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Uster - 1.:Zimmer 203
Uster
1.: Zimmer 203
Langsam peitschten die ersten Regentropfen gegen die Fensterscheiben eines Hotels, das völlig im Dunkeln lag. Nur in einem Zimmer brannte noch Licht, in einem anderen lief eine leise Melodie. Beethoven, konnte man denken, dann setzte allerdings einer dieser grauenhaften Sprechgesänge ein.
Stille auf den Fluren. Das Licht im Treppenhaus war aus, leise summte der Aufzug.
Miriam stand fröstelnd im Hotelfoyer und wartete. Heute war es schnell kalt geworden und nach den ersten Sonnenstrahlen war ein kalter Wind in die Schweizer Stadt Uster gezogen. Die anfänglichen 25 Grad hatten sich binnen kürzester Zeit halbiert.
Die Aufzugstür öffnete sich und Miriam stieg ein. Leise schloss sich die Tür wieder, Miriam drückte den Knopf für die zweite Etage und mit einem kleinen Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung.
Was für ein Tag war das gewesen, resümierte Miriam im Aufzug und packte sich an den Kopf.
Mit Grauen erinnerte sie sich an das Bild, als dem 58jährigen Michael Schimanek mitgeteilt werden musste, dass er entlassen wurde. Sie hatte vor dem Büro gestanden und das Gespräch nur durch Zufall mitbekommen. Geschmacklos hatte sie es empfunden, unmittelbar nach diesem Gespräch im selben Raum ihre Vertragsverhandlungen durchzuführen, doch sie hatte einiges geopfert, um diesen Job zu bekommen: ihre Familie war wohl das prominenteste Opfer. Egon hatte sich nach nur einem halben Jahr Ehe scheiden lassen, weil er Miriam nur zwei Mal in der Woche gesehen hatte. Samstags und Sonntags abends, nachdem sie den ganzen Tag gearbeitet hatte.
Er hatte Kinder gewollt, sie Geld und Ansehen. Er führte einen kleinen Buchladen und konnte sich kein Gehalt zahlen, dass seine persönlichen Bedürfnisse befriedigt hätte.
„Ich muss doch arbeiten, ich kann jetzt keine Kinder bekommen. Wir wollen uns doch ein Haus kaufen, oder?“, hatte Miriam gefragt. Egon hatte auf die Frage nicht geantwortet. Das hatte der Scheidungsanwalt übernommen.
Die Fenster in dem Hotel schienen nicht ganz dicht zu sein. Auf dem Flur im 2. Stockwerk wehte ein eisiger Luftzug und brachte Miriam erneut zum frösteln.
Zimmer 203, erinnerte sie sich, heute war erst ihr zweiter Tag in diesem Hotel.
Sie schloß ihr Zimmer auf. Über die schäbigen Gardinen hatte sie sich gestern schon aufgeregt. Furchtbar für ein drei-Sterne-Hotel, hatte sie gedacht und resignativ ihren Koffer auf ihr Bett geworfen. Dem Geruch ihres Bettbezugs nach zu urteilen hatte dort kürzlich noch jemand darin geschlafen, allerdings war Miriam gestern zu müde gewesen, um sich zu beschweren. Es war das einzige Zimmer, dass sie noch bekommen konnte.
Heute hatte sie wieder den ganzen Tag arbeiten müssen. Ihre neue Wohnung, die sie nach der Scheidung beziehen würde, war erst in zwei Wochen einzugsbereit und so lange musste sie in einem Hotel wohnen.
Allerdings wohl nicht lange in diesem hier, dachte Miriam und fiel müde auf ihr Bett.
Lange schlief Miriam noch nicht, als es an ihrer Tür klopfte. Dreimal pochte es an der Tür, bevor sie sich mit einem leisen Knarzen öffnete.
Der nächtliche Besucher trat vorsichtig ein und entledigte sich seines Schuhwerks.
„Schlaf schön, mein Schatz!“, murmelte er und beugte sich über Miriam, deren gleichmäßige Atmung einen geregelten Schlafvorgang bedeutete.
*
„Wie ist Sie gestorben?“ Kommissar Robert Pilhau beugte sich über die Tote und untersuchte interessiert die offenen Wunden.
„Machen Sie jetzt schon meine Arbeit?“, fragte Polizeiarzt Ernst S. Wessels.
Pilhau, der schon seit Jahren eine persönliche Abneigung zu Polizeiarzt Wessels empfand, setzte sich auf einen Stuhl und signalisierte mit seiner Hand, dass der Arzt mit seiner Arbeit beginnen konnte.
„Und liefern Sie mir nicht wieder so eine genaue Prognose wie beim letzten Mal, Doc!“, sagte Pilhau mit einem bitterbösen Ton in der Stimme. Bei der letzten Untersuchung hatte Wessels die Tatzeit auf einen Zeitraum von drei Stunden genau bestimmen können, ein Zeitraum, mit dem Kommissar Pilhau überhaupt nichts hatte anfangen können.
„Mit einer Stunde wäre ich diesmal zufrieden!“, setzte der Kommissar hinzu während Wessels nur einen Grunzton von sich gab.
„Sie ist zwischen 4.00 Uhr und 5.30 Uhr gestorben!“, sagte der Polizeiarzt dann.
„Eine Stunde hatte ich gesagt!“
„Ich kann Sie sogar noch übertreffen – zwischen 4.23 Uhr und 4.50 Uhr. Überrascht, Kommissar?“ Wessels packte seine Sachen zusammen und verlies triumphierend den Raum.
Drei Messerstiche hatten den Körper der 26-jährigen Miriam Hessler zerstochen. Zwei Stiche waren tödlich gewesen: der in der Lunge, der als zweites und der ins Herz, der zuletzt ausgeführt worden war.
Pilhau war zulange in seinem Beruf, als dass er nicht sofort seine Pflicht getan hätte. In jedem Hotel gab es Videoüberwachung und so hatte sich Pilhau zunächst dem Wachmann des Sicherheitsdienstes gewidmet, nachdem die Leiche hinreichend untersucht worden war. Sechsundzwanzig Personen waren durchfroren im Dunkel der Nacht durch das Hotel gelaufen, drei von ihnen waren im zweiten Stock aufgenommen worden. Im Zeitraum von 2.00 Uhr bis 5.00 Uhr waren nur zwei Leute aufgenommen worden und einmal war es der Wachmann selbst gewesen, der die Toilette benutzen musste und einmal ein alter Mann aus selbigen Anlass. Niemand hatte sich dem Raum 203 genähert.
Ähnlich enttäuschend fielen die Videoaufnahmen nach 5.00 Uhr aus und leicht resignierend verabschiedete sich Pilhau vom Wachmann und verlies das Hotel.
Viel Arbeit würde wieder auf ihn zukommen, es galt den Bekannten-, den Freundes- und den Familienkreis der Toten zu ermitteln, nach Mordmotiven zu forschen, etc.
Hätten wir wenigstens die Tatwaffe gefunden, dachte Pilhau und ging hinaus in den Regen.
*
Niemand hatte ihn gesehen, doch war er die ganze Zeit da gewesen. Im Schrank hatte er sich versteckt. Einmal hatte er geglaubt, keine Luft mehr zu bekommen, so dünn war die Luft in dem kleinen, wenn nicht sogar winzigen, Raum gewesen.
Furchtbar, er machte so etwas nicht gerne. Er hatte es generell noch nie gemacht, aber leider würde er es wieder tun müssen. Seine Spur musste verwischt werden.
Mit einem befriedigenden Blick aus dem Fenster stellte er fest, dass der Kommissar draußen in seinen schwarzen Audi stieg und davonfuhr.
Welch ein Triumph über die Ungerechtigkeit!
Quietschend öffnete sich die Schranktür. Die Putzfrauen waren gerade weg.
Er besah sich von unten nach oben: schwarz gemummt verlies er den Schrank und anschließend Raum 203. Diesmal bot er den Kameras ein leichteres Spiel. Sie würden seine Stature kennen, aber das war ihm egal.
Er klopfte am Nebenraum. Zimmer 204. Eine weibliche Stimme rief „Herein!“. Er trat ein. Das Blut an Michael Schimaneks Messer war noch nicht ganz trocken...