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Urmis Geburtstag
Kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag entdeckte ich manche neue Welten. Aufregendes, Überraschendes, manchmal auch Erschreckendes. Heute ist mir klar, das war eine Zeit des Ausprobierens, der ersten Schritte in die Welt der Erwachsenen. An schöne Ereignisse erinnere ich mich besser als an die unangenehmen. Mir ist es allerdings heute noch sehr peinlich, dass ich einmal von der Polizei nach Hause gebracht worden war, weil ich mit der Gang im Stadtpark Bier getrunken hatte. Meine Eltern hatten sich damals eher amüsiert, denn sie wussten, dass ich Alkohol gar nicht gerne trinke. Heute kennt niemand mehr diese Geschichte und trotzdem denke ich sehr ungern daran.
Aber eine andere Neuerung war mir besonders wichtig: Ich bekam endlich Taschengeld. Heute kann ich nur lächeln, aber damals schien mir Geld der Schlüssel für diese neue Welt zu sein, die sich nach dem schrecklichen Krieg, den ich als Kind auf dem lande noch erlebt hatte, da langsam auftat. Endlich den Rock kaufen, den meine Mutter mir nie gekauft hätte oder den Lippenstift, der meinen Vater zu einer flammenden Strafpredigt veranlasste. Er verstummte allerdings recht schnell, als ich ihm versicherte, nur mein eigenes Geld ausgegeben zu haben. Heute weiß ich, dass meine Eltern mir viele Freiheiten ließen, auch wenn es ihnen manches Mal schwer fiel.
Mit dem Geld konnte ich auch manches kaufen, um mich bei den anderen Mitgliedern der Gang beliebt zu machen. Eigentlich gehörte ich gar nicht richtig dazu, ich besaß keine Lederkleidung und traute mich auch nicht auf ein es der wenigen Motorräder der Leader. Aber ich kaufte Zigaretten, obwohl ich nie geraucht habe, die konnte ich großzügig verschenken, erst an die anderen Mädchen, später auch an Jungs, die mir gefielen. Einer dachte dann wohl, ich würde ihm noch mehr schenken. Er drückte seine Lippen auf meine - nicht mein erster Kuss, aber sicher der schlabbrigste, den ich bis dahin genießen durfte. Als sich seine Hände dann auch noch in mein Höschen verirrten, schritt ich zur Tat. Wir hatten damals eine junge Referendarin in Sport, die mit uns einige Übungen zur Selbstverteidigung durchnahm. Dieser Unterricht war für die Schülerinnen völliges Neuland, aber meinem dank meiner Eltern ausgeprägten Selbstvertrauen tat der durchschlagender Erfolg dieser Übungen gut. Nach diesem Abend verschwand der zudringliche Typ ganz schnell, wenn er mich nur von weitem sah.
In der Gang stieg mein Ansehen nach diesem Zwischenfall. Das nutzte ich aus, ich ließ mich nicht mehr an den Rand schubsen, sondern drängte mich in die Mitte - um dann zu merken, dass die anderen eigentlich gar nicht so richtig zu mir passten. Auf meiner Suche nach neuen Freunden entdeckte ich dann auch meine Familie und stellte überrascht fest, dass auch uralte Menschen über dreißig einmal jung gewesen waren und selber dieses verwirrende Leben eines Teenagers, wie wir uns damals stolz nannten, erlebt hatten.
Anfang Juli besuchten wir für vier Tage Urmi. So nannten wir Kinder unsere Uroma, die ihren 86. Geburtstag mit ihrer großen Familie feierte. Am Nachmittag vor dem großen Geburtstagsfest ging ich in den Garten der hinter Urmis gemütlichem Landhaus mit seinen vielen schönen Zimmern lag. Ich liebte dieses Haus, das damals schon bald einhundert Jahre alt war, aber am schönsten erschien mir dieser Garten mit seiner Blütenpracht, seinen Hecken und Bäumen, den beiden kleinen Teichen, dem Pavillon und den kleinen Wäldchen, die den Garten - eigentlich müsste man ihn Park nennen - umgaben wie dichte Hecken. Hier konnte man wunderbar Verstecken oder Indianer spielen. Allerdings kam ich mir damals schon zu erwachsen für diese Kinderspiele vor, abgesehen davon, dass in diesem Sommer Jungs mir nur blöd zu sein schienen - und meine Freundinnen liefen diesen Blödmännern auch noch nach, als ob sie selber schwach im Kopf waren. Kurz gesagt, ich verstand die Welt in diesem Sommer nicht so recht.
Ich schlenderte über die Kieswege an Blumenbeeten und niedrigen Sträuchern entlang und schaute ab und zu verstohlen zum Haus zurück. Es war alles ruhig. Die Eltern der großen Kinderschar saßen im Wohnzimmer und tranken Kaffee während sechs Großeltern sich auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten und einen ausgiebigen Mittagsschlaf hielten. Es war nicht wirklich still im Garten. Bienen summten und ab und an war ein Vogel zu hören. Die Sonne schien warm herab und ich ging ein wenig schneller, um in den Schatten des weitläufigen Gebüschs zu kommen, das etwa in der Mitte des Gartens lag. Dahinter befand sich eine kleine Terrasse mit einer Mauer, um die Wärme einzufangen und davor war ein wunderschöner Rosengarten angelegt. Immer wenn wir Urmi besuchten, ging ich hierhin, bewunderte die vielen verschiedenen Rosen mit den so unterschiedlichen Farben und Formen ihrer Blüten. Eigentlich sollte man meinen so eine Unmenge von Farben - ich dachte oft an eine Farbexplosion - würde den Augen wehtun, aber bei dem Anblick dieser Blütenfülle erfüllte mich immer wieder eine tiefe stille Freude. Ich setze mich jedes Mal auf die Bank und dann kam ich zur Ruhe und alle Sorgen und Ängste des Alltags schienen wie vergessen. Und was für Riesensorgen das damals waren. Heute kann ich nur lächelnd den Kopf schütteln, aber eine der größten Katastrophen für mich war der Tod von James Dean vor wenigen Monaten gewesen. Ich fiel in ein tiefes Loch, aus dem mich zwei Tanten herausholten, die ich eigentlich gar nicht so gern mochte, weil sie mir ein wenig altmodisch erschienen. Als wir einmal zu dritt am Kaffeetisch saßen - wohl kaum zufällig, wie ich mir später überlegte - erinnerten sie einander an Rudolph Valentino und seinen tragischen Tod und wie sehr sie damals am Boden zerstört waren. Wir haben uns irgendwann alle drei in die Arme genommen und dann einen Berg Sahnebaisers verdrückt.
Heute hatte ich mir überlegt, einige wenige Rosen abzuschneiden und zu einem Geburtstagsstrauß zu binden. Zwar hatte ich vorgehabt, Urmi einen Strauß oder auch etwas anderes als Geschenk zu kaufen, aber leider hatten viele wichtige Kleinigkeiten zum Ende der Schule und der Abschiedsfeier mit der Gang mein ganzes Taschengeld verbraucht. Da ich im garten so viele Blumen schneiden durfte, wie ich mochte, brauchte ich gar kein schlechtes Gewissen zu haben. Dennoch war ich erschrocken, als ich die Terrasse betrat und Urmi auf der Bank, die an der Mauer stand, sitzen sah. Ich dachte erst, sie schliefe, aber dann drehte sie ihren Kopf zu mir und lächelte mich an: "Wie schön, Sonja, komm her und setz dich zu mir."
Das tat ich natürlich und eine ganze Zeit saßen wir beide nebeneinander und schauten den Rosengarten an. Die Luft war warm, kaum ein Lüftchen wehte und das Gesumme der Bienen schwebte über den Rosen. Sonst war alles still. Ein Vogel begann zu pfeifen. Sein Gesang erinnerte mich an ein en bekannten Schlager, den Urmi gerne hörte.
"Der Vogel singt dein Lied?", platzte ich in die Stille.
Urmi lachte leise. "Ja, das ist ein Star, die imitieren gerne, was sie hören. In der Stadt soll es sogar Stare geben, die Autohupen und bellende Hunde nachmachen:"
Schweigend saßen wir weiter auf der Bank und hörten dem Star zu, der uns ein kleines Konzert gab. Als er aufhörte, schaute Urmi mich an: "Was hattest Du denn mit der Rosenschere vor?"
Ich glaube, ich bin knallrot angelaufen. Das dürfte bei meinen blonden Locken unmöglich ausgesehen haben. Die Locken habe ich übrigens von Urmi geerbt, aber ihre Haare sind jetzt ganz weiß.
"Ich .. eh … wollte … eh … dir einen Geburtstagsstrauß pflücken", stotterte ich. Und weil ich nun schon am Gestehen war, fügte ich noch hinzu: "Ich habe nämlich kein Geld mehr, um dir ein Geschenk zu kaufen."
"Aber nächsten Monat bekommst du doch wieder Taschengeld?"
"Ja, aber ich kann dir doch nicht erst im August ein Geschenk kaufen."
Urmi schaute nachdenklich in den Garten, sah zum blauen Himmel herauf, an dem einige kleine Wattewölkchen schwebten und dann meinte sie: "Ich möchte gar keinen Strauß haben. Die Zimmer quellen schon über vor Blumensträußen, wo sollte ich da noch den Strauß von dir hinstellen. Außerdem finde ich es viel schöner, die Blumen dort zu betrachten, wo sie zu Hause sind."
Und wir saßen weiter auf der Bank und bewunderten die vielen blühenden Rosen. Ein großer Heckenrosenbusch umrankte ein Tor, das in der Mitte des Rosengartens stand und blühte in geradezu verschwenderischer Fülle. Die Blüten waren klein und gar nicht gefüllt, aber es waren so viele, dass man die Rosenblätter kaum sah. "Das Rosentor werde ich wohl kaum ins Haus bekommen, aber so einen kleinen bunten Strauß. Ich möchte dir doch etwas schenken"
Urmi schwieg lange, aber dann begann sie zögernd zu sprechen. "Die Heckenrose hat meine Urgroßmutter gepflanzt, als sie und ihr Mann dieses Haus gebaut hatten und den Garten angelegt haben. Einige Bäume standen damals schon, aber die Rosen sind die ältesten Blumen im Garten. Und du brauchst mir auch im August kein Geschenk zu kaufen. Ich weiß gar nicht, ob man ein richtiges Geschenk überhaupt kaufen kann."
Ich starrte sie verdutzt an. "Was meinst du damit?"
"Na ja, das Geld, das jemand ausgibt, ist zwar erst mal weg, aber bald bekommt man neues Geld und das kann man dann auch wieder ausgeben."
"Aber, was soll man denn schenken? Soll ich dir ein Bild malen?" Beinahe hätte ich noch gesagt, ich bin doch kein kleines Kind mehr. Aber bedeutete es, Erwachsen zu sein, wenn man seine Geschenke kaufte und nicht mehr selber erstellte? Ich ahnte, was Urmi meinte, wollte aber nicht klein beigeben.
"Wir sitzen hier zusammen auf der Bank. In der letzten halben Stunde haben wir die Rosen bewundert und dem Star gelauscht. Wir haben uns ein wenig erzählt, die Sonne genossen und auch unser Beisammensein. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, dass Du so lange bei mir geblieben bist."
"Und du meinst, dass ich hier mit dir sitze, ist schon ein Geschenk für dich?"
"Du hast mir deine Zeit geschenkt. Und die bekommst du nicht wieder. Aber du hast jetzt noch die Erinnerung an diese Zeit und ich finde es wunderbar, dass wir uns Vergangenes vergegenwärtigen können und uns an Erlebnissen freuen können, die vor langer Zeit geschehen sind. Ja, ich glaube, Zeit ist das größte Geschenk, das sich Menschen einander geben können."
Jetzt wohne ich in dem Landhaus, das nun auch in die Jahre gekommen ist. Oft sitze ich alleine im Garten und lasse meine Gedanken in die Vergangenheit reisen. Jetzt aber sitzt neben mir meine Urenkelin Charlene, die gerade vierzehn geworden ist, und wir betrachten den Rosengarten. "Für dich, Urmi", mit diesen Worten hatte sie mir einen kunstvoll gebundenen Orchideenstrauß überreicht. Charlene bekommt so viel Taschengeld, dass sie es sich leisten kann, teure Geschenke zu verteilen. Ich muss ihr wohl die Geschichte von meiner Urmi erzählen.