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Userfriendly war gestern
Als ich, junger Informatiker mit Namen Pascal Dehlm, eine Stelle als Programmierer fand,
wurde mir bewusst, wie wenig ich von der Programmiererwirklichkeit verstand.
Für meinen ersten Tag hatte ich folgende Parameter: ich sollte mich gegen 8:35 Uhr, mit dem versteckten Hinweis möglichst pünktlich zu sein, im Büro 3.12 einfinden. Dort würde mich dann ein Herr C. Zuse einweisen.
Schließlich ist der Tag da. Mit meinem ältlichen Golf parke ich unweit von meiner zukünftigen Arbeitsstelle.
Fünf Minuten nach acht. Ich bin überpünktlich. Ich versuche mir vergebens eine Zigarette an zu zünden, lasse es allerdings sein und greife zum Kaugummi mit Minzgeschmack. Jetzt fange ich an nochmals meine Unterlagen zu sortieren. Alles in richtiger Reihenfolge.
Der Zeiger meiner Armbanduhr bewegt sich auf 35 Minuten nach acht zu. Gedämpfte Schritte nähern sich Büro 3.12 und mir. Panik befällt mich ungewollt, doch ich zwinge mich zur Disziplin. Ein Mann im Anzug und mit leicht ergrautem Haar tritt mir entgegen.
„Guten Tag, sie müssen der neue Bewerber, Herr Dehlm, sein.“ Er reicht mir die Hand zum
Gruß. Guten Tag, erwidere auch ich.
Er öffnet die Tür von Büro 3.12 und bittet mich Platz zu nehmen. Ich reiche ihm die Unterlagen, die ich mitbringen sollte. CORNELIUS ZUSE, LEITER DER ABTEILUNG FÜR PROGRAMMIERUNG – stand auf einem Messingschild.
„... mhm..., ja, aha... mhm...“, murmelte Zuse, während er meine Referenzen studierte.
„Ich werde Ihnen nun Ihren Arbeitsplatz zeigen und Ihnen unsere Grundsätze der
Softwareentwicklung erläutern. Wenn Sie mir dann bitte folgen möchten“, sagte Zuse der mich freundlich doch bestimmt zur Tür hinaus komplimentierte. Ich fühlte mich klein und unbedeutend neben Zuse, der so etwas wie Autorität und Erfahrung ausstrahlte.
„Sie müssen wissen, dass wir keine gewöhnliche Software herstellen. In Zeiten, in denen der User mit netten, verschnörkelten Progrämmchen verhätschelt und in Watte gepackt wird“, begann Cornelius Zuse, „muss man als Softwareentwickler einen ganz anderen Kurs einschlagen, verstehen Sie?“
Ich begriff nicht. Vielleicht war ich auch nur zu beschränkt, um die großen Visionen zu erfassen.
Zögerlich fragte ich: „Welcher Kurs wäre das?“
„Um es mal so zu beschreiben: Userfriendly war gestern. Moderne Software muss dem Anwender wieder das Fürchten lehren. Viel zu lange haben sich Generationen von Programmierern die Vorstellungen der Benutzer diktieren lassen. Sicherlich hat man Sie schon während der Ausbildung darauf getrimmt.“
Ich erinnere mich an meine nicht allzu ferne Studienzeit. Userfriendly...
„Darum rate ich Ihnen einige Gewohnheiten in diesem Sinne abzulegen. Grafische Benutzeroberflächen, falls überhaupt vorhanden, werden bei uns generell unübersichtlich und verwirrend gestaltet. Damit trennt sich schon einmal die erste Spreu vom Weizen. Ebenso soll die Software rigoros gegen die Eingabefehler des Benutzers vorgehen. Als erzieherische Maßnahme hat sich der Systemabsturz bewährt. Sie sollten mal sehen, wie kleinlaut so mancher Anwender wird, wenn plötzlich die Firmendaten weg sind. Und für die ganz hartgesottenen User gibt es unser 3200 seitenstarkes Handbuch, mit allerlei kryptischen Beschreibungen. Das hat bisher noch niemand geschafft.“
„Ich verstehe“, antworte ich.
„Ah, ich sehe, Sie haben unsere Grundsätze schon verinnerlicht, Herr Dehlm. Sie werden es hier noch zu etwas bringen.“
Meine Aufmerksamkeit wurde jäh unterbrochen, als wir uns dem Call Center näherten.
„Ey Alder, was kann ich denn dafür, wenn du mit deinem Scheißprogramm net klarkommst! Mhm, ja du mich auch!“
Wenig später flog die Tür auf und eine junge Frau in schwarzer Ledermontur trat heraus.
„Meine Nichte“, instruiert mich Zuse augenblicklich.
„Ey Cornelius, haste mal zwanzig Oken? Hab' in der Cafeteria noch was offen. Nach dem Schwachmaten brauch' ich jetzt 'ne Kippe.“ Der Abteilungsleiter griff nach seinem Portemonnaie, zögerte aber noch die verlangten 20 Euro auszuhändigen.
„Und wer sitzt jetzt für dich am Apparat?“
„Mach ma keinen Stress! Hab' den Inder ran gesetzt.“
Kurze Zeit später drang eine weiche, indisch klingende Stimme aus dem Raum und sprach beschwörend: „Wir sind eins mit unserer Software. Der Computer ist unser Freund. Ohmmm....“
Unseren Weg fortsetzend nahm Zuse unser unterbrochenes Gespräch wieder auf: „Ich habe es mir nicht nehmen lassen, Sie schon mal einem unserer aktuellen Projekte zu zuteilen. Pascal – wir duzen uns alle – du wirst an der neuen Version der ComfortLine unserer Office Produkte arbeiten. Bill wird dich gerne über den bisherigen Entwicklungsstand informieren.“
Soll mir recht sein, dachte ich noch, bevor besagter Bill vor mir stand. Schlabbriges Shirt, worauf unübersehbar „RTFM“ (1) prangte. Dazu passend eine abgewetzte Jeans und Turnschuhe. Den Bügelkurs bei Mama hätte ich mir sparen können, wenn ich anfange genau so herum zu laufen.
„Komm' erst mal ein in die gute Stube. Die Praktikantin hat gerade frischen Kaffee aufgesetzt“, verkündete Bill, der mich durch den Türrahmen schob. Im Raum stellte ich fest, dass nicht alle Programmierer vor ihren Computern saßen. Drei saßen an einem Tisch und blätterten durch die Reklame eines Computerherstellers. Ein anderer hatte Kopfhörer auf und ließ die Finger im Takt schnippen. Weiter hinten im Raum schnarchte ein fülliger Kerl auf dem Sofa.
Herr Zuse, Pardon, Cornelius musste ein wahres Genie sein. Ihm war es gelungen ein Arbeitsklima zu schaffen, in dem sich alle offensichtlich wohl fühlten.
„Leute, hört mal zu: das hier ist Pascal, der Neue! Jenny, wo bleibt der Kaffee?“
„Hi, Pascal“, ertönte es aus verschiedenen Ecken.
„Danke für diesen überaus herzlichen Empfang, aber ich würde mich jetzt gerne in das Projekt einarbeiten.“ Plötzlich wurde es still. Selbst das durchdringende Schnarchen war nicht mehr zu hören.
Sekunden später kam Bills Arm auf meinen Schultern zum Liegen. Bill räusperte sich so, als müsste er mir einen folgenschweren Entschluss mitteilen: „Pascal, ich erklär' dir mal, wie das bei uns so läuft. Ok? Vor zwölf fängt hier keiner an. Die Typen, die die Basis Version schreiben stehen sogar um zwölf noch nicht mal auf. Na ja, die tauschen auch nur die Icons bei jeder neuen Version aus. Nächster Punkt: wir dokumentieren niemals unseren Code. Erstens, weil dann kaum Zeit bliebe, um Doom 3 vernünftig durchzuzocken. Zweitens, echte Programmierer brauchen so einen Quatsch gar nicht. Der Code steht für sich. Du bist doch ein echter Programmierer, oder?“
Wie er mich anschaute. So erwartungsvoll.
„Ich denke schon. Aber im Studium hat man mir...“
„...was anderes erzählt. Ja ja, ich weiß. Die Profs haben von echter Softwareentwicklung so wie so keinen blassen Schimmer. Pascal, das kannst du mir ruhig glauben. Ich hatte früher selbst mal eine eigene Firma. Ähm, wie hieß die denn nochmal... Irgendwas mit Micro, aber egal.“
Der Mann hatte eindeutig was auf dem Kasten. Und ich? Ich hatte nur das verstaubte Wissen aus veralterten Lehrbüchern vorzuweisen. Bill, der leitende Programmierer, bat mich am gedeckten Frühstückstisch Platz zu nehmen.
„Möchtest du ein Stück Käsekuchen oder darf es etwas von der Donauwelle sein?“
„Käsekuchen wär' nicht schlecht. Hier scheinen ja alle gut drauf zu sein. Woher kommt das?“
„Oh, das liegt ganz einfach daran, dass wir unsere Programme nicht testen. Wenn ich mir nur vorstelle, ich müsste die ganzen Fehler in meinen Programmen suchen und beseitigen... Da bekomme ich jetzt schon panische Angstzustände. Das kann übel enden, falls du dich nicht vorher aus dem Fenster stürzst. Wozu hat man denn den User? Soll der doch auch seinen Beitrag leisten. So Leute, die gerade mal den Mauszeiger hin- und herschubsen können, kann ich gar nicht ab haben. Das sind nämlich die, die als Erste anfangen zu quängeln, wenn die ersten zwanzig Fehlermeldungen aufploppen. Früher, als sich die meisten gerade mal so einen C64 (2) leisten konnten, hat man komplette DIN A4 Seiten voll mit Hex-Codes (3) abgeschrieben, wenn man ein neues Programm haben wollte. Und heute? Alles total verweichlichte Warmduscher! Userfriendly – pah, dass ich nicht lache. Wenn das so weiterginge, dann kann sich in zehn Jahren keiner mehr von diesen Sesselfurzern den Allerwertesten abwischen.“
Die Lage war wirklich ernst. Mit einem Schlag begriff ich, welche Verantwortung auf mir lastete.
Von den nackten Tatsachen aufgewühlt, entgegnete ich ihm: „Das darf nicht so weit kommen! Userfriendly war gestern!“
„Genau!“, antworteten mir die anderen.
„Ich muss sofort an einen Computer“
Bill hob beschwichtigend die Hände und meinte, ich solle mir erst etwas ausdenken, da es ja noch nicht 12 Uhr sei.
Punkt 18 Uhr verlasse ich mit einem guten Gefühl die Firma. Ich habe den Mechanismus zum Einbinden von Programmerweiterungen völlig neu gestaltet: der User kann jetzt durch einfaches Abtippen der im Hex-Code vorliegenden Erweiterungen seine Version des Programms individuell anpassen. Jegliche Kopier- und Einfügefunktionalität habe ich aus pädagogischen Gesichtsgründen deaktiviert. Und da sehe ich auch schon meinen alten Golf. Der Innenraum ist zwar sehr spartanisch gehalten, aber dennoch hat mich der Wagen immer sicher an mein Ziel gebracht, ohne jegliche Aussetzer.
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(1) RTFM - engl. Abkürzung für: Lies das verdammte Handbuch
(2) C64 - Commodore C64, einer der ersten Heimcomputer
(3) Hex - Hexadezimale Darstellung der Maschinensprachebefehle