Riesensauerei. Die müssen für Kost und Logis arbeiten und putzen. Nach der Geburt kriegen sie das Kind gar nicht zu sehen. Es gibt anscheinend eine riesige Nachfrage, vor allem aus den USA. Wahrscheinlich ein gutes Geschäft.“
„Und da lassen sie die Wally einfach gehen?“
„Ja, Luiserl, für fünfhundert Bucks. Ich hab der Madam ein wenig von früher erzählt, aus der Zeit hier vor 1945, da wollt' sie mich schnell loswerden. 'Um Gottes Willen', hat's g'sagt, bloß nix aufrühren, das können wir nicht brauchen. Dann nehmen's halt Ihre Nichte wieder mit'. Mir war's recht.“
Mechthild saß beklommen auf dem Stuhl, die Hände zwischen die Knie geklemmt. Wie würde ihre Schwester reagieren? Sie hatte keine Ahnung, nur ein zwiespältiges Gefühl. Es war schlimm, dass der eigene Vater nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um die Tochter vor so einem tragischen Fehler zu bewahren. Am Geld konnte es nicht liegen. Wally hatte ein sicheres Einkommen. Und da war ja auch noch der Sparkassenfilialleiter. Sie verstand Wally nicht. Zu den Eltern hatte sie wohl kein Vertrauen, aber doch hoffentlich zu ihrer Schwester?
Eine junge Frau in einem blauen, fleckigen Arbeitskittel über einem gewaltigen Bauch schleppte sich mühsam die Treppe herauf. Ihre blonden Haare waren zu einem fettigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Die riesigen blauen Augen lagen in tiefen Höhlen. Als sie die Besucher erkannte, machte sie auf dem Absatz kehrt.
Mechthild sprang auf. „Wally, um Gottes Willen, bleib!“ Der Anblick hatte sie wie ein Schlag in die Magengrube getroffen. Ihre attraktive Schwester, die sie so oft beneidet hatte, in diesem jämmerlichen, unwürdigen Zustand!
Luise übernahm nun das Kommando. In kürzester Zeit arrangierte sie, dass Wallys Habseligkeiten zusammengesucht und im Auto verstaut wurden, während Ferdinand im Bayrischen Hof zwei teure Zimmer orderte und einen Tisch fürs Abendessen bestellte.

„Mein liebes Kind, es ist alles gut, lass uns nur machen. Und du musst jetzt nichts erklären. Das hat Zeit."
Luise ließ das Badewasser einlaufen, goss reichlich Schaumbad dazu und legte aus ihrem eigenen Koffer eine elegante, weitgeschnittene Bluse aufs Bett.
Wally ließ alles über sich ergehen, sagte nur ja und nein oder gar nichts, alles fast wie in Trance. Mit Mechthild wechselte sie nur unsichere Blicke.
Beim Abendessen ließ sie nach wenigen Bissen die Gabel sinken, rührte abwesend im Obstsalat, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Immerhin hatte sie mit den frisch gewaschenen Haaren und der großzügig ausgeschnittenen Bluse schon ein wenig Glamour zurückgewonnen. Fragen stellte niemand, nicht mal Ferdinand, der sich ausgiebig seiner Schweinshaxe und einer Flasche Neusiedler Seewein widmete. Immer wieder erzählte er lautstark, wie er die grauhaarige Dame herumgekriegt hatte. Mit viel „Geaschdl, Diridari und Host mi“, trug er sehr zur Unterhaltung der anderen Gäste bei. Es gelang Luise nicht, ihn zu bremsen. Mechthild wäre am liebsten im Boden versunken. Im Hotelzimmer gab es außer einem „gute Nacht, schlaf gut“ keine Kommunikation zwischen den Schwestern. Wally knipste sofort ihre Nachttischleuchte aus und drehte sich auf die Seite. Lange Zeit grübelte Mechthild darüber nach, wie sie das Schweigen brechen könnte. Und wie es nun weitergehen sollte.

Wally blieb nur für zwei Tage bei den Eltern. Der Familienrat, in dem Hedi das Sagen übernommen hatte, bestimmte, dass die Schwangere die letzten drei Wochen bis zum Geburtstermin bei ihrer Patentante in einem anderen Stadtteil verbringen sollte. Dort gab es keine neugierigen Nachbarn und außerdem lag ein Krankenhaus mit Kreißsaal ganz in der Nähe. Hedi hatte Mechthild anvertraut, dass sie sich wahnsinnig auf das Enkelkind freute, Klaus hin oder her. Sie widmete sich hauptsächlich den praktischen Problemen, die nun schnell zu lösen waren.
„Wally ist schließlich nicht die Erste in der Familie, die ein uneheliches Kind kriegt. Mein Gott, die Zeiten ändern sich eben", sagte sie zu Mechthild, „das hast du gut gemacht mit Luise. Auf die konnte ich mich schon immer verlassen, schon während des Krieges.“
„Aber Alberich ist sauer, dabei will er Klaus doch gar nicht als Schwiegersohn.“
„Muss er ja auch nicht, am besten wäre, wir würden den ganz außen vor lassen.“
„So wie ich ihn verstanden habe, möchte er Klaus wegen Unterhaltszahlungen ansprechen, obwohl Wally das abgelehnt hat. Also, da ist irgendwas komisch zwischen den beiden.“
„Zwischen welchen beiden, meinst du jetzt Wally und Klaus oder Wally und Vater?“
„Eigentlich meine ich beide, Klaus und Albrecht. So ein Kuddelmuddel. Wally muss das entscheiden, sie ist zweiundzwanzig. Aber verstehen kann ich sie nicht.“
Einige Tage später klärte sich die Sachlage. Albrecht kam von der Mission Unterhaltszahlung als geschlagener Mann zurück, tief verletzt in seinem Stolz als Vater und angesehener Bürger.
Klaus hatte eiskalt erklärt, er sei nicht der Kindsvater, egal was Wally behauptet habe. Er werde dies, wenn nötig, auch durch ein erbbiologisches Gutachten bestätigten lassen. Und gegen üble Nachrede wisse er sich auch zu wehren. Von da an verkroch Albrecht sich im Arbeitszimmer, ging nicht ans Telefon und lehnte jedes weitere Gespräch in dieser Angelegenheit ab.
„Hätt' er nur auf mich gehört, ich hab's ihm gleich gesagt, diesen Metzgersgang hätt' er sich sparen können“, sagte Hedi, nicht sonderlich betrübt. Sie und Luise waren in deren Haus eifrig damit beschäftigt, eine Erstausstattung für das Baby zusammenzustellen.
„Hör mal, Mechthild, wenn du Wally besuchen gehst, nimm doch diese Liste mit, sie soll ankreuzen, was sie unbedingt davon haben will und was sie sonst braucht. Luise hat noch ein wunderbares Korbbettchen im Keller.“

Mechthild war es inzwischen gelungen, Wally aus der Reserve zu locken. Sie hatte einfach ein paar direkte Fragen gestellt.
„Wer ist denn nun der Vater, wenn es Klaus auf keinen Fall sein kann?“
Wally strich träumerisch über den Babybauch und schaute aus dem Fenster.
„Ich hab es zuerst selbst nicht genau gewusst. Nach diesem blöden Streit wegen seiner Ehemaligen war ich so wütend, dass ich ihm zeigen wollte, ich brauch ihn nicht. Was er kann, kann ich auch.“
„Eine Retourkutsche. So was Altmodisches aber auch. Und wer war denn nun der Glückliche?“
„Da sind die Eltern schuld. Sie wollten mich ja unbedingt mit dem tollen Ami aus dem Goethe-Institut verkuppeln. Ich mochte ihn gar nicht, aber Mama schwärmte so von ihm. Johnny ist so höflich, Johnny ist so smart, Johnny kann so toll singen. Sie kannte ihn vom Extrachor her, auch seine Eltern. Es ist nach der Premierenfeier zu "Show Boat" passiert. Ich hatte zwei Karten, aber Klaus hat mich versetzt.“
„Aber warum hast du Alberich in dem Glauben gelassen, Klaus wär' der Vater?“
„Verstehst du denn nicht? Ich wollte das Kind auf keinen Fall, ich wollte es abgeben. Und ich dachte, Vater würde diese Entscheidung eher akzeptieren, wenn er glaubte, es sei von Klaus. Und außerdem … das Kind wäre ja nach Amerika vermittelt worden, als halber Amerikaner … Das war in Herrsching so abgemacht.“ Wally konnte ganz schön unschuldig blicken.
Mechthild schüttelte den Kopf. „Ziemlich schräg, Schwesterherz, ein Glück, dass du mich hast. Ich werde jedenfalls gern Tante.“
„Ich geb zu, ziemlich unüberlegt. Aber wenn du in die Situtation gekommen wärst ... Okay, ich hatte jetzt Zeit zum Nachdenken. Schon in Herrsching habe ich manchmal nach einer Möglichkeit gesucht, wie ich alles rückgängig machen könnte.“
„Aber du hättest doch mit Hedi reden können.“
„Ach Mechthild, du weißt nicht alles, diese Auseinandersetzungen, ständig lag sie mir in den Ohren wegen Johnny, ich konnte einfach nicht zugeben, dass ich mich einmal auf ihn eingelassen hatte.“

Drei Abende später saßen Mechthild und ihr Vater im ersten Rang des Stadttheaters. Hedi leistete in der Klinik ihrer Tochter Beistand bei der Geburt, die sich unerwartet in die Länge zog.
„Ihr könnt nichts tun, es kann die ganze Nacht dauern. Warum sollten wir die Karten verfallen lassen?“
Es gab 'Salome' von Richard Strauss, eine Premiere, die schon im Vorfeld für Furore gesorgt hatte. Hedi hätte eigentlich mit dem Extrachor auftreten müssen. Mechthild begleitete ihren Vater mit gemischten Gefühlen. Soweit sie wusste, hatte er nicht die geringste Ahnung, welche Rolle eine Premiere im Leben seiner älteren Tochter gespielt hatte.
Das Orchester setzte zu chromatischen Läufen an. Dissonanzen peitschten durch das Opernhaus. Das Publikum erstarrte, betäubt duckte es sich in die Sitze. Salome hatte den Kopf des Jochaanan am Schopf ergriffen und küsste ihn wild. Die Musik schraubte sich zu einem dramatischen Höhepunkt empor.
„Hättest du mich angesehen, Jochanaan, du hättest mich geliebt“, sang Salome, blutüberströmt, in wilder Extase, „und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.“ Hier stürzte die Musik ab in einer rasenden Kadenz.
Das Publikum schwieg ergriffen. Mechthild warf einen Blick auf ihren Vater. Er öffnete den Mund und stieß einen Schluchzer heraus.
Einen, dann noch einen. Schließlich folgte eine ganze Kaskade, die seinen Körper durch und durch schüttelte. Auf dem Sitz neben ihm zischte jemand: „Unerhört! So reißen Sie sich doch zusammen!“
In der zweiten Reihe fingen die Leute an zu flüstern, einige kicherten. Mechthild ergriff Albrecht am Arm und zog ihn an den entrüsteten Besuchern vorbei Richtung Ausgang. Hochrot flüsterte sie alle drei Sekunden „Verzeihung, bitte verzeihen Sie, darf ich bitte vorbei?“, während Albrecht weiterhin stakkatoartig schluchzte. Im leeren Foyer führte sie ihn zu einem Stuhl und besorgte ein Glas Wasser.
„Was um Gottes Willen ist denn los mit dir?“
Als das Schluchzen allmählich abklang, konnte Albrecht antworten.
„Ach, als Salome gesungen hat, 'Sie sagen, dass die Liebe bitter schmecke', da ... da hab ich an Wally denken müssen, wie sie jetzt kämpft mit den Schmerzen, mit den Wehen … Wenn ich nur wüsste ...“
„Komm, lass uns nach Hause fahren. Da kannst du anrufen. In der Klinik oder bei Luise. Die weiß bestimmt mehr.“
Luise wusste mehr. Es war ein Mädchen und es war alles gut gegangen.

 
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Hej, du liebe wieselmaus,

hier steckst du also. ;) Ich habe deine klugen Kommentare schon vermisst. Kein Wunder, dass du keine Zeit hattest, denn du stromertest ja in wichtiger Mission im letzten Jahrhundert herum.

Ich freue mich immer wieder, wenn du mich nicht nur in andere Regionen unserer Republik zu anderen Zeiten führst, sondern auch so deutlich machen kannst, wie wenig manche Familien offenbar miteinander zu kommunizieren in der Lage waren. Es war kaum auszuhalten. Seltsamerweise würde zumindest gehandelt, akzeptiert und verziehen.
Du hast es geschafft, mir jeden einzelnen Protagonisten nahezubringen und einmal mehr habe ich mir mehr Zeit mit Ihnen gewünscht, damit ihr Charakter deutlicher hervortritt. Und ich bleibe dabei, deine Figuren und Geschichten benötigen mehr Raum.
Liebe Wieselmaus, an deiner Stelle würde ich hier an keiner anonymen Challenge wie den Maskenball Teilnehmen, denn dieser Ton in dieser Familiengeschichte ist eindeutig deiner.
Und das einzige, was ich kritisieren kann und möchte ist eben das ledigliche Ankratzen der Personen. Die hätten so viel mehr zu bieten. Die jüngere Schwester zu jedem Familienmitglied, die stolze grosse Schwester, die lebendige Mutter, Männer, Nachbarn, alle geprägt vom Krieg und der Zeit danach, das Miteinander, Grenzen zu leise zu überschreiten. Ich freue mich, zu lesen, wie emanzipiert deine Frauen in ihren Möglichkeiten agieren. Ich hatte oft ein anderen Bild, ein unterdrücktes und ungebildetes. Das macht mich schon froh, es anders sozusagen aus erster Hand zu lesen.

Danke für's Einstellen dieser Geschichte. Gerne würde ich lesen, wie das "Kleine" die Familie bereichert. :shy:

Lieber Gruß, Kanji

 
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Liebe wieselmaus

Ich füge mich nahtlos an Kanjis Kom an, die Frauen treten erfrischend stark auf, nehmen die Probleme selber in die Hand, und doch gibt es den Generationskonflikt von elterlicher Erwartungshaltung und kindlichem Trotz. Mir hat der Einblick in eine Nachkriegsfamiliensaga recht gut unterhalten.

Für den Einstieg hätte ich noch einen Vorschlag:

Mechthild lehnte im Türrahmen zum Arbeitszimmer ihres Vaters, die Hände in den Hosentaschen, einen Fuß gegen den Zargen gestemmt, und betrachtete Albrechts Rücken. Seit sie in Berlin Soziologie studierte, hatte sie die Wörter 'Vater' und 'Mutter' aus ihrem Wortschatz gestrichen. 'Alberich' nannte sie ihren Erzeuger, wenn von ihm die Rede war.
Wenn sie den Vater schon aus ihrem Wortschatz gestrichen hat, wäre es nicht schlüssiger, hier "zu Albrechts Arbeitszimmer" zu schreiben?

Eigentlich meine ich beides.
für mich hört sich beide besser an.

Wirklich gern gelesen, auch wenn mir der Einblick (noch) etwas wie durch Milchglas betrachtet erschien. Aber eine tiefere
Betrachtung erfordert wohl auch einen längeren Text.

Liebe Grüsse
dot

 

Hallo Wieselmaus,

warum wird immer alles auf die Soziologen geschoben? :lol:

Nein, im Ernst, eine Erzählung im schönsten Sinne des Wortes. Überhaupt mag ich Geschichten aus vergangenen Zeiten sehr. Du hast es geschafft, aus einer wilden, unruhigen Zeit des Aufbruchs einige leise Töne herauszufiltern, die viele menschliche und mitmenschliche Ebenen betreffen.

Deine Figuren sind dabei stimmig und passen gut zusammen, wie ein kleines Orchester. Es hat Freude gemacht, den Text zu lesen.

Viele Grüße

Willi

 
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Hola wieselmaus,

schreiben kannst Du – das steht außer Frage. Eine interessante Geschichte, im angenehmen – passenden – Tempo erzählt. Mit all den feinen Beobachtungen, Boshaftigkeiten und Weisheiten, hat mir die Autorin das ‚Damals’ in Erinnerung gebracht.
In meiner Jugend war oft die Rede von Mädchen, die sich lieber aufgehängt oder den Gashahn aufgedreht hatten, als ein uneheliches Kind zu gebären. Und auch Prüderie, (scheinbare?) Kaltherzigkeit und Frömmelei – oft aus Eigennutz oder ‚um das Gesicht zu wahren’, diese ganzen Heucheleien fallen mir wieder ein. Auch das Schweigen, schlimmer als Schreien – und bequemer.
Bis heute bin ich beklommen (und voller Brass), denn es gibt diese wahnsinnigen Missstände immer noch. Ich will hier keine Polemik gegen die katholische Kirche vom Zaune brechen, aber ich vermute, Du bist katholischen Glaubens – und beschreibst dennoch dieses ‚gutgeführte’ Heim. Da zolle ich Dir Respekt; alle Achtung!
Ja, ich finde Deine Geschichte sehr gelungen. Wenn ich etwas bekritteln wollte, dann ist das subjektiv und hat keine Bedeutung:
Anfangs musste ich, durch Dein zügiges Schreiben zu zügigem Lesen animiert, zurückfahren, denn es kamen doch so einige Personen ins Spiel. Es war aber nicht schwierig, den Überblick zu bekommen.
Hier hingegen hatte ich leichte Schwierigkeiten:

Das Orchester setzte zu chromatischen Läufen an. Dissonanzen peitschten durch das Opernhaus.
Hier stürzte die Musik ab in einer rasenden Kadenz.
Aber das kommt davon, wenn man keine Ahnung hat:D.

Sie schwankte ständig zwischen Abscheu und geheimer Bewunderung wegen der Tatkraft, mit der Ferdinand sein Steinsägewerk geschaffen hatte. Alles begann damit, dass er mit einem Musterbuch über die Dörfer zog und den Bauern Grabsteine aufschwatzte.
Putzig: Schon Bogotá schien mir unnötig hineingepackt, und das Grabstein-Musterbuch auch, doch im Wissen, dass Du Deine Sätze zehnmal auf die Goldwaage legst, schien es mir dann bereichernd und originell – letztlich typisch wieselmaus. Möglicherweise macht noch ein jüngerer Leser die Andeutung, dass ihm bei:

„Hättest du mich angesehen, Jochanaan, du hättest mich geliebt“, sang Salome, blutüberströmt, in wilder Extase, „und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.“
und der Reaktion des alten Herren darauf die Sache doch ein wenig pathetisch erscheint, aber das ist Geschmackssache.

Meine Perlen:

Luise, eine feingeistige Buchhändlerin mit einer Schwäche für die Oper, hatte sich, so fand Mechthild, eine höchst romantische Geschichte von großer Liebe, Verlust und Wiederfinden zurechtgezimmert, die schließlich mit der Geburt einer Tochter ihre Krönung fand.

Mechthild hasste diese Wischbewegung, die immer auftauchte, wenn es Probleme gab.

Hier allerdings ist Dir ein schrecklicher, fast irreparabler Fehler unterlaufen:
... dekoriert mit bunt bemalten Ostereier.
Eijeijei.

Aber wie man das hier so sagt, wenn es ehrlich gemeint ist: Sehr gern gelesen, zumal der Text auch ein Zeitdokument ist.

José

PS.:

Luise verdrehte dann die Augen und tippte sich sich gegen die Schläfe:

Der Kies unter den Rädern knirrschte, ...

Luise wollte offensichtich ...

... sagte Luise halb enttrüstet, ...

Neben dem Triumpf ...

außer einem „gute Nacht, schlaf gut“Lkeine Kommunikation

gegen den Zargen
die Zarge

 

Hallo wieselmaus,

da entführstu uns wieder in die mythischen Gründerjahre unserer schönen Republik und manchem wird das Kürzel

vielleicht geheimnisvoller bleiben, als die Namen der Familie.

Mechthild, eigentlich eine Umformung der Mathilde (ahd. maht ["h" eher kein Dehnungs-h, wie wir es kennen, sondern wahrscheinlicher als Reibelaut, für den wir heute "ch" einsetzen, bedeutet, was wir dann hören "Macht", Kraft und Stärke], hilt(i)a = Kampf), eine junge Frau, die in diesen Jahren aus der Provinz zum Studium nach Berlin, West, zieht, um dann an der Beseitigung des Miefs aus tausend Jahren selbst in ihrer Heimat mitzuwirken, und

Albrecht (ahd. adal = edel, vornehm, beraht = strahlend, glänzend), der zum Hüter des Nibelungenhortes als herrschender Moral Alberich mutiert und wahrscheinlich sich sehnt nach einer Tarnkappe, die eigentlich ein Mantel war, um unsichtbar, zumindest nicht erkannt zu werden - der gute Ruf, man kennt ihn ja noch heute.

Aber recht hat sie, M.,

Es war ihr egal, welche Vermutungen ihre Freunde mit diesem Namen verbanden.
Wahrscheinlich auch des guten unter verwerflichen Moralvorstellungen.

Und doch nimmt die Geschichte, wenn die Familie ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt und nicht den Göttern öffentlicher und veröffentlichter Meinung folgt, einen anderen Verlauf als die ebenso gelungene wie tragische von barnhelmhttp://wortkrieger.de/showthread.php?57946-Die-Schande - an die ich - wie nebenbei - erinnern möchte, wo das münsterländliche vielleicht einige Jahre vor dieser gelungenen, im bairischen spielende Geschichte, liebe wieselmaus, so weit weg ist wie der Mond

josefelipehat schon einige Schnitzer aufgezeigt, und ich hoffe, dass jetzt nix unnötig doppeltes hineingerät

Hier kommt eigentlich der Sinn von Zusammen- und Auseinanderschreibung, die der Duden ja oft nebeneinander duldet, als hätten unterschiedliche Schriftbilder nicht zugleich auch unterschiedliche Bedeutungen, mögen sie sich noch so gering unterscheiden

Außerdem kann ich doch jetzt Hedi nicht allein lassen.
Besser alleinlassen (= im Sich lassen), statt allein lassen i. s. von "ohne Gesellschaft lassen".

Gelegentlich muss der Abschlusspunkt eingefangen werden, wie hier

„Aber natürlich, Herrsching hast du gesagt, interessant. Das wird sich Ferdinand nicht nehmen lassen. Weißt du, bevor er nach ...“[...]
pder hier
und skandierte: „Bogotá …, Bogotá ...“.
Das hat Zeit“.
Hier braucht "Okay" n bissken Luft
Aber wenn du in die Situtation gekommen wärst ...[...]Okay,

So viel oder wenig zwischen zwo Steueererklärungen vom

Friedel

 
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Liebe@Kanji,

da habe ich ja wieder eine treue Begleiterin für meinen Streifzug durch die deutsche Familiengeschichte bekommen. Schön, dass es dir nicht langweilig wird.

Ja, diese Frauen sind verhältnismäßig emanzipiert, was damit zusammenhängen mag, dass Kriegs- und Nachkriegszeit starke Frauen brauchte. Denn viele Männer hatten es schwer, sich physisch und psychisch in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden.
Die fehlende Kommunikation, so habe es es teilweise erlebt, war auch Hilflosigkeit.

Du bedauerst, dass ich meinen Protagonisten nicht mehr Raum gebe, die Beziehungen zwischen ihnen nicht vertiefe.
Ich könnte das schon, wenn ich nur vom Stoff ausgehe, den ich im Kopf habe. Aber meine Geschichten würden länger und länger, wer will hier denn lange Erzählungen lesen? Und ganz ehrlich, wo soll ich denn die Lebenszeit für ein umfangreiches Projekt wie einen Roman hernehmen?
So habe ich die Chance, meine Themen kaleidoskopisch auszubreiten, und als roten Faden den Fokus auf Familiengeschichte (verschiedene Familien!) zu legen.

Liebe Kanji, ich danke dir für dein Wohlwollen und grüße mir Tobi, den ich schon sehr vermisse.

wieselmaus


Lieber dotslash

ich freue mich sehr, dass du dich dem positiven Kommentar Kanjis vorbehaltlos anschließen konntest.
Insofern gilt alles, was ich oben über Tiefgang und Länge formuliert habe, auch für deinen Kommentar.
Die "Milchglasscheibe" interpretiere ich so, dass für dich als Leser zwar die Konturen der Protas gut erkennbar sind, es aber an Schärfe mangelt.

Was ich auf jeden Fall vermeiden möchte, ist das Risiko, zum Kürzen aufgefordert zu werden. Ist auch schon vorgekommen, ganz zu Beginn hier im Forum, und das hab ich mir zu Herzen genommen :shy:.

Deine Verbesserungsvorschläge habe ich aufgegriffen, wo sie leicht umzusetzen waren.
Logisch wäre es schon, wenn ich im ersten Satz zum Arbeitszimmer ihres Vaters vermeiden und durch den Vornamen ersetzen könnte. Nur wäre es mMn für den Leser deutlich schwieriger, die Personen gleich richtig zuzuordnen.
Mechthild benutzt diese Bezeichnungen "Vater" und "Mutter" nicht bzw. nur einmal im Gespräch mit ihrer Mutter, aber in ihrem passiven Wortschatz gibt es die Begriffe natürlich noch, ich habe daher den Text um "aktiven" Wortschatz ergänzt.
Ist ja auch schönes Soziologendeutsch.

Danke für dein Interesse und Lob, sowie freundliche Grüße
wieselmaus

 
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Hallo Willi

Danke sehr für dein Interesse an vergangenen Zeiten. Damals war in der BRD (wie D hartnäckig von links genannt wurde) Soziologie die Wissenschaft, in der man hoffte, Antworten zu finden für einen sich immer schneller drehenden Globus.

Es sind ja erst fünfzig Jahre her, und mir kommt es vor wie ein Quantensprung. Ich erschrecke manchmal, wenn ich als jemand aus dem vorigen Jahrhundert apostrophiert werde. Und doch benutze ich ganz selbstverständlich dieselben technischen Hilfsmittel wie meine Enkel, treibe mich in einem literarischen Forum herum, benutze ein Smartphone und lese meine Tageszeitung mit dem Tablet. Verrückt!

Und dabei spüre ich den Drang, ein wenig von dem alten feeling in die Gegenwart herüberzuretten.

Da bin ich sehr froh, dass sich manche dafür interessieren.

Danke und freundliche Grüße

wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe wieselmaus,

in lockerem Tonfall zeigst du uns eine deutsche Familie der Sechzigerjahre und wie sie und ihre Freunde mit der ungewollten Schwangerschaft der nicht verheirateten Tochter umgehen.

Zu den einzelnen Personen:
An den Universitäten, besonders eben in Berlin, formierte sich in diesen Jahren so etwas wie Auflehnung gegen die Altvorderen, was in letzter Konsequenz zur Studentenrevolte, zur Apo und zur RAF führte.
Deine Mechthild gehört in diesen Zusammenhang. Sie beschreibst du für mein Empfinden von all deinen Personen am besten: jung, aufsässig, frisch und unkompliziert:

Überhaupt bestimmte Ungeduld ihre momentane Gemütslage.

„Schwanger also … wie süß.

Hallo, Opa, das müssen wir verhindern. Los, rühr dich!

Auch Albrecht gewinnt für mich Kontur. Befangen in den Vorstellungen und Zwängen seiner Zeit, unfähig, frei zu entscheiden und zu handeln, ist er der Gegenpart zu Mechthild, schiebt („wischt“) Unangenehmes weg, bis es ihn dann letztendlich doch mit aller Wucht einholt:

„Ach, als Salome gesungen hat, 'Sie sagen, dass die Liebe bitter schmecke', da ... da hab ich an Wally denken müssen, wie sie jetzt kämpft mit den Schmerzen, mit den Wehen … Wenn ich nur wüsste ...“
Aber du beschreibst ihn nicht eindimensional: Er ist nicht so feige, wie es am Anfang scheint, stellt sich seiner ‚Verpflichtung’, versucht für seine Tochter den Unterhalt zu klären.

Auch Hedi gefällt mir. Dir gelingt mit einem Satz eine sehr klare Charakteristik:

„Typisch dein Vater, aus einer Krampfadernoperation macht er eine Beinamputation. Meinetwegen hättest du nicht nach Hause kommen müssen. Nächste Woche werde ich übrigens entlassen.“
Sie steht mit beiden Beinen auf der Erde, sieht die Dinge realistisch. Und sie agiert praktisch, akzeptiert Wallys Baby und wendet sich den Dingen (Liste) zu, die nun angesagt sind. Fraglich bleibt für mich, warum Wally sich mit ihrem Problem nicht an sie wenden konnte, die Tochter zu ihrer Mutter kein Vertrauen hatte und stattdessen alles allein entscheiden musste.
Und warum darf Hedi auch später nichts von der Schwangerschaft und der ‚Befreiung’ Wallys wissen?

Du musst mir versprechen, ihr nichts davon zu erzählen. Versprichst du's?“

Ich glaube, so wie du Hedi (auch später) zeichnest, hätte sie kein Drama daraus gemacht. Oder charakterisierst du mit diesem Satz eher Albrecht?

Auch Luise kann ich mir vorstellen: Sie ist die Freundin der Familie, ist offen und leistet aktive Hilfe.

Luise war für Mechthild eine mütterliche Freundin, eine Zuflucht …

Allerdings hat Mechthild auch zu ihr eine kritische Distanz, die mir eine andere Seite zu zeigen scheint:

Luise, eine feingeistige Buchhändlerin mit einer Schwäche für die Oper, hatte sich, so fand Mechthild, eine höchst romantische Geschichte von großer Liebe, Verlust und Wiederfinden zurechtgezimmert, die schließlich mit der Geburt einer Tochter ihre Krönung fand.

Ein Faden, den du nicht weiter verfolgst, mit dem du Luise (nebenbei aber auch Mechthild) in einem neuen/anderen Licht zeigst.

Über Ferdinand habe ich nachdenken müssen. ‚Mitglied der Waffen-SS’ und ‚Flucht nach Kolumbien’, lassen mich vermuten, dass er aktiv (und möglicherweise brutal) den Nazi-Terror unterstützt hat. Jetzt ist er ein normaler, zwar poltriger, aber anpackender und erfolgreicher Bürger, dessen Handeln allerdings auch weiterhin recht fragwürdig bleibt:

„die kriagt den Doktor, den kauf ich ihr in St. Gallen, host mi?

( FJS eben)

Ich hab der Madam ein wenig von früher erzählt, aus der Zeit hier vor 1945, da wollt' sie mich schnell loswerden.

Ein Mensch, der einem nicht besonders sympathisch ist, der aber in bestimmten Situationen sehr hilfreich sein kann. Mechthild spürt das Widersprüchliche dieses Charakters, akzeptiert es für sich der Sache wegen.

Nun zu Wally: Sie ist ja eigentlich diejenige, um die es geht. Was erfahre ich über sie? Sie ist/ war so etwas wie ein ‚Glamour-Girl’, wurde von ihrem Partner gekränkt und versuchte diese Kränkung durch eine ‚Retourkutsche’ zu kompensieren. Das aus dieser kurzen Beziehung entstandene Kind will sie zur Adoption freigeben.
Unerwähnt bleibt, was es für sie bedeutet hat, sich zu dieser Entscheidung durchzuringen, warum sie sich letztlich zur Adoption entschlossen hat, was sie in diesen langen Monaten empfunden hat. Alles, was das Innenleben Wallys angeht, thematisiert deine Geschichte nicht, du beschränkst dich auf ein paar kurze Bemerkungen:

Wally ließ alles über sich ergehen, sagte nur ja und nein oder gar nichts, alles fast wie in Trance. Mit Mechthild wechselte sie nur unsichere Blicke.
Beim Abendessen ließ sie nach wenigen Bissen die Gabel sinken, naschte [Ich würde hier vielleicht ein anderes Wort wählen] abwesend vom Obstsalat, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet.

Die Gefühle der einzelnen Personen treten in deiner Geschichte hinter ihrem Handeln zurück. Mechthild, die alles anschiebt, ist die einzige, die sich aufregt – zuerst über den passiven Vater, später über die unwürdige Behandlung Wallys. Alle anderen zeigen kaum Emotionen, sie handeln rational und zielorientiert, nach Wallys Befreiung ‚managt’ man die Schwangerschaft.

Wallys Schwangerschaft ist – so kommt es mir vor – der Anlass deiner Geschichte, nicht ihr Thema oder ihr Anliegen.
Aber was ist ihr Thema? Ich könnte es nicht mit Sicherheit sagen? 'Väter und Töchter'? Ich sehe nur einen Vater und eine Tochter (Wally bleibt, obwohl sie diejenige ist, um die es geht, eine Randfigur).

Der einzige, der am Ende Gefühle zeigt, der in einen inneren Konflikt hineingeraten ist, das ist Albrecht. Und er ist auch der einzige, für den ich als Leser etwas empfinde: am Anfang Ablehnung, am Ende Mitgefühl. Er ist die tragische Figur deiner Geschichte. Ähnlich wie Mechthild ist er ein Kind seiner Zeit, handelt so, wie viele andere gehandelt hätten. Die Frauen in deiner Geschichte (Wally ausgenommen) sind aktive und anpackende Frauen: Sie lamentieren nicht, packen an und tun das, was getan werden muss.

Zu den Nebenaspekten:
An manchen Stellen habe ich das Gefühl, dass hier noch reichlich Potential für eine andere Geschichte steckt:
Ferdinand, der SS-Mann, dem seine Vergangenheit keine Probleme zu bereiten scheint und der fröhlich und skrupellos sein Leben weiterlebt.
Seine Frau, die wohl spürt, dass die Wahrheit nichts ist, mit dem man sich brüsten könnte und die die Vergangenheit ihres Mannes mit einem romantischen Zuckerguss überzieht und so deren Brisanz mildert.
Dann noch die Nonnen, die ihre Vergangenheit vertuschen und Frauen, die sich ihnen anvertraut haben, ausbeuten.
Diese Ungeheuerlichkeiten bieten dir möglicherweise Stoff für weitere Geschichten.

Liebe wieselmaus, dein Text ist wieder einmal ein kleines, realistisches Zeitdokument, das beschreibt, nicht hinterfragt. Das überlässt du deinem Leser. Ich habe es gerne und mit Interesse gelesen.

Liebe Grüße
barnhelm


Ps: Du tagst deine Geschichte mit ‚Humor’. Das kann ich leider nicht nachvollziehen. (Mag aber auch an mir liegen.:D)

 

Hallo josefelipe

das Beste zuerst:

Sehr gern gelesen, zumal der Text auch ein Zeitdokument ist

Ja wenn das kein Lob ist, dann weiß ich nicht. Und dann noch von jemandem, der so viel in der Weltgeschichte herumgekommen ist. Herzlichen Dank.

Mein zweites Dankeschön gilt deiner vornehmen Art, mit meinen Fehlern umzugehen. Eieiei. Da brauchte ich erst eine Weile, bis ich dahinterkam, was du meinst. Druckfehler gibt es immer wieder, irgendwie lassen mich auch meine Augen im Stich, da kann ich die Schrift noch so groß einstellen. Ein weiteres Mal durchlesen, ich weiß nicht, ob das was nützt, ich jedenfalls bin da oft betriebsblind, merke zwar, dass was nicht stimmt, komme aber nicht drauf. Sei doch bitte so nett und sag, dass es dir manchmal auch so geht (nur manchmal).

Die Operngeschichte hat mir selbst beim Schreiben ziemlich Spaß gemacht. Ungeniert habe ich bei professionellen Opernbeschreibungen abgekupfert. Musik- und Theaterkritiker haben oft diesen exaltierten Stil. Da wollte ich den Leser absichtlich von dem Höhenflug abstürzen lassen in die eher komische Szene mit dem schluchzenden Vater. Ich habe mit "Humor" getaggt - nach langem Überlegen. Für Mechthild allerdings ein Albtraum an Peinlichkeit, sie sieht in der Erklärung Albrechts (der noch kein alter Herr ist, sondern um die achtundvierzig) keine echten Gefühle, sondern Sentimentalität, Theater eben. Aber ich habe natürlich nichts dagegen, wenn dies anders interpretiert wird, so z. B. bei barnhelm.

Meine Lieblingsfigur ist mein Waffen-SS-Offizier. Dem würde (und könnte) ich ich gerne eine eigene Geschichte widmen. Wenn seine Frau sich an die Schläfe tippt und von den "zwanzig Prozent" spricht, meint sie die im Krieg erworbene Kopfverletzung, die als Erklärung für alles herhalten muss ...

Aber es ist halt mein Grundproblem, dass ich entscheiden muss, was von meinen Einfällen ich nehmen will und wo kürzen angesagt ist. Nicht immer treffe ich hier das rechte Maß.

Nochmals danke für deinen ausführlichen Kommentar und ich wünsche dir einen schönen Frühling und Frühsommer. Auf Demos gehst du ja nicht, oder?

wieselmaus

 

Hej wieselmaus,

hier "muss" ich mich mal zwischendrängeln.

Da wollte ich den Leser absichtlich von dem Höhenflug abstürzen lassen in die eher komische Szene mit dem schluchzenden Vater.

Da war ich eben ganz erschrocken, denn ich fand das gar nicht komisch. Ich war voll des Mitgefühls und zwischen Peinlichkeit und Unbehagen hin- und hergerissen. Der Vater in all seiner Verklemmtheit ist doch eher ein tragischer Held und als er sich dann in der künstlerischen, musikalischen Umgebung befindet und das Ventil aufbricht, bin ich sehr gerührt.
Das Alter des Vaters war mir auch so gar nicht klar, erachtete ich ihn tatsächlich eher in den späten 60ern.

Aber es ist halt mein Grundproblem, dass ich entscheiden muss, was von meinen Einfällen ich nehmen will und wo kürzen angesagt ist. Nicht immer treffe ich hier das rechte Maß.

Liebe Wieselmaus, ich finde, bei deinem Erzählfluss und dem Inhalt, würde es mich üüüüberhaupt nicht stören, wenn du dich den Charakteren mehr widmen würdest, damit mein Bild von Zeit und Personen rund werden kann.

Entschuldige die Einmischung, Kanji

 

Lieber Friedrichard

schön, dass du diese Geschichte für gelungen hältst und natürlich hatte ich "Schande" von barnhelm im Hinterkopf. Es liegen gerade Mal zwanzig Jahre zwischen den beiden ungewollten Schwangerschaften und der Art und Weise, wie man damit umging.
Ein katholisches Milieu bietet bei beiden den Hintergrund, aber da ist doch das Stadt-Land-Gefälle, neben dem sich allmählich ändernden Zeitgeist. Meine Geschichte spielt aber nur kurz in Bayern, die ausgerissene Delinquentin stammt, wie könnte es anders sein, aus dem "Musterländle", wo es schon seit 1848 ziemlich rebellisch zuging. Nicht immer mit Erfolg. Aber ich darf doch bei dieser Gelegenheit an an den lieben Hecker erinnern, der hing nicht am Baume und nicht an einem Strick, sondern an dem Traume der deutschen Republik ...

Danke auch für das Teamwork mit José, dass ihr meine Fehler aufgespürt und verbessert habt. Ich fürchte, ich muss allmählich einen Alterbonus einfordern, denn selbst mehrmaliges Lesen hilft nicht mehr.

Zu FJS möchte ich sagen, dass er für viele meiner Generation eine Reizfigur war, und irgendwie habe ich den Eindruck, er lebt von Zeit zu Zeit auf, da kann ich mich dann von neuem aufregen.

Danke nochmals für deine wie immer anregenden Anmerkungen, besonders zur Namenskunde. Die Assoziationen zu Albrecht reichen bei einer Leserin (außerhalb des Forums) vom "Zwerg" bis zu "albern", was ja auch nicht übel ist.

Ich wünsch dir einen spannenden Sonntag, den du gewiss bei der Sporschau, verbunden mit Wahlberichten, verbringen wirst.

Herzlichst
wieselmaus

 

Hallo wieselmaus,
Du erzählst, da eine schöne Familiengeschichte. Ich finde deine Charaktere interessant und finde es stark, wie du sie in dieser kurzen Geschichte beschreibst. Ich finde die Schwierigkeit liegt bei einer kurzen Geschichte sich auf die wesentlichen Dialoge, Handlungen zu konzentrieren, um die wesentlichen Charakterzüge deiner Figuren aufzuzeigen. Das hast du gut gemeistert. :thumbsup:

Als Kritik muss ich sagen fand ich den Einstieg in deiner Geschichte etwas schwierig.
Als Leser wird man am Anfang mit vielen Figuren konfrontiert und ich musste zu Beginn
einige Sätze nochmals lesen, um die Charaktere korrekt einzuordnen. Insbesondere die Einordnung
der Person "Wally" fand ich am Anfang schwer. Aber du siehst das auch so:

Logisch wäre es schon, wenn ich im ersten Satz zum Arbeitszimmer ihres Vaters vermeiden und durch den Vornamen ersetzen könnte. Nur wäre es mMn für den Leser deutlich schwieriger, die Personen gleich richtig zuzuordnen.
Daher kann ich deine Entscheidung den Vater im ersten Satz nicht zu streichen, bekräftigen.

Aber danach kam ich besser im Text rein und der Lesefluß war besser.
Hatte Spaß gemacht deine Geschichte zu lesen. Wünsche dir einen schönen Tag.

LG
Writer

PS: Ein kleiner Verbesserungsvorschlag:

Aber Papa ist sauer, dabei will er Klaus doch gar nicht als Schwiegersohn.
Statt Papa lieber Alberich schreiben. Das würde die Einstellung von Mechthild zum Wort "Vater" wieder unterstreichen. Denn letzendlich ist Papa auch ein Synonym für Vater.

 

Liebe wieselmaus,

ich gratuliere dir ganz herzlich zu deiner Empfehlung, und muss doch sagen, dass man gerade an dieser Geschichte merkt, dass eine Empfehlung leider nicht nur eine Ehre, sondern manchmal auch eine Bürde ist.

Denn deine Geschichte ist gut. Sehr gut sogar, keine Frage, und ich habe sie gerne gelesen. Sie hat eine Empfehlung definitiv verdient.
Doch jetzt kommt das große ABER:

Die Empfehlung hat - zumindest in mir - so große Erwartungen geweckt, dass deine Geschichte sie einfach nicht erfüllen konnte. Das ist wirklich schade, denn ich glaube, ohne die Empfehlung, bzw ohne den EmpfehlungsTEXT, hätte ich die Geschichte auch anders aufgenommen.
So habe ich den ganzen Text über auf die Gefühle gewartet, die einen

schlagartig mit einer Wucht, die einem den Atem [wegnehmen]
, überraschen. Vermutlich war ich gerade deshalb nicht sensibel genug für die sanften, emotionalen Töne, die du eingebaut hast, ich habe auf das große Gefühlskino gewartet, auf eine dramatische Wendung, vielleicht einen Todesfall oder eine andere Katastrophe - nun ja, und dann kam "nix". Was natürlich nicht stimmt, es kam durchaus etwas, aber ich konnte es irgendwie nicht mehr richtig würdigen.

Ich habe mich mehrmals dabei ertappt, wie ich mir beim Lesen überlegt habe, was vorgefallen sein könnte mit Wally, ob sie vielleicht vergewaltigt wurde und das Kind deshalb nicht will, oder später, ob sie vielleicht bei der Geburt stirbt und die Protagonistin sich dann Vorwürfe macht, dass sie nicht für sie da war ... du siehst, ich habe nur an die 'ganz großen' Dinge gedacht, und dabei das kleine, alltäglich-emotionale vollkommen überlesen.
Sehr, sehr schade.

So, jetzt aber genug herumgekritelt, und vielleicht war es ja sogar mehr eine Kritik an maria.meerhaba, die mich mit ihrem Empfehlungsschreiben zu sehr gespoilert hat, als an deiner Geschichte, denn wie gesagt:

Die Geschichte ist wirklich GUT! Und wenn man sich einmal von den zu hohen Erwartungen losmacht, weiß man das auch zu schätzen :D Vielen Dank, dass du sie mit uns geteilt hast.

Liebe Grüße vom Sommerdieb :)

 
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Liebe@ barnhelm,

gerade hatte ich meine Antwort auf deinen tollen, punktgenauen Kommentar fertig, da ist sie verschwunden und ich kann sie momentan nicht finden.

Das kommt davon, wenn man auf zwei Geräten gleichzeitig schreibt. (und die Technik nicht beherrscht)

Ich kann dir in (fast) allen Ausführungen zustimmen. Zwei, drei Anmerkungen möchte ich doch machen, betrachte sie bitte als Ergänzungen.

Der von dir zitierte Satz

"Du musst mir versprechen, ihr nichts davon zu erzählen. Versprichst du's?"

habe ich tatsächlich Albrecht zugeordnet. Der befürchtet nämlich, dass Hedi schnurstracks ihrer Tochter zu Hilfe eilen möchte. Es deutet sich hier schon an, dass der Vater eher patriarchalisch gestrickt ist, was Fürsorge ja nicht ausschließt. Der andere Vater, Ferdinand, ist der Oberpatriarch, diesen Faden könnte ich ohne weiteres ausspinnen, aber das ist halt eine andere Geschichte.

Töchter und Mütter habens auch nicht immer leicht miteinander. Bei Wally ist viel Trotz im Spiel.

Überhaupt die Geschichten hinter der Geschichte ... Ich könnte mir vorstellen, das gäbe Stoff für lange Diskussionen beim Treffen im Mai.

Den Titel "Väter und Töchter" möchte ich verteidigen. Ferdinand und seine hier namenlose Tochter bilden sozusagen das Buffopaar in dieser Opera. Da wäre viel Komik unterzubringen. Aber auch Tragisches. Mich reizt schon von Jugend an die Tragikkomik in den Ereignissen und Menschen. Mein Humorbegriff ist stark beeinflusst von Gottfried Keller, aber auch von Thomas Mann. Alles tolle Themen für den Mai.

Hier nochmals herzlichen Dank für dein einfühlsames Lesen.

Und schöne Frühlingstage wünscht
wieselmaus, die heute Abend am Fernseher hängen wird.

 
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Liebe maria.meerhaba

weißt du, was ich spannend und mitreißend finde in deinen Kommentaren?

Du gehst schrittweise voran, ganz dem momentanen Eindruck folgend. Da du eine geübte Leserin bist, könntest du natürlich sofort den Daumen nach oben oder unten recken. Aber nein, du gehst Schlangenwege, immer schön dem Text entlang, das Schwert hocherhoben wie eine Jungfrau:shy: von Orleans, um das unschöne Wort oder den misslungenen Satz beiseite zu räumen. Und daneben bist du eine zartbesaitete Seele, die ihren Gefühlen freien Lauf lässt und sich lieber ein happy end wünschte, wenn, ja wenn es das gemeine Leben nur zuließe.

Dein Kommentar ist, wie der zu Tintenfisch, hochemotional und dabei sehr hilfreich. Man ist gut beraten, ihn mehrfach zu lesen, auszuloten, was an Hilfestellung von dir angeboten wird. Ganz einfach ist das nicht immer, das ist dir ja bekannt. Manchmal saust das Schwert auch an unerwarteter Stelle herab.

Ein Wort noch zu den fürchterlichen Namen, die ich meinen Protas gegeben habe. Sie sind heute nicht mehr so gebräuchlich. Bei den vor 1945 Geborenen finden sich bevorzugt "germanische" Namen. Das war politisch gewollt, was du ja auch aus der türkisch-kurdischen Geschichte kennst.

Liebe Maria, nochmals herzlichen Dank. Auch du bist mir jetzt, als Autorin, viel näher. Wirklich schade, dass man dich nicht leibhaftig zu sehen kriegt.

Herzlichst
wieselmaus


Hallo Writer,

ich freue mich, dass dir meine Geschichte zusagt.

Am Anfang gibt es viel Personal, das stimmt. Ich wollte aber gerade die Anfangsszene möglichst aus Mechthilds Blickwinkel gestalten. Die weiß ja, um wen es sich dreht. So ein personaler Erzähler, der dem Leser auf die Sprünge helfen muss, wird oft kritisch betrachtet. Familiengeschichten haben häufig viel Personal, das Problem kenne ich aus anderen Texten von mir. Da habe noch keine überzeugende Lösung gefunden.

Deinen Vorschlag, "Papa" durch "Alberich" zu ersetzen, finde ich konsequent. Dennoch habe ich mich noch nicht ganz dazu durchgerungen. Mechthild redet mit ihrer Mutter vielleicht doch nicht so respektlos, obgleich die Mutter es wahrscheinlich tolerieren würde. Muss ich noch überlegen.

Danke für deinen Kommentar

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo Sommerdieb

schön, dass du wieder an Bord bist. Ich erinnere mich gut an deinen Einstieg hier.
Und an deine tollen Kommentare.

Du findest meine Geschichte gelungen und das freut mich. Marias Empfehlung ist schon sehr emotional formuliert gewesen. Aber Geschichten wirken halt unterschiedlich. Manchmal ist es eine einzige Szene oder Passage, die ganz zentral wird, weil sie beim Leser etwas sehr Persönliches antickert. Ich kenne solche Texte auch.

Deine Erwartungen sind also in eine falsche Richtung gegangen, mehr Hochdrama, mehr Spektakuläres. Damit kann ich so gut wie gar nicht dienen. Aber Dramen schleichen sich manchmal leise heran und es brodelt unter der scheinbar glatten, harmlosen Oberfläche. Das ist so mein Gebiet, wo ich gerne meine Themen suche.

Danke nochmals für dein Interesse trotz anfänglicher Enttäuschung.

Freundliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo wieselmaus,
Ich habe die Geschichte gelesen, bevor sie von maria empfohlen wurde, komme aber jetzt erst dazu, dir einen Kommentar zu hinterlassen.
Ich glaube, die letzte Gschichte, die ich von dir gelesen - und kommentiert - habe, war "Das Schönbergzimmer" im Rahmen der Challenge. Es scheint, und du schreibst es ja auch selbst, dass dir Familiengeschichten am Herzen liegen.

Ich muss zugeben, dass ich am Anfang Probleme hatte, die Ausgangssituation zu verstehen. Die Tochter steht in der Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters, der gerade telefoniert. Und irgendwie kommt raus, dass ein gewisser Klaus ihre Schwester geschwängert hat. Ach so, der Vater hat mit ihrem Chef telefoniert (ernsthaft?), der scheinbar auch sein Chef ist/war (wegen des Kollegen am Anfang)? Oder ist der Chef sein Kollege? Vielleicht etwas kleinlich, aber da war ich etwas verloren.
Na gut, die Wally ist also schwanger. Und davon hat niemand etwas erfahren, sie ist ja auch schon ziemlich weit (praller Bauch später)?
Aber der Chef weiß, dass sie in diesem Entbindungsheim mit Adoptionsfreigabe ist? Was bitte schön hat denn Wally für ein Verhältnis zu ihrem Chef? Das wirkt auf mich seeehr vertraulich. Oder habe ich da etwas mißverstanden?

Und dann taucht auf einmal Lusie auf mit ihrem Mann. Mit Luise kann man reden. Da musste ich dann schon wieder im Geiste springen, hatte ich mich doch gerade erst durch das anfängliche Personal gekämpft.
Luise ist für mich sehr gut gelungen, besser als Ferdinand, der mir zu undurchsichtig bleibt, fast, als würde diese Figur nur dafür erfunden worden sein, um die Sache in dem Entbindungsheim durchziehen zu können. Aber Luise ist gut gezeichnet, zurückhaltend, aber mit den richtigen Dialogen und Aktionen entsteht bei mir ein gutes Bild dieser Frau.

Was ich von Wally leider nicht sagen kann. Sie ist für mich der "schwächste" Charakter, obwohl sich doch - zumindest oberflächlich - alles um sie dreht. Sie geistert durch dieses Heim, will erst nicht weg, dann ist sie doch mit im Hotel, sagt aber nichts, fügt sich auch in das Schicksal, bei der Tante zu wohnen... Und dann plötzlich erzählt sie Mechthild, wie alles wirklich war, und dazu brauchte es nur ein paar direkte Fragen. Der Johnny also. Diese Stelle fand ich leider etwas bemüht aufklärerisch und auch unglaubwürdig. Wer ist Johnny, woher kennt ihre Mutter ihn? Was für ein Streit, der zur Retourkutsche geführt hat?

Der Schluß mit dem Vater war dann für meinen Geschmack ein wenig zu kitschig. Und nebenbei: ich habe den Vater gar nicht als besonders gefühlskalt empfunden (so wie ich in manchen Kommentaren gelesen habe). Für mich ist er eher unsicher, vielleicht überfordert von der Situation, aber er verschließt sich ja nicht, will seinen Beitrag leisten (Gespräch mit Klaus). Also, ich finde ihn eigentlich ziemlich emotional beschrieben von dir (zumindest ist das bei mir so entstanden). Damit will ich sagen, ich hätte persönlich diese Szene nicht gebraucht, um dem Vater zu glauben, dass er an der ganzen Sache gefühlsmäßig teilnimmt und seine Tochter liebt.

Ich habe jetzt wahrscheinlich etwas unstrukturiert einfach drauflos geschrieben. Ich hoffe, du kannst dennoch das eine oder andere für dich herausziehen.

Deinen Schreibstil finde ich der Geschichte angemessen. Ruhig, unaufgeregt, darf ich "lieb" sagen? An einigen Stellen mit so einem leichten Augenzwinkern, das fand ich gut und das könntest du meiner Meinung nach ausbauen (oder verstärkt in deiner nächsten Geschichte).

Liebe wieselmaus, insgesamt eine schöne, kleine Geschichte mit den oben beschriebenen (für mich) Abstrichen. Ich habe zwar noch nicht alles von dir gelesen, aber ich würde mich auf eine Geschichte von dir freuen, in der du ein wenig bissiger wirst (das Augenzwinkern halt), weil ich glaube, dass du das sehr gut könntest.

Beste Grüße,
Fraser

 
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Hallo Fraser,

ich muss wohl akzeptieren, dass nicht gleich jeder Leser mit der Familienstruktur zurechtkommt, weil die Hinweise zu unauffällig platziert sind und tatsächlich eine gewisse Detektivarbeit abverlangen. Aber sie sind vorhanden.

Wenn ich Mechthilds Blickrichtung einhalten möchte, so sollte ich als Autor nicht immer wieder Erklärungen für den Leser einstreuen. Die Zusammenhänge müssten sich aus dem Kontext erschließen lassen. Das ist der Idealfall, den ich wohl nicht erreicht habe. Daran muss ich arbeiten.

Zu den Details:

Albrecht ist Lehrer wie Wally, an verschiedenen Schulen. Der Vater in der Stadt, die Tochter auf dem Land. A. telefoniert mit W.'s Chef (Rektor), also mit einem Kollegen. Der muss natürlich vom Schwangerschafturlaub informiert sein. Die Tochter ist volljährig, über ihr Motiv, das Baby wegzugeben und den Vater glauben zu lassen, Klaus sei der Vater, erfährt man aus dem Gespräch der beiden Schwestern, nachdem Albrecht sich die Abfuhr von Klaus geholt hat. Über Johnny, den tatsächlichen Kindsvater, spricht Wally sehr abfällig, wenn auch nicht plausibel. Das ist von mit gewollt.
Du hast Recht, Wally bleibt als Figur blass. Das war Absicht, weil meine Intention nicht war, die Leidensgeschichte einer jungen Frau zu zeigen, die ein lediges Kind kriegt, sondern die gesellschaftlichen Umstände zu Beginn der Sechziger Jahre, wo mMn die konservativen Werte hinterfragt wurden, und doch
die NS- Vergangenheit personell noch höchst präsent war.
Deshalb ist Ferdinand als weitere Vaterfigur wichtig. Da musste ich meinen Hang zu Sarkasmus und Satire stark zügeln. Aber glaube mir, ich hatte hier konkrete Personen vor Augen. Mechthild tituliert ihren Vater schon mal gleich mit "Opa", kaum dass sie von Wallys Schwangerschaft hört.

Die Opernszene ist natürlich Geschmackssache. Man kann sie als Satire lesen oder auch als Beschreibung der damaligen Theaterrealität. Männer, die lange im Krieg und in Kriegsgefangenschaft waren, hatten manchmal so unerwartete Gefühlsausbrüche, was immer sie ausgelöst haben.

Es freut mich natürlich, dass du Interesse an zeitgeschichtlichen Themen hast. Dafür herzlichen Dank. Schon im "Schönbergzimmer" musste ich im Nachhinein viel erklären. Es ist wahr, nicht alle Fäden werden von mir ausgesponnen. Dann wären meine Geschichten viel, viel länger und ganz bestimmt keine "Kurz-Geschichten mehr.

Ich hoffe, dass du meine Erklärungen nicht als Besserwisserei empfindest. Ich verstehe deine Einwände als ehrliches Interesse.

PS: Sagt dir das Kürzel "FJS" etwas?:D

Herzliche Grüße
wieselmaus


Liebe Bea Milana


ich sehe, dass sich einige Aspekte deines Kommentars mit den Frasers überschneiden. Vielleicht magst du meine Ausführungen dazu oben lesen, vor allem was die Präsentation des Personals angeht.

Besonders die "blasse" Wally scheint zu irritieren.Wenn ich sie weiter charakterisieren soll, dann es eine junge Frau, die sich in die Partnerwahl von den Eltern nicht reinreden lassen will, da ist viel Trotz und Eigensinn im Spiel. Der Kontakt zwischen den Schwestern ist nicht eng, immerhin liegen 800 km zwischen ihnen. Ein Telefon ist damals nicht ständig griffbereit. Ist heute nur schwer vorstellbar.

Mechthild nennt Alberich gleich mal "Opa", pure Ironische Provokation.

Ferdinand hätte Mechthild niemals die Verhandlungen führen lassen. Das "Diridari" (500 Dollar) war ja ausschlaggebend:D. "Wartaweil" war in der Nazizeit ein Erholungsheim für NS-Arbeiterinnen, Ferdinand kannte es ganz gut ...

Die Farbgestaltung in dem Entbindungsheim, ich sage nur "Nierentische" und "Resopal", Pastellfarben lackiert.

Den Satz mit der "rasenden Kadenz" hatte ich ursprünglich so, wie du ihn vorschlägst. Beim lauten Lesen fand ich ihn anders wirkungsvoller, weil pathetisch, und das sollte ironisch wirken als Kontrast zu folgenden Szene. Ist jetzt nicht so, dass mein Herz daran hängt. Ähnlich bei der Doppelung "durch und durch". Hier wollte ich andeuten, dass für Mechthild die Situation unendlich lang war, bis sie ihren Vater hinausgeschafft hatte.

Liebe Bea, du bist mir eine wichtige Stimme, die ich auf keinen Fall überhöre. Danke für deine Mühe. Ich hoffe auf tolle Gespräche beim Gathering.

Herzliche Grüße
wieselmaus

 

Hallo Fraser und Bea Milana,

leider weiß ich gar nicht, ob meine Kommentare vom 27.April bei euch angekommen sind. Es war etwas schwierig gestern.

Gruß wieselmaus

 

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