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Väter und Töchter
Mechthild lehnte im Türrahmen zum Arbeitszimmer ihres Vaters, die Hände in den Hosentaschen, einen Fuß gegen die Zarge gestemmt, und betrachtete Albrechts Rücken. Seit sie in Berlin Soziologie studierte, hatte sie die Wörter 'Vater' und 'Mutter' aus ihrem aktiven Wortschatz gestrichen. 'Alberich' nannte sie ihren Erzeuger, wenn von ihm die Rede war. Es war ihr egal, welche Vermutungen ihre Freunde mit diesem Namen verbanden.
Albrecht legte soeben den Hörer auf. Nun saß er steif und unbeweglich in seinem Schreibtischsessel. Nur seine Schultern zuckten. Er schwieg.
„Hallo, hast du was rausgekriegt? Was hat dein Kollege gesagt?“
Mechthild wippte ungeduldig mit dem Fuß. Überhaupt bestimmte Ungeduld ihre momentane Gemütslage. Es war nicht leicht, sich nach der temporeichen, aufregenden Metropole wieder auf das spießige Leben in der Provinz einzulassen. Dazu kam der geheime Groll, dass Albrecht ihr während der Semesterferien kein Geld überweisen wollte. Missmutig betrachtete sie den dunkel gebeizten, ausladenden Schreibtisch mit der akkurat verteilten Marmorgarnitur für Ablage, Stifte und Löschwippe. Albrechts Brief hatte sie aus weit fortgeschrittenen Reiseplänen gerissen, per Anhalter, mit Leuten aus ihrer WG, je weiter weg von zuhause, desto besser.
„Hier kannst du billiger leben. Und deine Mutter braucht dich auch, sie wird für eine Operation drei Wochen im Krankenhaus liegen.“
Um was für eine Operation es sich handelte, hatte er nicht geschrieben. Bei Mechthilds erstem Besuch in der Klinik lachte Hedi und deutete auf ihre bandagierten Beine.
„Typisch dein Vater, aus einer Krampfadernoperation macht er eine Beinamputation. Meinetwegen hättest du nicht nach Hause kommen müssen. Nächste Woche werde ich übrigens entlassen.“
Nächste Woche war übermorgen.
„Also, was ist nun mit Wally? Warum lässt sie sich nicht blicken? Habt ihr wieder Streit wegen Klaus?“
Klaus war Wallys Freund, fünfzehn Jahre älter, geschieden und in den Augen des Vaters kein passender Umgang für seine Tochter, die vor einem halben Jahr ihre erste Stelle als Lehrerin angetreten hatte. Auf dem Land, eine halbe Stunde mit dem Auto, wenn man eines hatte. Klaus, der Sparkassenfilialleiter, fuhr ein schnelles Coupé, ausreichend für zwei Personen und vielleicht noch einen Hund.
„Klaus, der verdammte Mistkerl … Wally ist im Schwangerschaftsurlaub. Ihr Chef wollte gar nicht glauben, dass wir davon nichts wüssten.“
„Schwanger also … wie süß. Ist das nicht ein Grund zur Freude? Und wo steckt sie jetzt?“
„Wenn ich ihn recht verstanden habe, ist sie in Herrsching am Ammersee. In einem Entbindungsheim für Schwangere, die ihr Kind zur Adoption freigeben. Eigentlich darf er das gar nicht verraten.“
Mechthild zuckte zusammen. Ausgerechnet Wally, die ihr noch schlaue Ratschläge für Berlin gegeben hatte. Sie schob den Gedanken weg, straffte sich und baute sich vor ihrem Vater auf.
„Meine Schwester doch nicht! Meine Schwester hat es doch nicht nötig, ihr Kind wegzugeben. Hallo, Opa, dein erstes Enkelkind! Du solltest dich wirklich freuen. Los, rühr dich! Wir fahren nach Herrsching.“
Albrecht Rücken wurde noch steifer. Er strich über die polierte Fläche des Schreibtischs, obwohl da nichts wegzuwischen war. Mechthild hasste diese Wischbewegung.
„Wie soll das denn gehen mit dem alten VW? Außerdem kann ich doch jetzt Hedi nicht alleinlassen. Du musst mir versprechen, ihr nichts davon zu erzählen. Versprichst du's?“
So ist er eben, Alberich, der große Verdränger, der Mitläufer, der Oberfeigling, dachte Mechthild, die Galle stieg ihr brennend in die Speiseröhre hoch, aber nicht mit mir. Ich finde einen Weg nach Herrsching. Ich frag Luise. Sie ballte die Fäuste. Mit Luise kann man reden.
„Aber natürlich, meine Liebe, Herrsching hast du gesagt? Interessant. Das wird sich Ferdinand nicht nehmen lassen. Weißt du, bevor er nach ...“
Sie brach ab, weil eben dieser Ferdinand ins Zimmer trat, wo Luise und Mechthild bei Kaffee und Apfelkuchen über den Notfall berieten.
Luise war für Mechthild eine mütterliche Freundin, eine Zuflucht und eine großzügige Gastgeberin. Sie stammte aus dem gleichen Arbeiterviertel wie Albrecht und Hedi. Im Gleichschritt hatten die Nachbarskinder eine hastig geschlossene Kriegshochzeit, eine Bombardierung und die Not der Nachkriegszeit überlebt. Während Albrecht nach sowjetischer Gefangenschaft in seinen gelernten Beruf als Lehrer zurückkommen durfte, musste Ferdinand als Offizier der Waffen-SS erst einmal für ein paar Jahre untertauchen, natürlich in Südamerika. Luise, eine feingeistige Buchhändlerin mit einer Schwäche für die Oper wie Hedi, hatte sich, so fand Mechthild, eine höchst romantische Geschichte von großer Liebe, Verlust und Wiederfinden zurechtgezimmert, die schließlich mit der Geburt einer Tochter ihre Krönung fand.
„Für mei Madel tu ich alles!“, hatte der vernarrte Vater verkündet, noch bevor das Mädchen die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestand, „die kriagt den Doktor, den kauf ich ihr in St. Gallen, host mi?“, und sein breites, bayerisches Gesicht, das Mechthild unangenehm an FJS erinnerte, wurde durch das Grinsen noch breiter.
Sie schwankte ständig zwischen Abscheu und geheimer Bewunderung wegen der Tatkraft, mit der Ferdinand sein Steinsägewerk geschaffen hatte. Alles hatte damit begonnen, dass er mit einem Musterbuch über die Dörfer zog und den Bauern Grabsteine aufschwatzte.
Nur selten erzählte er von seiner Zeit in Kolumbien. Wenn Mechthild wagte, danach zu fragen, runzelte er die Stirn, überlegte eine Weile und skandierte: „Bogotá …, Bogotá ...“ Es klang wie Gewehrschüsse, meistens stand er auf und verzog sich in sein Büro. Luise verdrehte dann die Augen und tippte sich gegen die Schläfe: „Weißt du, die zwanzig Prozent von seinem Kopfschuss machen ihm manchmal zu schaffen.“
Luise behielt recht. In weniger als einer Stunde war der Reiseplan fertig. Ungefähr vier Stunden würden sie mit dem Mercedes brauchen. Bereits am nächsten Morgen sollte es losgehen.
„Wir holen dich ab, sag, es ist eine Geschäftsfahrt ins Alpenvorland. Dein Vater muss nichts wissen“, Ferdinand legte die Spielregeln fest, „der soll bei seiner Frau bleiben. Lasst mich nur machen. So ein granatenmäßiger Blödsinn von der Wally ...“
Der Kies unter den Rädern knirschte, als Ferdinand mit Schwung auf den Parkplatz einbog. Alle drei stiegen aus, dehnten und streckten sich nach der langen Fahrt. Böiger Wind fuhr durch die uralten Bäume des weitläufigen Parks. Das Aprilwetter hatte wieder einmal umgeschlagen. Mechthild zog ihre Strickjacke enger um die Schultern. Sie fröstelte. Das weiße Haus, die Villa Bornstedt, lag direkt am Ufer des Sees. Entlang der Hausfront standen zwei Reihen Kinderwagen, alle akkurat ausgerichtet, am Lenker ein Fähnchen mit der Aufschrift 'Wartaweil'. Aus den weit geöffneten Fenstern drangen Babygeschrei und beschwichtigende Stimmen.
„Hier sind wir richtig, ich kenn das Anwesen. Hätt' nicht gedacht, dass ich noch einmal in meinem Leben hierherkäme. Wie ist's, wollt ihr zwei nicht einen Spaziergang am See entlang machen? Hier habt ihr eine wunderbare Sicht auf die Alpen.“
„Meinst du nicht, es wäre ganz nützlich, wenn du in Begleitung von Frauen in einem Entbindungsheim auftauchen würdest?“
Luise wollte offensichtlich ihren Mann im Auge behalten. Es war schließlich eine heikle Mission. Da war Diplomatie gefragt.
„A geh', alles, was ich brauch, hab ich hier.“ Er klopfte auf die linke Jackettseite in Höhe seines Herzens und grinste.
„Du meinst wohl, mit deinem Charme kannst du sie bezirzen? Das sind Nonnen, mein lieber Mann, Nonnen!“
„Ja mei, Luiserl, genau, mit meinem Charme und mit meinem Diridari, das passt scho. Dann kommt halt.“
In Südamerika vielleicht, aber nicht in Deutschland, hätte Mechthild gerne gesagt, aber dies war wohl kein passender Augenblick für eine Grundsatzdiskussion.
Die Lobby war in fröhlichen Pastellfarben gehalten. An einer Wand hing ein hölzernes Kruzifix, darunter eine große Vase mit Forsythienzweigen, dekoriert mit bunt bemalten Ostereiern. Drei runde Tischchen und schlichte Holzstühle gaben dem Raum einen überraschend heimeligen Anstrich.
Am Empfangstresen blätterte eine weißgekleidete Schwester in einer Broschüre, auf deren Deckblatt bunte Fotos von fröhlich lachenden Kindern abgebildet waren. Ein Katalog? Mechthild hätte gerne einen genaueren Blick darauf geworfen.
Ferdinand streckte die Rechte aus und rückte vor die Theke.
„Ferdinand Linner, gell', da schaun S', dass wir schon da sind. Und jetzt holen Sie uns das Madel.“
„Ich verstehe nicht ganz, Ferdinand … wer? Waren Sie angemeldet?“
„Aber natürlich, Fräulein, vorgestern schon, das müssen S' doch irgendwo notiert haben.“
Die Schwester zog ein dickes Buch vom Telefon herüber, schlug mehrere Seiten rückwärts und vorwärts um, schüttelte den Kopf.
„Da steht nichts. Ohne Anmeldung können Sie keine unserer Klientinnen sehen.“
„Ja Kruzitürken, das können S' doch nicht machen! Jetzt sind wir durch halb Süddeutschland gefahren. Wissen S' was? Am besten holen Sie die Frau Oberin oder jemanden, der hier was zu sagen hat. Nix für ungut.“
Die Schwester hob die Augenbrauen, zuckte mit den Schultern und wählte eine Nummer.
Mechthild hätte nicht gedacht, dass dieses Manöver klappen könnte. Aber eine paar Minuten später tauchte eine elegante, grauhaarige Dame auf, die sich als Leiterin der Institution zu erkennen gab.
„Lassen Sie den beiden Damen einen Kaffee bringen“, befahl sie und winkte Ferdinand in ihr Büro.
„Der Ferdi ist halt ein Schlitzohr“, sagte Luise halb entrüstet, halb belustigt, „aber glaub mir, anders hätte er die Jahre in Bogotá nicht überstehen können.“
Der Kaffee war heiß und stark, eine Wohltat nach der langen Fahrt, man merkte, dass das Haus auf Gäste eingestellt war. Mechthild wusste eigentlich gar nichts über die Einrichtung, eben nur, dass sie in ihrer Entbindungsstation Adoptionen vermittelte. Daneben gab es auch ein Kinderheim, las sie nun in der Broschüre, die mit dem Kaffee serviert wurde. Adoptionswillige Paare konnten in Gästezimmern auf die Geburt warten und ihre Entscheidung nochmals überdenken, bevor sie glücklich mit einem Neugeborenen von dannen zogen.
Nach einer knappen Stunde kamen Ferdinand und die Leiterin aus dem Büro heraus. Die grauhaarige Dame, hochrot bis unter die Haarwurzeln, nickte nur kurz herüber und verschwand im Treppenhaus nach unten. Ferdinand fletschte die Zähne. Neben dem Triumph über die erfolgreiche Verhandlung schwang Entrüstung in seiner Stimme mit, statt bairisch sprach er jetzt Schriftdeutsch.
„Sie holt die Wally aus der Küche. Die arbeiten hier ohne Vertrag mit den Hausschwangeren. Wenn ihr mich fragt, ist es eine Riesensauerei. Die müssen für Kost und Logis arbeiten und putzen. Nach der Geburt kriegen sie das Kind gar nicht zu sehen. Es gibt anscheinend eine riesige Nachfrage, vor allem aus den USA. Wahrscheinlich ein gutes Geschäft.“
„Und da lassen sie die Wally einfach gehen?“
„Ja, Luiserl, für fünfhundert Bucks. Ich hab der Madam ein wenig von früher erzählt, aus der Zeit hier vor 1945, da wollt' sie mich schnell loswerden. 'Um Gottes Willen', hat's g'sagt, bloß nix aufrühren, das können wir nicht brauchen. Dann nehmen's halt Ihre Nichte wieder mit'. Mir war's recht.“
Mechthild saß beklommen auf dem Stuhl, die Hände zwischen die Knie geklemmt. Wie würde ihre Schwester reagieren? Sie hatte keine Ahnung, nur ein zwiespältiges Gefühl. Es war schlimm, dass der eigene Vater nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um die Tochter vor so einem tragischen Fehler zu bewahren. Am Geld konnte es nicht liegen. Wally hatte ein sicheres Einkommen. Und da war ja auch noch der Sparkassenfilialleiter. Sie verstand Wally nicht. Zu den Eltern hatte sie wohl kein Vertrauen, aber doch hoffentlich zu ihrer Schwester?
Eine junge Frau in einem blauen, fleckigen Arbeitskittel über einem gewaltigen Bauch schleppte sich mühsam die Treppe herauf. Ihre blonden Haare waren zu einem fettigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Die riesigen blauen Augen lagen in tiefen Höhlen. Als sie die Besucher erkannte, machte sie auf dem Absatz kehrt.
Mechthild sprang auf. „Wally, um Gottes Willen, bleib!“ Der Anblick hatte sie wie ein Schlag in die Magengrube getroffen. Ihre attraktive Schwester, die sie so oft beneidet hatte, in diesem jämmerlichen, unwürdigen Zustand!
Luise übernahm nun das Kommando. In kürzester Zeit arrangierte sie, dass Wallys Habseligkeiten zusammengesucht und im Auto verstaut wurden, während Ferdinand im Bayrischen Hof zwei teure Zimmer orderte und einen Tisch fürs Abendessen bestellte.
„Mein liebes Kind, es ist alles gut, lass uns nur machen. Und du musst jetzt nichts erklären. Das hat Zeit."
Luise ließ das Badewasser einlaufen, goss reichlich Schaumbad dazu und legte aus ihrem eigenen Koffer eine elegante, weitgeschnittene Bluse aufs Bett.
Wally ließ alles über sich ergehen, sagte nur ja und nein oder gar nichts, alles fast wie in Trance. Mit Mechthild wechselte sie nur unsichere Blicke.
Beim Abendessen ließ sie nach wenigen Bissen die Gabel sinken, rührte abwesend im Obstsalat, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Immerhin hatte sie mit den frisch gewaschenen Haaren und der großzügig ausgeschnittenen Bluse schon ein wenig Glamour zurückgewonnen. Fragen stellte niemand, nicht mal Ferdinand, der sich ausgiebig seiner Schweinshaxe und einer Flasche Neusiedler Seewein widmete. Immer wieder erzählte er lautstark, wie er die grauhaarige Dame herumgekriegt hatte. Mit viel „Geaschdl, Diridari und Host mi“, trug er sehr zur Unterhaltung der anderen Gäste bei. Es gelang Luise nicht, ihn zu bremsen. Mechthild wäre am liebsten im Boden versunken. Im Hotelzimmer gab es außer einem „gute Nacht, schlaf gut“ keine Kommunikation zwischen den Schwestern. Wally knipste sofort ihre Nachttischleuchte aus und drehte sich auf die Seite. Lange Zeit grübelte Mechthild darüber nach, wie sie das Schweigen brechen könnte. Und wie es nun weitergehen sollte.
Wally blieb nur für zwei Tage bei den Eltern. Der Familienrat, in dem Hedi das Sagen übernommen hatte, bestimmte, dass die Schwangere die letzten drei Wochen bis zum Geburtstermin bei ihrer Patentante in einem anderen Stadtteil verbringen sollte. Dort gab es keine neugierigen Nachbarn und außerdem lag ein Krankenhaus mit Kreißsaal ganz in der Nähe. Hedi hatte Mechthild anvertraut, dass sie sich wahnsinnig auf das Enkelkind freute, Klaus hin oder her. Sie widmete sich hauptsächlich den praktischen Problemen, die nun schnell zu lösen waren.
„Wally ist schließlich nicht die Erste in der Familie, die ein uneheliches Kind kriegt. Mein Gott, die Zeiten ändern sich eben", sagte sie zu Mechthild, „das hast du gut gemacht mit Luise. Auf die konnte ich mich schon immer verlassen, schon während des Krieges.“
„Aber Alberich ist sauer, dabei will er Klaus doch gar nicht als Schwiegersohn.“
„Muss er ja auch nicht, am besten wäre, wir würden den ganz außen vor lassen.“
„So wie ich ihn verstanden habe, möchte er Klaus wegen Unterhaltszahlungen ansprechen, obwohl Wally das abgelehnt hat. Also, da ist irgendwas komisch zwischen den beiden.“
„Zwischen welchen beiden, meinst du jetzt Wally und Klaus oder Wally und Vater?“
„Eigentlich meine ich beide, Klaus und Albrecht. So ein Kuddelmuddel. Wally muss das entscheiden, sie ist zweiundzwanzig. Aber verstehen kann ich sie nicht.“
Einige Tage später klärte sich die Sachlage. Albrecht kam von der Mission Unterhaltszahlung als geschlagener Mann zurück, tief verletzt in seinem Stolz als Vater und angesehener Bürger.
Klaus hatte eiskalt erklärt, er sei nicht der Kindsvater, egal was Wally behauptet habe. Er werde dies, wenn nötig, auch durch ein erbbiologisches Gutachten bestätigten lassen. Und gegen üble Nachrede wisse er sich auch zu wehren. Von da an verkroch Albrecht sich im Arbeitszimmer, ging nicht ans Telefon und lehnte jedes weitere Gespräch in dieser Angelegenheit ab.
„Hätt' er nur auf mich gehört, ich hab's ihm gleich gesagt, diesen Metzgersgang hätt' er sich sparen können“, sagte Hedi, nicht sonderlich betrübt. Sie und Luise waren in deren Haus eifrig damit beschäftigt, eine Erstausstattung für das Baby zusammenzustellen.
„Hör mal, Mechthild, wenn du Wally besuchen gehst, nimm doch diese Liste mit, sie soll ankreuzen, was sie unbedingt davon haben will und was sie sonst braucht. Luise hat noch ein wunderbares Korbbettchen im Keller.“
Mechthild war es inzwischen gelungen, Wally aus der Reserve zu locken. Sie hatte einfach ein paar direkte Fragen gestellt.
„Wer ist denn nun der Vater, wenn es Klaus auf keinen Fall sein kann?“
Wally strich träumerisch über den Babybauch und schaute aus dem Fenster.
„Ich hab es zuerst selbst nicht genau gewusst. Nach diesem blöden Streit wegen seiner Ehemaligen war ich so wütend, dass ich ihm zeigen wollte, ich brauch ihn nicht. Was er kann, kann ich auch.“
„Eine Retourkutsche. So was Altmodisches aber auch. Und wer war denn nun der Glückliche?“
„Da sind die Eltern schuld. Sie wollten mich ja unbedingt mit dem tollen Ami aus dem Goethe-Institut verkuppeln. Ich mochte ihn gar nicht, aber Mama schwärmte so von ihm. Johnny ist so höflich, Johnny ist so smart, Johnny kann so toll singen. Sie kannte ihn vom Extrachor her, auch seine Eltern. Es ist nach der Premierenfeier zu "Show Boat" passiert. Ich hatte zwei Karten, aber Klaus hat mich versetzt.“
„Aber warum hast du Alberich in dem Glauben gelassen, Klaus wär' der Vater?“
„Verstehst du denn nicht? Ich wollte das Kind auf keinen Fall, ich wollte es abgeben. Und ich dachte, Vater würde diese Entscheidung eher akzeptieren, wenn er glaubte, es sei von Klaus. Und außerdem … das Kind wäre ja nach Amerika vermittelt worden, als halber Amerikaner … Das war in Herrsching so abgemacht.“ Wally konnte ganz schön unschuldig blicken.
Mechthild schüttelte den Kopf. „Ziemlich schräg, Schwesterherz, ein Glück, dass du mich hast. Ich werde jedenfalls gern Tante.“
„Ich geb zu, ziemlich unüberlegt. Aber wenn du in die Situtation gekommen wärst ... Okay, ich hatte jetzt Zeit zum Nachdenken. Schon in Herrsching habe ich manchmal nach einer Möglichkeit gesucht, wie ich alles rückgängig machen könnte.“
„Aber du hättest doch mit Hedi reden können.“
„Ach Mechthild, du weißt nicht alles, diese Auseinandersetzungen, ständig lag sie mir in den Ohren wegen Johnny, ich konnte einfach nicht zugeben, dass ich mich einmal auf ihn eingelassen hatte.“
Drei Abende später saßen Mechthild und ihr Vater im ersten Rang des Stadttheaters. Hedi leistete in der Klinik ihrer Tochter Beistand bei der Geburt, die sich unerwartet in die Länge zog.
„Ihr könnt nichts tun, es kann die ganze Nacht dauern. Warum sollten wir die Karten verfallen lassen?“
Es gab 'Salome' von Richard Strauss, eine Premiere, die schon im Vorfeld für Furore gesorgt hatte. Hedi hätte eigentlich mit dem Extrachor auftreten müssen. Mechthild begleitete ihren Vater mit gemischten Gefühlen. Soweit sie wusste, hatte er nicht die geringste Ahnung, welche Rolle eine Premiere im Leben seiner älteren Tochter gespielt hatte.
Das Orchester setzte zu chromatischen Läufen an. Dissonanzen peitschten durch das Opernhaus. Das Publikum erstarrte, betäubt duckte es sich in die Sitze. Salome hatte den Kopf des Jochaanan am Schopf ergriffen und küsste ihn wild. Die Musik schraubte sich zu einem dramatischen Höhepunkt empor.
„Hättest du mich angesehen, Jochanaan, du hättest mich geliebt“, sang Salome, blutüberströmt, in wilder Extase, „und das Geheimnis der Liebe ist größer als das Geheimnis des Todes.“ Hier stürzte die Musik ab in einer rasenden Kadenz.
Das Publikum schwieg ergriffen. Mechthild warf einen Blick auf ihren Vater. Er öffnete den Mund und stieß einen Schluchzer heraus.
Einen, dann noch einen. Schließlich folgte eine ganze Kaskade, die seinen Körper durch und durch schüttelte. Auf dem Sitz neben ihm zischte jemand: „Unerhört! So reißen Sie sich doch zusammen!“
In der zweiten Reihe fingen die Leute an zu flüstern, einige kicherten. Mechthild ergriff Albrecht am Arm und zog ihn an den entrüsteten Besuchern vorbei Richtung Ausgang. Hochrot flüsterte sie alle drei Sekunden „Verzeihung, bitte verzeihen Sie, darf ich bitte vorbei?“, während Albrecht weiterhin stakkatoartig schluchzte. Im leeren Foyer führte sie ihn zu einem Stuhl und besorgte ein Glas Wasser.
„Was um Gottes Willen ist denn los mit dir?“
Als das Schluchzen allmählich abklang, konnte Albrecht antworten.
„Ach, als Salome gesungen hat, 'Sie sagen, dass die Liebe bitter schmecke', da ... da hab ich an Wally denken müssen, wie sie jetzt kämpft mit den Schmerzen, mit den Wehen … Wenn ich nur wüsste ...“
„Komm, lass uns nach Hause fahren. Da kannst du anrufen. In der Klinik oder bei Luise. Die weiß bestimmt mehr.“
Luise wusste mehr. Es war ein Mädchen und es war alles gut gegangen.