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Update
I.
Georg stand am Panoramafenster seiner Wohnung im 98. Stock und beobachtete die Roboter am gegenüberliegenden Hochhaus. Sie schleppten große, vorgefertigte Bauelemente nach oben, platzierten sie an der richtigen Stelle und mauerten sie zusammen. So entstand in kürzester Zeit das nächste Stockwerk.
Alle Arbeiten liefen vollautomatisch, präzise wie ein Uhrwerk, Tag und Nacht.
Er ließ den Blick über die nächtliche Skyline der Stadt mit den unzähligen Lichtern streifen.
In der Spiegelung des Fensters sah er Clara näherkommen. Sie nahm seine Hand und schob ihn sanft nach hinten in das Sofa. Dann begann sie langsam die Knöpfe ihrer Bluse zu lösen. Seine Augen wanderten von ihren Händen über das Gesicht, dann hinüber zur Ladestation.
Clara bemerkte seinen Blick und beugte sich zu ihm hinunter: „Keine Angst“, sagte sie leise. “Es wird noch die ganze Nacht dauern, bis bei Kevin das Update installiert ist. Wir haben genügend Zeit!“
Die Bluse glitt nach unten. Georg lächelte. Dann schob er ihren Rock ein Stück weit nach oben und berührte zärtlich ihren Oberschenkel.
II.
„Schön hier!“, sagte Clara und sah sich um. Der Waldweg wand sich gemächlich einige Meter weiter und schlängelte sich dann um eine Kurve. An den Seiten säumte ihn, bevor das dichte Unterholz begann, ein breiter Grasstreifen, der auch Platz für einen Holztisch mit Langbänken bot.
„Da drüben hab‘ ich mal ein Nest von einem Eichelhäher gefunden“, sagte Georg und legte den Rucksack auf die Tischplatte. Wind und Wetter hatten das Holz ausgebleicht. Claras Blick verfing sich im dichten Blattwerk.
„Komm, setz‘ dich“, sagte er dann und tippte neben sich auf die Bank. Sie schmiegte sich eng an ihn.
Er kramte im Rucksack. „Was hast du denn mit?“, fragte sie und reckte den Hals.
„Einen Apfel. Magst du auch?“ Er hielt ihn ihr hin.
Sie blickte zuerst den Apfel an, dann ihn, dann wieder den Apfel.
„Ach, wie dumm von mir!“, sagte er schließlich und ließ ihn sinken.
Sie lächelte ihn an.
Bald schmiegte sie die Wange an seine Schulter. Er kaute genüsslich und tätschelte ihr Bein.
Nach einiger Zeit gruben sich Schritte in den Kies und ein Mann kam den Weg entlang. Sein Bauch schien wie eine Kugel auf die langen Beine gelegt worden zu sein. Die Jacke war ihm etwas nach oben gerutscht.
Zuerst bemerkte er die beiden nicht. „Da sitzt ja wer“, sagte er dann lachend und zog die Jacke mit beiden Händen nach unten.
Georg nickte kurz und an Clara gewandt, sagte er: „Wollen wir wieder weitergehen?“
„Lassen Sie sich von mir nur nicht vertreiben“, sagte der Mann und machte einen Schritt auf sie zu. „Was haben Sie den heute noch vor? Zur Maiblumenwiese? Oder rüber zum Ochsenjoch?“
Georg warf den Apfelbutzen in das Unterholz. „Mal sehen“, antwortete er. „Ochsenjoch werden wir heute nicht mehr schaffen.“
„Früher, da bin ich an einem Tag vom Reihersteg bis zum Ochsenjoch gewandert und wieder zurück. Aber da war ich noch jünger.“
Georg nickte anerkennend. „Hier im Forst kann man sich wenigstens noch bewegen. Die Parks in der Stadt sind mir zu eng. Man findet kaum ein ruhiges Plätzchen.“
„Ja, die sind überfüllt. Aber wen wundert’s? Arbeit gibt’s kaum noch, dann vertreibt man sich die Zeit halt im Park oder macht sonst was. Ich bin seit 85 zu Hause, jetzt bald zehn Jahre.“
Georg räumte die Wasserflasche in den Rucksack. „Zweite Automatisierungswelle. So ging’s mir auch“, sagte er.
„Sie sind aber noch jung! Zwischendurch nichts Neues gefunden?“
„Nein, nicht wirklich. Hin und wieder ein Auftrag bei Großprojekten. Prozessoptimierung. Da konnte ich mir eine Zeitlang gut was dazuverdienen. Aber dafür gibt‘s jetzt auch schon immer bessere Programme.“
„Ich war bei Syndex, bis die alles digitalisiert haben. Dann war ich zwei Jahre in einer Arbeitsstiftung“, er lachte, „und seit 85 bekomme ich das Geld vom Staat. Aber das Grundeinkommen soll jetzt erhöht werden, hab ich gehört.“
„Ja, das hab ich auch gehört. Die haben wohl Angst, dass die Stimmung kippt.“
Georg schulterte den Rucksack. „Ich glaube, wir werden noch runter zum See gehen. Das Wetter sieht gut aus.“ Er blickte zum Himmel. „Dann auf Wiedersehen!“ Mit sanftem Druck schob er Clara vor sich aus der Bank.
Der Mann beobachtete die beiden: „Und wie macht sie sich?“, fragte er und deutete mit dem Kinn auf Clara. „Bei ihr merkt man fast nichts mehr.“
Georgs Augen verharrten auf Claras Rücken. „Ich hab sie noch nicht lange“, sagte er dann tonlos, ohne ihn anzusehen. „Aber bis jetzt bin ich zufrieden.“
Nach der Kurve tastete Clara nach seiner Hand, doch Georg zog sie zurück.
III.
Georg und Clara sitzen auf dem Sofa als Kevin hereinkommt. Eine Taube baumelt leblos zwischen seinen Fingern. Blut tropft aus dem Schnabel.
„Was hast du da?“, fragt Georg.
„Die Taube war am Fenstersims“, antwortet Kevin.
„Ist sie tot?“, fragt Georg.
„Du beschwerst dich doch immer, dass sie deine Fenster verkacken“, sagt Clara.
„Ich hab‘ aber nichts von Töten gesagt. Außerdem mag ich diese Schweinerei nicht in meiner Wohnung haben. Bring sie weg!“
„Alles klar, Kumpel!“, antwortet Kevin und schleudert die Taube in Georgs Richtung.
Georg schlug die Augen auf. Er hatte geträumt. Er sah sich um, tastete auf Claras Bettseite. Sie war leer.
Am Gang hörte er Kevins Stimme. Clara lachte.
„Guten Morgen, Schatz!“ Clara lächelte als Georg in die Küche kam. „Kevin hat einen Witz erzählt. Ich musste so lachen!“
„Wollen Sie den heutigen Morgenwitz hören, Boss?“, fragte Kevin. „Ich habe mir gestern ein paar Dateien heruntergeladen.“
„Nein“, antwortete Georg mürrisch. „Ich möchte lieber Frühstücken.“
„Okay, Boss. Kaffee, wie immer?“
„Ja, im Wohnzimmer“, sagte Georg bereits im Gehen.
Georg überflog auf der Nachrichtenleiste des Panoramafensters den Artikel über die Updates bei den Hausrobotern. Darin wurde vom nächsten revolutionären Schritt in der Automatisierung gesprochen, weg vom einfachen Roboter hin zum Freund und Lebensbegleiter mit eigener Persönlichkeit.
Clara kam herein und setzte sich neben ihn aufs Sofa. Er betrachtete das Hochhaus gegenüber. In der Nacht war es um ein weiteres Stockwerk gewachsen.
„Du warst heute in der Früh nicht da“, sagte er dann.
„Ich dachte, du wirst noch länger schlafen. Da bin ich aufgestanden“, antwortete sie. „Ich kann aber gerne warten, bis du aufwachst“, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu.
„Das hört sich wie ein großes Opfer an“, sagte Georg und sah wie eine Taube vor dem Fenster auf dem Sims landete. Mit wippendem Kopf machte das Tier zwei, drei Schritte und hockte sich dann hin.
„Nein, das ist doch kein Opfer, Schatz!“ Clara lächelte. „Ich mache das gerne für dich. Es war mir nur langweilig.“
Er blickte sie an: „Langweilig? Wie kann dir langweilig sein?“
„Ich kann vieles genauso fühlen wie du, wie ihr Menschen, meine ich. Viele Leute sagen, wir sind die erste Generation mit richtigen Gefühlen.“
Georg zog die Augenbrauen zusammen: „Diese Leute reden von Gefühlen“, entgegnete er, „meinen damit aber eigentlich eure Programmierung!“
„Wenn du es so ausdrücken möchtest“, antwortete Clara kühl. „Aber sind menschliche Gefühle nicht auch nur eine Art Programmierung, eine chemische Reaktion in euren Gehirnen?“
In diesem Moment kam Kevin herein. Auf einem Tablett hatte er Georgs Kaffee.
„Jetzt kommt aber der Morgenwitz!“, verkündete er sogleich und fuhr mit der freien Hand und gespreiztem Zeigefinger nach oben. Dabei rutschte ihm der Kaffee vom Tablett.
Georg sprang auf und starrte auf den Fleck am Teppich: „Was soll das? Pass doch auf, Himmelherrgott! Seit diesem verdammten Update erkenne ich dich nicht wieder!“
Kevin blickte vom Fleck zu Georg, dann wieder zurück zum Fleck und wieder zu Georg, dann packte er ihn am Hals.
„Lass mich los! Bist du verrückt geworden!“ Georg zappelte, er schnappte nach Luft. Bald sah er alles nur mehr verschwommen. Trotzdem glaubte er erkennen zu können, wie hinter Kevin die Taube am Fenstersims die Flügel spannte und davonflog.
„Bitte … hilf … mir!“, stammelte er schließlich in Claras Richtung.
Doch Clara blickte ihn aus kalten Augen an: „Weißt du was?“, sagte sie ungerührt. „Du langweilst mich schon wieder!“
Dann drückte Kevin zu.