Uzuku
Uzuku
Saskia fand, das es hier aussah wie in jedem anderen Wartezimmer auch. Beliebig und unpersönlich. Sie war in ihrem bisherigen Leben nicht sehr oft bei Ärzten gewesen, nur einige Male, aber nun war sie schwanger im dritten Monat. Besuche bei Ärzten, besonders bei ihrem Gynäkologen waren fast zur ihrer täglichen Routine geworden. Gelangweilt betrachtete Saskia die schlicht gehaltene Terminkarte der Praxis, in dessen Wartezimmer sie sich befand. Mehrmals wendete sie die Karte in der Hand. Es waren lediglich Adresse und der genaue Termin darauf vermerkt. Mehr nicht. Saskia hatte den Termin in der Praxis bereits vor über einem Monat telefonisch vereinbart - nach der Terminlage zu urteilen, schien die Praxis also sehr gut zu laufen. Dr. Zinnfandel stand im Ruf, ein ausgewiesener Spezialist auf dem Gebiet der Ultraschalluntersuchung zu sein. Anfangs war Saskia nervös und auch ein wenig besorgt wegen der bevorstehenden Untersuchung gewesen. Aber ihre Mutter hatte ihr versichert, es sei nur eine reine Vorsichtsmaßnahme.
Sie solle sich keine weiteren Gedanken darüber machen.
Das hatte Saskia getan.
Und jetzt war sie in der Praxis von Dr. Zinnfandel. Sie war die einzige Patientin im Wartezimmer, was ihr angesichts der erwarteten Geschäftigkeit recht komisch vorkam, aber es war auch noch sehr früh morgens. Die Ziffern ihrer Digitaluhr zeigten acht Uhr.
Saskia stand auf und nahm sich ein Glas Wasser aus dem Spender, der wie ein stummer Beobachter in einer Ecke des Raumes stand. Für einen Moment überlegte sie, doch dann entschied sie, sich nicht wieder auf den Sitzplatz nahe der Türe zu setzen, sondern auf den Stuhl genau in der Mitte der leeren Reihe. Als sie sich setzte und Knistern des Lederbezugs den großen Raum erfüllte, fühlte sie sich für einen Augenblick wie ein neugieriges Kind.
Von diesem Platz aus betrachtete sie desinteressiert das Bild, das an der gegenüberliegenden Wand hing. Es war das einzige im gesamten Raum. Sie hatte es bis zu diesem Moment nicht einmal bemerkt. Das musste wohl an ihrem alten Sitzplatz gelegen haben.
Dieses Bild war ein japanischer Holzstich, der eine traditionelle Szene aus der Edo-Zeit zeigte. Etwas überdimensioniert für ein Bild dieser Art, ansonsten durch und durch gewöhnlich. Bilder in dieser Art hatte sie bereits zu Tausenden gesehen, deswegen konnte es auch nicht ihre Aufmerksamkeit erregen. Sie gähnte und sah erneut auf die Uhr. Die Ziffern zeigten zwanzig nach acht. Hoffentlich würde sie bald drankommen. Sie trank noch einen Schluck Wasser und spannte ihre Nackenmuskeln an. Dann sah sie wieder auf das Bild.
Es war immer dasselbe; man muss diese Bilder einfach ansehen. Man kann nie den Blick davon abwenden. Saskia überflog die Details des Bildes; sie kannte diese Art der traditionellen Motive sehr gut. Ihr Mann hatte bis zu seinem überraschenden Tod vor drei Monaten Holzstiche der namhaftesten japanischen Künstler gesammelt. Darunter sündhaft teure Exponate von Hiroshige. Überall in ihrer Wohnung hingen die kleinen, kastenförmigen Bilder. Saskia schüttelte den Kopf. Sie hatte nichts für diese Motive übrig. Berge, Täler, Landschaften, Zen-Tempel. Koi-Karpfen. Perfekt ausgeführt, doch sie wurden schnell langweilig und waren keine Augenweide auf Dauer. Doch sie erinnerten ihren Mann an seine Heimat. Das hatte sie immer respektiert. Ihr geübter Blick überflog das Bild mehr, als das sie es eingehend betrachtete; alles passte in das Raster. Doch dann fiel es ihr auf. Es war nur ein winziges Detail, aber jetzt wirkte es auf sie wie der erste Fehler in einem Bilderrätsel. Wie ein Dorn im Fleisch. Dieses Mädchen.
Ihr Gesicht, ihre ganze Erscheinung passte einfach nicht in den Rest des Bildes. Die Kleidung, die Art wie sich ihr feiner Körper in den rechten oberen Bildteil schmiegte - fast wie die ultramoderne Tuschezeichnung eines Mangakas.
Die Augen in ihrem schmalen, V-förmigen Gesicht wirkten aufgepumpt, wie schwarze Tennisbälle, und schienen sie permanent anzustarren. Saskia senkte ihren Kopf, dann ließ sie ihn sanft kreisen und duckte sich, ohne ihren Blick von dem seltsamen Mädchen in dem Bild abzuwenden. Nachdem sie diese Bewegung durchgeführt hatte, musste sie grinsen.
Es handelte sich um einen in Bildern oft verwendeter, optischer Trick; der Blick des Mädchens verfolgte sie, egal aus welcher Perspektive man das Bild auch betrachtete.
Sie trank den letzten Rest des Wassers und zerknüllte den Pappbecher.
Als ihr Blick wieder, so wie meistens, wie magnetisch auf das Bild gezogen wurde, war das Mädchen verschwunden. Saskia begriff zuerst nicht, was passiert war. Mehr als alles andere war sie verwundert. Ihr Verstand war nicht imstande, eine logische Gedankenkette zu verknüpfen. Aufgeregt suchte sie das Mädchen.
Es war nicht da, wo es sein sollte.
Ganz langsam sickerte diese Tatsache.
Es war nicht nur nicht da wo sie es vermutete.
Wo es hätte sein sollen.
Es war überhaupt nicht mehr da.
Saskia schluckte, dann holte sie tief Luft, schloss ihre Augen und legte den Kopf in die Hände. Die Wärme der Handinnenflächen ließ ihre Augäpfel kribbeln und beruhigte sie.
Dann dachte sie nach. Es muss der Stress sein, sagte sie sich, es war alles etwas zuviel in der letzten Zeit. Das war die Wahrheit. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass eine Schwangerschaft soviel Druck erzeugen würde. Sie musste sich eingestehen, dass sie langsam etwas die Kontrolle verlor. Vielleicht war sie schlicht überfordert.
Mein Körper reagiert und gibt mir eine Warnung, folgerte sie und massierte mit ihren dünnen Fingerspitzen die pochenden Schläfen.
Dann riss sie entschlossen ihre Augen auf und starrte auf das Bild.
Sie musste feststellen, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Das Mädchen war einfach nicht mehr da. Ich bin aber nicht verrückt, das Mädchen war da, dachte sie und wurde erneut von einer seltsamen, heftigen Aufregung gepackt. Saskia kniff ihre Augen zusammen, sammelte ihre Konzentration und begann dann damit, jeden Zentimeter des Bildes pedantisch zu inspizieren. Langsam und mühselig arbeitete sie sich durch jeden einzelnen Pinselstrich; sie ließ ihren Blick mehrmals und unermüdlich über jeden Quadratzentimeter gleiten.
Als sie das Mädchen entdeckte, schoss ihr Puls in die Höhe.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Das Mädchen war tatsächlich noch da, nur nicht mehr an demselben Platz, an dem sie es zuerst entdeckt hatte.
Sie war gewandert, so seltsam sich das anhören mochte.
Das Mädchen stand nun nicht mehr aufrecht am rechten oberen Rand des Bildes (diese Stelle war nun seltsam hell und irgendwie leer) sondern, halb versteckt, im Schatten eines großen Kirschbaumes, ziemlich genau im Zentrum. Sie hatte nicht nur ihre bloße Position verändert; ihre Augen glänzten, so, als sei die Farbe, aus der sie erschaffen worden war, noch nicht ganz getrocknet. Als habe man sie soeben erst der Leinwand hinzugefügt.
Oder als habe sie gerade geweint. Und sie grinste. Saskia sah es ganz deutlich. Ihre Lippen waren zu einem feisten, provozierenden Grinsen gespitzt, dass auf sie zeigte wie ein Messer. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in ihrem Brustkorb aus. Sie fühlte sich plötzlich bedroht und nicht mehr sicher. Das Wartezimmer wirkte von einer auf die andere Sekunde nicht mehr wie das schlichte, karg eingerichtete Wartezimmer einer Arztpraxis, sondern wie ein kalter, verlassener Ort, in dem unbekannte Gefahren auf sie lauerten.
Wie ein Friedhof.
Saskia schüttelte heftig ihren Kopf, als wolle sie aus einem bösen Traum erwachen.
Doch alles blieb wie es war. Die Stimme aus dem Lautsprecher, die ihren Namen aufrief, dröhnte ihr in den Ohren. Ihr Puls stieg weiter. Sie traute sich nicht aufzustehen.
Im Lautsprecher knackte es widerlich, als würde jemandem auf der anderen Seite die Knochen gebrochen. Nachdem Knacken tauchte wieder diese helle Frauenstimme auf, die mit dem krächzenden Rauschen im Lautsprecher zu einer verzerrten Kakophonie verschmolz.
Wie hypnotisch wiederholte die Stimme ihren Namen. Saskia spürte den Puls in ihrem Hals schon wie ein zweites Herz schlagen. Dann öffnete sich die Türe und kalte Luft umfing sie wie ein unsichtbares Wesen.
„Frau Matsushima?“
Die junge Frau trug einen strahlend weißen Kittel. Sie wirkte in der fahlen Dunkelheit des Wartezimmers wie ein Engel. Es war offensichtlich eine Assistentin. Sie musterte Saskia geringschätzig.
Saskia starrte zurück und schwieg.
„Sind sie Frau Matsushima?“
Die junge Frau runzelte genervt die Stirn als Saskia immer noch nicht antwortete.
„Hören Sie, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, entgegnete sie verärgert. Unser Terminkalender ist, wie Sie vielleicht bereits erfahren haben, sehr genau durchgeplant und lässt wenig Spielraum für Extrawünsche. Also, wenn Sie Frau Matsushima sind, würde ich Sie bitten, mir in den Behandlungsraum zu folgen“.
Saskia nickte mechanisch und stand auf. Sie fühlte sich wie eine Aufziehpuppe, die auf bloßes Befehle befolgen programmiert ist. Als sie das Wartezimmer schon fast verlassen hatte, drehte sie sich noch einmal um und blickte sich ängstlich um.
Ihr Blick glitt wie automatisch zurück auf das Bild.
Das Mädchen stand nicht mehr im Schatten des Kirschbaumes.
Es war verschwunden.
Saskia spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen.
„Sie müssen nicht nervös sein, sagte die engelsgleiche Assistentin mit weicherer Stimme, es ist schnell vorbei und Schmerzen werden Sie auch keine haben. Glauben Sie mir. Sie können mir glauben, ich mache diesen Job bereits seit Jahren, versicherte sie ihr. Doch das interessierte Saskia nicht im Geringsten. Sie hörte nicht einmal genau, was die Assistentin ihr zu erklären versuchte.
„Wer hat das Bild gemalt?, unterbrach sie Saskia mit erstickter Stimme.
„Wie bitte?“. Die Assistentin blieb stehen und schüttelte ungläubig ihren Kopf.
„Dieses Bild, Saskia zeigte mit dem Finger darauf, wer hat es gemalt?
Die Assistentin lächelte.
„Gefällt es Ihnen?“
Saskia sah ihr einen Moment intensiv in die Augen.
„Nein. Es gefällt mir überhaupt nicht. Ganz und gar nicht“.
Die Assistentin zuckte daraufhin mit den Achseln.
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, von wem es ist. Es hing bereits hier als ich meine Tätigkeit in dieser Praxis begann“.
Die Assistentin beendete ihren Satz mit einem gequälten Lächeln.
Saskia nickte.
„Können Sie herausfinden, von wem es ist und es mir dann mitteilen?“, sagte sie, doch die Assistentin war schon in der Türe verschwunden.
Saskia traute sich nicht, das Bild noch einmal zu betrachten.
Sie folgte der Assistentin mit gesenktem Blick und schloss die Türe zum Wartezimmer.
Das Behandlungszimmer glich einem gerade geputzten Badezimmer. Weiße Kacheln an den Wänden, auf dem Boden ebenfalls. Grünliches, seltsam fluoreszierendes Licht. Es spiegelte sich in den blanken Kacheln wider. Medizinische Geräte aus Metall. Sie sahen aus wie die Requisiten aus einem neuen Science-Fiction Film. Überall ragten Schläuche heraus und blinkten Knöpfe in den verschiedensten Farben.
Saskia saß auf einem mit weißem Leder bezogenen Stuhl und wartete. Sie war beunruhigt.
Sie hatte Angst vor der Behandlung, und sie hatte Angst, den Verstand zu verlieren.
Als nach einigen, ihr sehr, sehr lang vorkommenden Minuten, die Türe aufging und ein kleiner Mann in einem grauen, eng anliegendem Overall im Türrahmen erschien, zuckte sie unwillkürlich zusammen.
Ein Schauer jagte ihr den Rücken hinunter.
Sie sah den Mann an. Ihr ganzer Körper krümmte sich zusammen.
„Guten Morgen, sagte der kleine Mann mit freundlicher, dünner Stimme und machte einen entschlossenen Schritt auf Saskia zu. Er streckte ihr die Hand entgegen, aber sie erwiderte seinen Gruß nicht. Sie blieb in sich zusammengesunken auf dem Stuhl sitzen.
„Ich bin Dr. Zinnfandel, fuhr er mit einem Achselzucken fort und lächelte sie freundlich an, und Sie sind Saskia Matsushima, wenn ich mich nicht irre?
Sie nickte.
Dr. Zinnfandel sah aus wie ein typischer Arzt. Wenn man in einem Flugzeug sitzen und sich auf einem Transatlantikflug befände, und jemand müsste plötzlich wegen eines drohenden Blinddarmdurchbruchs notoperiert werden – derjenige, der schlussendlich aus der schockierten Masse heraustritt und sagt er sei Arzt. Alle würden sagen: Na klar, das ist der Arzt! So sah auch Dr. Zinnfandel aus.
Saskia zog sich in ihren Sitz zurück. Sein Lächeln wurde daraufhin noch breiter. Es wirkte wie eine beruhigende Geste. Er nickte Saskia zu und zog den Stuhl, der ihr schräg gegenüber stand, an der mit weißem Kunststoff bezogenen Lehne zu sich.
„Sie müssen nicht nervös sein, es ist ganz natürlich und normal, dass sie besorgt sind, sprach er mit sanfter Stimme auf sie ein. Es ist schließlich ihre erste Untersuchung dieser Art, zudem sind sie das erste Mal schwanger, alles etwas viel wahrscheinlich für Sie in der letzten Zeit. Dass muss man erstmal verarbeiten, nicht wahr?“
Irgendetwas fiel ihr an seiner Stimme auf, nichts von größerer Bedeutung, nur ein kleines Detail; es war, als hätte man ein kleines Steinchen in eine gut funktionierende Maschine geworfen. Kaum das er sich gesetzt hatte, erschlaffte sein Oberkörper, als sei er eingeschlafen, doch seine Augen blieben die ganze Zeit offen und strahlten hellwach.
Saskia war unwohl. Sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber die Sache mit dem Gemälde hatte sie ergriffen.
Mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte.
Ihre Wahrnehmung war etwas gewesen, auf das sie sich Zeit ihres Lebens hatte verlassen können, und plötzlich, durch eine solch geringfügige Sache, war ihr Selbstbild aus den Fugen geraten. Was war, wenn die Schwangerschaft noch mehr sonderbare Dinge mit ihrem Körper und ihren Sinnen anstellen würde?
„Hören Sie, die Worte rissen sie aus ihren Gedanken, die Untersuchung ist eine reine Vorsorgeuntersuchung, sie ist völlig schmerzfrei und in wenigen Minuten vorbei. Was halten sie davon wenn sie sich oben freimachen und sich auch diesen Behandlungsstuhl hier setzen?“
Saskia nickte und begann, sich zu entkleiden. Sie dachte nicht weiter darüber nach. Sie tat es einfach. Ganz langsam knöpfte sie ihre Bluse auf und streifte sie ab, rollte dann ihr Top aus Baumwolle über den gespannten Bauch, öffnete den BH.
Dr. Zinnfandel beobachtete sie die ganze Zeit mit diesem freundlichen Lächeln und den hellwachen Augen. Sie kam sich von ihm beobachtet vor. Für einen kleinen Moment dachte sie, er sei nichts weiter als ein dreckiger kleiner Spanner, doch als sie sich entkleidet hatte, wurde sein Ton und seine ganze Körperhaltung vollkommen professionell.
Er stand auf, und erst jetzt bemerkte Saskia, wie klein er wirklich war. Selbst im Sitzen überragte er sie kaum mehr als mit einem halben Kopf.
Langsam hob er die Hand und deutete auf einen metallischen Stuhl in der Mitte des Raumes. Der Stuhl sah nicht aus wie der gewöhnliche Stuhl in einer gewöhnlichen gynäkologischen Praxis, sondern erinnerte Saskia mehr an eine Filmszene aus Terminator. Das Metall des Stuhles reflektierte das kalte Licht der Neonröhren mit einem schimmernden Glänzen, es schien, als bestünde die ganze Konstruktion aus einer sich bewegenden, um die eigene Achse rotierenden Flüssigkeit. Wie ein Lebewesen, dachte sie als sie sich hineinsetzte.
Das Metall war nicht so kalt, wie sie dachte, was sie erstaunte. Dieses seltsame Material schmiegte sich regelrecht um ihre nackten Fesseln, als sie ihre Beine in die Halterungen gleiten ließ.
Dr. Zinnfandel beugte sich über sie und…lächelte. Das Lächeln war kein „echtes“ Lächeln. Sie bemerkte es erst jetzt. Es wirkte aufgesetzt. Sein Gesicht war auf eine seltsame Art und Weise fast feminin. Marmorweiße Haut, die mit dünnen Äderchen gemustert war.
„Ich werde diese Flüssigkeit auf ihrem Bauch auftragen, sagte er und sah sie an.
Sein Blick sprach von höchster Konzentration.
Mit vollkommen ruhigen, routinierten Bewegungen fuhr er fort.
„Schlimme Sache mit ihrem Mann!“ sagte er plötzlich. .
Saskia nickte automatisch.
„Woher kennen Sie meinen Mann?“, fragte sie überrascht.
Das Lächeln auf Dr. Zinnfandels Gesicht verschwand das erste Mal. Es fror regelrecht ein. Einen Augenblick hatte Saskia das Gefühl, dass sich das Weiß seiner Augen verdunkelt habe. Als starre sie in schwarze Insektenaugen.
Dann kehrte das Lächeln zurück.
„Ich kannte ihn sein ganzes Leben lang. Ich war sehr erschüttert als ich von diesem Unfall hörte. Wir standen uns sehr nahe…“
Saskia runzelte die Stirn.
Ihr Mund war ausgedörrt. Als sie schluckte, schmerzte ihr Kehlkopf.
„Er hat nie von ihnen erzählt. Das ist komisch, finden Sie nicht? Wenn Sie sagen, sie haben sich sehr nahe gestanden, meine ich?“
Sie hörte ihre eigene Stimme von den nackten Wänden des Raumes widerhallen.
Dr. Zinnfandel nickte.
„Warum sollte er auch?“
„Er hätte es erwähnen können. Ich bin schwanger, Sie sind Frauenarzt. Das liegt doch sehr nahe, finden Sie nicht?“
„Da haben Sie Recht. Da ist was dran, antwortete er leise und kratzte sich nachdenklich am Kinn.
„Vielleicht war er einfach zu beschäftigt? Mit den Gedanken woanders? Wie Sie es manchmal auch sind!“
Nach den letzten Worten erschrak Saskia. Die Worte…sie erinnerten sie auf eine unangenehme Art und Weise an die strenge Predigt eines autoritären Lehrer. Als habe er sie bei etwas Verbotenem erwischt. Wie Sie es manchmal auch sind…
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Und er hatte Recht.
Es stimmt, sagte sie in Gedanken zu sich selbst. Ich bin oft mit meinen Gedanken woanders.
„Ich wäre soweit, sagte Dr. Zinnfandel. Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
Sie nickte. Er verteilte mit bedächtigen Bewegungen die Flüssigkeit auf ihrer nackten Bauchdecke. Die Flüssigkeit sah so aus, wie sich Saskia Mus aus Perlen vorstellte.
Auf der Haut selbst fühlte es sich an wie kalter Gelee. Nicht sonderlich spektakulär.
Aber eben auch nicht schlecht. Nachdem ihr Bauch ausreichend benetzt war, setzte sich der Doktor auf einen kleinen Rollstuhl und rückte näher. Aus der Lehne des Stuhls zog er ein verkabeltes Instrument. Das Instrument sah aus wie eine Mischung aus Phallussymbol und einem Fisch. Er senkte das Instrument auf ihren Bauch und ließ es durch die perlenfarbene Flüssigkeit gleiten.
Als Saskia die ersten unscharfen und grobkörnigen Bilder des Fötus, der in ihrem Inneren beständig herangewachsen war und weiter heranwuchs, über die Leinwand flimmern sah, hatte sie alle Aufregung vergessen. Sie wurde von einem tiefen, alles durchdringenden Glücksgefühl ergriffen, das sie zu Tränen rührte. Aus wenig mehr als einem Staubkorn war neues Leben entstanden; sie spürte, wie es in ihr wuchs, wie es sich bewegte, und jede dieser Bewegungen fühlte sich wunderbar an. Doch jetzt bekam die Liebe zu diesem ungeborenen Wesen, ihrem Kind, eine neue Dimension, jetzt drängte das Gefühl auf eine andere Größenordnung.
Sie konnte es sehen.
Sie sah wie es sich bewegte, wie es sich drehte, in ihr, auch wenn das alles über den Bildschirm flackerte wie das Negativ von etwas Lebendigem.
Es war ihr Kind. Hemmungslos rollten Tränen tiefer Befriedigung über ihre Wangen.
„Es ist ein wunderschöner Anblick, nicht wahr?“, kommentierte Dr. Zinnfandel mit ruhiger Stimme.
Saskia nickte stumm. Dann wischte sie sich mit ihrem Handrücken unbeholfen die Tränen weg. „Ja, das ist es“, erwiderte sie mit leiser, erstickter Stimme.
Sie fühlte sich benommen, als sei sie betrunken. Und das war sie: betrunken vor Freude und Glück. Niemals hätte sie gedacht, dass sie zu solch tiefen Gefühlen fähig sein würde.
Jetzt wurde sie regelrecht übermannt von ihnen.
Ihr Blick war fest auf das flackernde Bild geheftet, das aus dem Monitor in ihr Bewusstsein brandete. Vor ihrem inneren Auge spulte sich ein Film ab, den die Zukunft noch zu schreiben hätte; wie sie ihr Kind großziehen würde, mit inniger Liebe und Sorgfalt, wie es in den Jahren wachsen und gedeihen, Form und Kontur annehmen würde. Sie sah sich selbst in einem anderen Universum, in einem eigenen kleinen Mikrokosmos, der nur aus ihr, ihrem Mann und ihrem Kind bestand. Nichts weiter zählte mehr.
Saskia wurde klar, dass kein irdischer Genuss, kein menschliches Verlangen so tief und verwurzelt sein konnte wie die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Es war wie ein organisches Gewebe, unsichtbar, und doch unzertrennlich. Sie schloss die Augen. Sie hörte nichts mehr - nicht mehr die erläuternden Worte des Doktors, nicht mehr das Surren der medizinischen Instrumente, nichts mehr - da war nur noch ihr Herzschlag und das Blutrauschen in ihren Ohren.
Nachdem sie die Augen wieder geöffnet hatte, sah sie es.
Als die undeutlichen Schemen, die ihr aus diesem grobkörnigen Bild entgegenflackerten, mehr als nur bloße Schemen, sondern das wahre Bild wurden, etwas, dessen sie sich absolut sicher sein konnte, kroch Angstschweiß wie ein lebendiges Etwas an den Seiten ihrer Brust entlang. Aus dem Monitor grinste sie das Mädchen aus dem Gemälde im Wartezimmer an.
Zuerst war es ein unscharfes, verzerrtes Bild, wie eine schlecht beleuchtete Fotografie, nur eine Ahnung, doch dann wurde sie immer deutlicher und schärfer.
Jetzt pulsierte ihr Bild inmitten ihres ungeborenen Kindes.
Saskia starrte bewegungslos auf den Monitor und spürte, wie Speichel aus ihren Mundwinkeln austrat.
Das Mädchen sah sie an und grinste.
Es war nicht dasselbe Grinsen wie im Wartezimmer.
Es war diabolischer, bösartiger, direkter.
Sie schwebte langsam und majestätisch wie ein Dschinn über dem gekrümmten Fötus. Saskia kniff die Augen zu und öffnete sie wieder, in der Hoffnung, sie träume, in der Hoffnung, ihre Wahrnehmung habe ihr einen simplen Streich gespielt.
Doch das Mädchen blieb diesmal genau da wo es war.
Sie spürte etwas zutiefst Bedrohliches, dass sich im Jetzt und Hier befand, in diesem Behandlungsraum, und dieses bedrohliche Etwas sammelte all seine Energie und griff nach ihrem Hals. Wie ein nasses Handtuch das man auswringt, presste es ihr die Luft ab.
Sie wollte sich befreien, wollte um sich schlagen, aufstehen, diesen Raum verlassen, doch dieses Etwas band sie an diesen Stuhl, drückte sie zurück. Diese fremde Kraft, die auf sie einwirkte, sie war stärker als Gravitation und Fliehkraft.
Saskia bäumte sich auf, mobilisierte ihre ganze Kraft, doch ihre Muskeln blieben wie gelähmt, jeder einzelne Muskel in ihrem Körper blieb unbeweglich, gehorchte nicht den Befehlen ihres Gehirns. Nacken, Schultern, ihre Arme und Beine – nicht mehr als eine kraft,- und knochenlose Masse, die im Reagenzglas eines unterirdischen Versuchslabor vor sich hin wabert. Sie versuchte zu schreien, doch es war, als hätte sie nie gelernt, ihre Stimmbänder zu benutzen, als sei sie nicht mehr als sein wildes Tier in den Wäldern.
Dann dröhnte ein gellendes, durchdringendes Lachen, Gelächter, auf sie ein wie ein Hagel aus harten Faustschlägen, laut, fremd, hart, als habe man demjenigen mit grobem Schleifpapier die Kehle abgeschmirgelt.
Dr. Zinnfandel tauchte vor ihrem Gesicht auf. Er kam ganz nah an sie heran, Saskia spürte den kalten, fast eisigen Atem, der von ihm ausging. Alles Menschliche war aus seinem Gesicht gewichen. Sein Gesicht zerschmolz zu einer lachenden Grimasse, dann stach er mit dem ausgestreckten Zeigefinger in Saskias Bauch.
„Das…es gehört uns!“
Er lachte.
„Es ist der perfekte Wirt für den Uzuku. “
Saskia spürte, wie sich ihr Bewusstsein auflöste und sie in eine Ohnmacht bettete.
Etwas rüttelte heftig an ihrer Schulter. Saskia fuhr aus einem tiefen, schwarzen, schwerelosen Zustand hoch. Ihre Arme zuckten und bewegten sich - sie spürte ganz deutlich das warme Blut durch ihr Muskelgewebe pulsieren.
Sofort hob sie sie zu einer abwehrenden Geste.
„Frau Matsushima, ist Ihnen nicht gut?“.
Sie starrte in das Gesicht der engelsgleichen Assistentin und hätte sich fast erbrochen.
Alle Kraft wurde auf einen Schlag aus ihrem Körper gesogen und Schwäche wie eine Flüssigkeit in einen Behälter nachgefüllt. Sie verlor das Gleichgewicht und drohte nach vorne überzukippen. Die Assistentin reagierte jedoch reaktionsschnell und fing sie auf.
Mit sanften Bewegungen drückte sie Saskias federleichten Körper wieder in den Stuhl zurück. Sie wurde spontan von einer Art heftigen Schüttelfrost heimgesucht, der in den Zehen ihrer Füße begann und sie bis in die letzten Halswirbel durchschüttelte.
Instinktiv schnappte sie nach Luft und konnte förmlich den Sauerstoff auf seinem Weg in ihre Lungen verfolgen, so sensibilisiert waren ihre Sinne.
Einen Augenblick fühlte sie sich, als schwebe sie in sich selbst, als sei sie ganz leicht und stofflos.
Danach war es, als habe jemand ihr Bewusstsein angeknipst, ganz so wie eine Nachttischlampe.
Jetzt war sie tatsächlich erwacht.
Sie brauchte einen Moment um zu begreifen, was passierte war, dann sah sie sich um.
Sie befand sich wieder im Wartezimmer. Das Wartezimmer war nicht mehr verlassen und leer, sondern mit lauter fremden Menschen gefüllt.
Sie alle sprachen aufgeregt durcheinander und warfen Saskia verstohlene Blicke zu.
Sie war einen Blick auf ihre Uhr.
Die Ziffern zeigten 8.05.
Alles nur ein böser Traum, echote es in ihrem Kopf.
„Ich hole den Arzt“, sagte die Assistentin mit entschlossener Stimme und wand sich von Saskia ab.
„Warten Sie!“, erwiderte sie und hielt die Assistentin am Arm zurück.
Die Assistentin drehte sich um und sah ihr mit besorgniserregter Miene direkt in die Augen.
„Ich möchte den Termin verlegen. Mir geht es heute nicht sonderlich gut“, fuhr Takahsi mit leiser Stimme fort, „ist das ein großes Problem?“.
Die Assistentin mit dem engelsgleichen Gesicht lächelte sanft, nahm ihre Hände, sah sie einen Moment lang an, dann streichelte sie über die fast weißen Handflächen und schüttelte den Kopf.
„Überhaupt nicht. Das ist überhaupt kein Problem, Frau Matsushima“.
Saskia atmete erleichtert auf.
Wie ein Reflex strichen ihre Hände über ihren gewölbten Bauch.
Alles zurück auf Anfang, sagte sie.
Ihre Lippen bekamen nicht mehr als ein verkrampftes Lächeln hin.
Als sie im Aufzug stand, fuhr sie mit den Fingern erneut über die Terminkarte der Praxis; sie hatte einen neuen Termin in drei Wochen vereinbart. Das Papier war teures, an den Rändern scharfes Reispapier, das war ihr zuerst gar nicht aufgefallen. Man konnte sich leicht die Finger an diesem Papier aufschneiden, das wusste sie nur zu gut; Saskia war es früher in der Schule sehr oft passiert. Sie schüttelte den Kopf, so als würde sie eine Frage verneinen wollen. Innerlich hatte sie auch Nein gesagt: So ging es auf keinen Fall weiter.
Sie hatte sich vorgenommen, sofort nachhause zu fahren und sich im Bett zu verkriechen. Nichts würde sie dabei aufhalten. Vielleicht würde sie vorher noch einen Jasmin-Tee zu sich nehmen und etwas fernsehen, aber auch gar keinen Fall etwas anderes.
Dieser bitterböse Albtraum hatte ihr aufgezeigt, dass ihr Körper und ihr Verstand im absoluten Grenzbereich arbeiteten.
Vielleicht hatte sie die Schwangerschaft unterschätzt.
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie die Strapazen tatsächlich unterschätzt hatte.
Ab sofort würde sie sich schonen.
Dieser Traum war so real gewesen, dass sie selbst jetzt nicht unterscheiden konnte, was tatsächlich Realität und was Halluzination gewesen war.
Der Gong im Aufzug kündigte an, dass sie sich jetzt im Erdgeschoß des Gebäudes befand.
Dass etwas anders war, merkte sie bereits, als sich die Türen des Aufzugs nur einen Zentimeter auseinandergeschoben hatten.
Ein fahles, totes Licht warf sich wie ein Schatten an das blanke Innere des Aufzugs und streifte wie ein Feuerstrahl ihren Arm.
Nachdem sich die Türen vollständig geöffnet hatten, wurde das Licht zwar weicher, aber es blieb tot, als schwebten tausend verlorene Seelen darin.
Saskia trat aus dem Aufzug heraus.
Die Türen schlossen sich mit einem Schnappen, dann verschwand er mit einem metallisch glucksenden Geräusch.
Sie sah sich um.
Irgendetwas war passiert.
Der Parkplatz vor der Praxis war verschwunden, die U-Bahn Station und die Hochhäuser ebenso; an ihre Stelle war ein großer Hügel gerückt, bekleidet mit satten Gräsern, die ein saftiges, leuchtendes Grün abstrahlten. Auf der Mitte des Hügels thronte ein kleiner, altertümlicher Zen-Tempel, der vor Energie und Farbe ebenso zu strotzen schien.
Saskia kannte diesen Hügel und diesen Zen-Tempel. Sie hatte das alles schon einmal gesehen, doch ihr verwirrter Verstand konnte die Bilder nicht zuordnen.
Langsam machte sie einen Schritt nach vorne und drehte sie um die eigene Achse.
Alles blieb so wie es war.
Täler, Wiesen, Kirschbäume.
Das kann nicht sein. Wir sind mitten in Tokio!
Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde und drehte sich um; das Gebäude, in dem sich Dr. Zinnfandels Praxis befunden hatte, war verschwunden.
Das kann nicht sein, dachte sie und spürte den Herzschlag heftig in ihrer Brust.
Wie kann sich etwas so schnell in Luft auflösen?
Wie kann etwa so schnell vom Erdboden verschwinden?
Dann atmete sie tief ein und aus, versuchte, ihren Puls zu senken.
Es muss ein böser Traum sein.
Sie nickte mit dem Kopf.
Das muss die Lösung sein. Ein böser Albtraum.
Ich verliere noch den Verstand. Bleib ruhig, bleib ruhig, bleib ruhig.
Saskia setzte sich auf den Boden und stützte den Kopf auf ihre Hände, so wie sie es schon einmal getan hatte, in Dr. Zinnfandels Wartezimmer.
Sie spürte die Wärme ihre Handflächen, wie ihre Augäpfel die Wärme aufsogen wie ein Schwamm.
Lange Zeit blieb sie so sitzen.
Als sie ihren Kopf wieder hob, stand sie vor ihr und sah sie aus diesen großen, schwarzen und leuchtenden Augen stumm an. Saskia hatte es geahnt.
Aus ihrer fernen Ahnung war jetzt schreckliche Gewissheit geworden.