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Unwissenheit ist ein Segen
"Kommst Du zum Essen, Schatz?"
William folgte dem Aufruf seiner Frau und den anregenen Düften nur zu gern. Das Buch mit platziertem Lesezeichen weglegend stand er auf und überprüfte kurz den Sitz seiner Kleidung, bevor er sein Arbeitszimmer verließ. Im Esszimmer saß bereits Maria am Tisch und lächelte ihn an. William küsste seine Frau zum Dank, bevor er sich ebenfalls niederließ und die ansprechend arrangierten Schüsseln begutachtete.
"Du gibst Dir immer solche Mühe, Liebes. Zu viel Aufwand, für zwei einsame, alte Menschen."
Sie strich ihm sanft über sein graues Haar. "Das Leben war früher so hektisch, dass ich nun jedes Mahl genieße, dass ich in Ruhe zubereiten und essen kann. Und im Übrigen sind wir nicht so einsam, wie du tust. Die Kinder kommen am Wochenende. Lana ist wieder schwanger und will das mit uns feiern."
So unterhielten sich die Eheleute, wie sie das immer während des Essens taten. Im Gegensatz zu allen vorherigen Mahlzeiten verschwand jedoch eine Schüssel vor Williams Augen.
Sie tat das nicht etwa, indem sie vom Tisch gestoßen wurde. Vielmehr war sie einfach weg, als der alte Mann danach greifen wollte. Verblüfft und ungläubig suchte er die Blicke seiner Frau, deren volle Aufmerksamkeit jedoch den Resten ihres Salates galt. Als er zurück sah, war die Schüssel wieder an ihrem Platz.
Schon wollte William es als übles Spiel seiner alten Augen abtun, als es wieder geschah. Diesmal war es sein Weinglas, das sich für einen Augenblick in Nichts auflöste. Er starrte wie gebannt auf das Glas, das nun wieder dort stand, als wäre nichts gewesen. Nun war Maria aufmerksam geworden. "Was ist mit Dir?", fragte sie, sich den Mund mit der Serviette abtupfend.
"Dieses Glas - es war für einen Augenblick verschwunden. Kurz zuvor geschah dasselbe mit der Schüssel."
"Oh William, Lieber. Du wirst müde sein und Deine Sinne spielen Dir einen Streich. Besser, Du gönnst Dir einen kleinen Mittagsschlaf."
"Nein, das dachte ich zunächst auch. Aber zwei mal, so kurz hintereinander, das glaube ich nicht", entgegnete er.
„Vielleicht wirst Du auch krank. Oder Du verträgst eines Deiner Medikamente nicht. Ein Grund mehr, Dich hinzulegen.“
"Ich bin weder krank noch senil!"
Es lag mehr Nachdruck in seiner Stimme, als er beabsichtigt hatte. Maria zuckte zusammen, fand ihr verständnisvolles Lächeln jedoch unglaublich schnell wieder. "Siehst Du, Du reagierst schon gereizt. Ein sicheres Zeichen. Du musst Dich ausruhen. Das ist in Deinem Alter doch keine Schande."
"Nein, ich muss nicht ruhen. Ich werde wohl gereizt sein dürfen, wenn mir meine eigene Frau nicht glaubt!"
"Aber ich glaube Dir doch." Maria legte die Hand auf seine Schulter. "Ich denke nur, dass Dich Deine Augen betrogen haben." Unwirsch schob er ihre Hand weg. "Und ich glaube, dass es wirklich geschehen ist. Ich werde rausgehen und nachsehen, ob mir dort etwas ungewöhnlich erscheint."
Es überraschte William, wie schnell seine Frau sich um ihn herum schieben und den Weg zur Tür versperren konnte. Noch mehr erstaunte ihn die Schärfe ihres Tons. "William Giddons, ich denke wirklich, es wäre besser für Dich, wenn Du Dich jetzt hinlegst."
Wieso wollte Maria mit aller Gewalt, dass er schlief? Wollte sie ihn davon abhalten, ein sorgsam gehütetes Geheimnis zu entdecken? Er war so wütend auf Maria wie schon lange nicht mehr. Er spürte das Adrenalin in sein Blut strömen. Sein Urteilsvermögen schwand. In die Ecke gedrängte Urinstinkte übernahmen die Kontrolle.
Er holte aus, um sich wütend den Weg ins Freie zu bahnen.
Sie verschwand.
Nur eine Sekunde später stand sie wieder an der selben Stelle. Ihre Augen waren weit vor Entsetzen. William spürte die Wut und mit ihr alle Kraft aus seinem Körper weichen. Sein Geist war gelähmt. Er taumelte zurück, stieß an die Wand und glitt daran herunter. Mit angezogenen Beinen und zwischen den Armen vergrabenem Kopf stieß er hervor: "Was geschieht hier?"
Seine Stimme war zittrig. Maria machte einige Schritte auf ihn zu, doch er hob abwehrend die Hände. "Bleib weg. Ich will wissen, was hier los ist."
Er richtete sich mühsam auf und ging zur Tür. Diesmal versuchte sie nicht, ihn aufzuhalten. Er zögerte. Puls und Atem rasten. Bilder rasten durch seinen Kopf. Häuser, Straßen, Menschen.
Die Hand über der Klinke zitterte.
Er atmete heftig aus und stieß die Tür auf.
Alles war an seinem Platz.
Doch seine Erleichterung wich jäh. Die Häuser waren verzerrt wie ein schlecht empfangenes Fernsehbild. Seine liebevoll gepflegte Rosenhecke blinkte wie eine alte Neonreklame.
Seine Beine brachen ein. Mit einem dumpfen Schlag krachten die Knie auf den hölzernen Verandaboden.
Maria erschien hinter ihm. Sie wirkte erstaunlich ruhig, als sie mit abschätzendem Blick den klaren, blauen Mittagshimmel musterte. "Die Energie geht wohl zur Neige. Es ist zu dunkel draußen. Die Solarkollektoren erzeugen nicht genug Strom, um Deine Welt aufrecht zu erhalten."
"Was redest Du? Es ist ein herrlicher Tag." Williams Stimme war schwach, von Tränen fast erstickt. "Und seit wann braucht man Elektrizität, um eine Rosenhecke am Leben zu halten?"
Die zierliche alte Frau holte tief Luft. "Es braucht Elektrizität, weil nichts hier real ist. Die Häuser nicht, die Straße nicht, nicht Dein Rosenbusch." Sie hockte sich zu ihm auf den Boden, fasste sein Gesicht mit beiden Händen und blickte ihm fest in die Augen, bevor sie hinzufügte: "Und auch ich bin es nicht."
William zitterte am ganze Leib, seine Stimme war gebrochen, leise und kraftlos. "Aber Du bist hier. Ich kann Dich anfassen. Ich kann mich an unsere Hochzeit und die Geburt der Kinder erinnern."
"Das ist lange her. Niemand davon lebt mehr."
"Sie können nicht tot sein. Du hast selbst gesagt, sie kommen am Wochenende zu Besuch. Wir bekommen doch unser drittes Enkelchen." Die letzten Worte waren nur noch ein ersticktes Hauchen. Maria wischte ihm mit den Daumen die Tränen aus den Augen.
"Es wird nur ein Objekt in einem Computerprogramm sein. Genau wie Deine Kinder und Deine Frau. Dein wirklicher Körper liegt schon seit vielen Jahren in einem gläsernen Sarg."
William atmete schwer. Bleigewichte schienen seine Brust zusammen zu quetschen. "Das glaube ich nicht," schrie er mit tränenerstickter Stimme, "Ich will es sehen!"
Maria gab einen tiefen Seufzer von sich. "Okay, die Illusion ist ohnehin zerstört. Aber nimm Dich in Acht. Es wird Dir nicht gefallen."
Sie schloss die Augen, als würde sie einen telepatischen Befehl aussenden und im nächsten Moment brach der Himmel über ihm zusammen.
Sein Haus zerstob wie eine trockene Sandburg im Wirbelsturm.
Er schrie.
Einen ewig scheinenden Moment war Chaos.
Sein Schreien wurde zum kehligen Krächzen.
Dunkelheit.
***
Licht!
So hell, dass es ihn durch die geschlossenen Augenlider blendete. Ein Surren. Wo war er? Was war geschehen? Wieso war er so ruhig? War er nicht eben noch in Panik gewesen? Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Er versuchte sie zu öffnen, zwang sich, den Schmerz der Blendung auszuhalten. Almählich gewann seine Umgebung an Konturen. Er lag flach auf dem Rücken. Die Unterlage war weich. Das Surren schien von einem Glasdeckel zu kommen, der gerade am Fußende seiner Unterlage in der Wand verschwand. Ein Klicken, dann war es still.
Etwas steckte in seinem Hals. William griff nach seinem Gesicht. Die Arme gehorchten ihm nur langsam, aber schließlich ertastete er etwas, das Mund und Nase zu bedecken schien. Ein Schlauch führte daraus hervor. Er zog daran, und spürte, wie sich tief in seinem Hals etwas bewegte. Ein Würgereiz überkam ihn, den er nur mühsam unterdrücken konnte. Er zog weiter und weiter, und mit jedem Ruck wurde der Impuls, sich zu übergeben stärker. Schließlich war der Schlauch heraus. Sein Magen drückte eine kleine grüne Pfütze hervor, die nun übel riechend auf der Matratze schwamm.
Nachdem er wieder etwas zur Ruhe gekommen war, setzte er sich auf, mühsam mit zittrigen Armen, aber es gelang. In beiden Armen steckten Nadeln mit dünnen Schläuchen, die in einen Kasten über seinem Kopf führten. Wie der Tropf in einem Krankenhaus. Er zog sie heraus. Etwas Blut quoll durch die Wunde, die er mit den Ärmeln des Leinenhemdes, das er trug, zudrückte.
Zwei Plättchen waren auf seiner Stirn verklebt. Kabel führten von diesen in den selben Kasten, wie die Schläuche.
Hatte er die blinkende Rosenhecke nur geträumt? Lag er in Wirklichkeit mit einem Schlaganfall im Krankenhaus?
Mühsam drehte William sich, so dass die Beine seitlich am Bett herunter hingen und sah sich um. Er war in einer annähernd quadratischen Halle. Sie mochte etwa hundert Quadratmeter messen und vier Meter hoch sein. Sie war angefüllt mit geschäftig surrenden Metallkisten. Kein Krankenhaus. Kein Traum.
Er blickte direkt auf ein Tor an der gegenüberliegenden Wand.
Er wollte aufstehen, doch seine Beine brachen unter der Last seines Körpers zusammen. Obwohl sie nicht viel zu tragen gehabt hätten, fehlte seinen Muskeln die Kraft.
Wieso war er so ausgezehrt?
Auf allen Vieren, häufig Pausen einlegend, arbeitete er sich über den glatten, glänzenden Fußboden auf das Tor zu.
Er war darauf vorbereitet gewesen, sich unter Aufbietung der gesamten Masse seiner Ghandi-Gestalt dagegen werfen zu müssen, doch als er auf einen halben Meter heran war, glitten die Schotten in die Wand wie beim Fahrstuhl eines Einkaufszentrums.
Dahinter lag eine dunkle, feuchte Treppe.
Williams Geist war zu taub, als dass er sich Gedanken hätte machen können, ob er den Kampf mit den Stufen gewinnen, und was ihn oben erwarten würde. Wie der einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes im Dschungel robbte er weiter, erklomm Stufe um Stufe.
Erst, als er an einem Podest mit einer weiteren Tür ankam, ließ er sich fallen. Diese machte keine Anstalten, sich von allein für ihn zu öffnen.
Sein Körper schrie nach einer Pause.
Ihm wurde schwarz vor Augen.
Nachdem sich der Schleier etwas gelichtet hatte, sah er sich die Tür genauer an. An ihr war ein Zahlenfeld angebracht, über dem eine kleine rote LED ihr gebieterisches Stoppsignal aussandte. Ohne zu zögern gab er das Geburtsdatum seiner Frau ein, doch über der Bestätigungstaste hielt sein Finger inne. Woher war er sich so sicher, dass dies der Code war? Und was würde ihn hinter der Tür erwarten? Er hatte die dumpfe Ahnung, dass es ihm nicht wirklich gefallen würde.
Aber hier war er nun, ein alter Mann, dessen gesamte Welt soeben zusammengebrochen war wie ein gesprengtes Hochhaus. Er konnte nicht zurück. Der wartende Zeigefinger vollendete seine Aufgabe. Die rote LED gab ihr Licht an die daneben liegende grüne ab und die Tür glitt kratzend wie reibende Mühlsteine zur Seite.
Dahinter herrschte die Dunkelheit eines wolkenverhangenen Regentages. Feuchte, kalte Luft schlug ihm entgegen. Wie ein Vorhang strömte Wasser an der Türöffnung herunter und floss die Treppe in einer langen Folge winziger Wasserfälle hinab.
William zog sich hoch, und tatsächlich gelang es ihm nach einiger Zeit, auf seinen Füßen zu stehen – unsicher, wie ein Kleinkind, das sich schwankend an Mutters Hose Halt verschaffte. Schritt für Schritt tastete er sich an der Wand entlang. Nur Sekunden, nachdem er ins Freie getreten war, war seine Kleidung durchnässt. Die Feuchtigkeit schien sogar seine Haut zu durchdringen. Seine Glieder stachen vor Schmerz.
Der Regen stank wie der Inhalt eines über Jahre vergessenen Kühlschranks. Wie konnte das sein? Sollte Regenwasser nicht das Klarste und Reinste sein, das zu finden war?
Er machte eine Pause, um sich umzusehen.
Der flache Betonbau von der Größe eines öffentlichen Toilettenhäuschens, der die Treppe zu seinem unterirdischen Gefängnis abschloss, war das einzige intakte Gebäude weit und breit. So sehr seine schmerzenden Augen den Horizont auch absuchten, alles, was sie sahen, waren zerfallende Betonruinen, überdeckt mit einem schwarzen, öligen Schlamm.
William wusste nicht, wie lange er seine ausgezehrte Gestalt durch dieses düstere Endzeitszenario geschleppt hatte, bevor er erschöpft das Bewusstsein verlor. Ebensowenig konnte er erkennen, wie viel Zeit er in diesem Zustand verbacht hatte. Die Umgebung war bei seinem Erwachen noch immer in das selbe trübe Dämmerlicht getaucht. Sein Köper war mit öligem Regen verschmiert. Er war ausgekühlt. Jede Bewegung war von einem Schmerz begleitet, der ihm fast wieder das Bewusstsein raubte.
Er fühlte sich elend und leer.
Was sollte er tun? Sollte er weiter durch diese Welt stürzen? Ein alter Mann, ohne eine Idee wo er sich befand, wohin er gehen sollte und was zu tun sei?
Sein unterkühlter Körper drängte ihn, sich einen Unterschlupf zu suchen, und so machte William sich auf die Suche nach dem einzigen Ort, von dem er wusste, dass es dort trocken und warm war.
Obwohl er ziellos umhergeirrt war, schien er sich nicht weit entfernt zu haben, denn schon bald hatte er die Tür gefunden und die Codezahl eingegeben. Die Treppe war er mehr hinunter gefallen als gegangen und hatte dabei sein Leinenhemd entgültig zerrissen. Er entledigte sich mühsam seiner durchgeweichten Kleidung und betrachtete die darunter zum Vorschein gekommenen blauen Flecken und Wunden. Ein Wunder, dass er sich nichts gebrochen hatte.
Da saß dieser nackte dürre Körper mit hängendem Kopf einsam in einer Ecke der maschinengefüllten Halle. Er versuchte, zur Ruhe zu kommen. Eine schwierige Übung, wenn man gerade alles, was selbstverständlich schien, verloren hatte.
William versuchte, das taube Gefühl in seinem Kopf abzuschütteln und sah sich um. Er machte sich auf die Suche nach frischer Kleidung. Immer wieder musste er sich anlehnen oder hinsetzen. Doch schließlich fand er einen Schrank mit einem Stapel in Folie eingeschweißter Leinenkleidung. Er zog ein Päckchen heraus und öffnete es. Die Kleidung glich jener, die er nass und zerrissen an der Treppe zurückgelassen hatte. Er zog sie über. Erst dann, als er sich wieder als Mensch fühlte, begannen die Fragen ihn zu überschütten.
Was war mit der Welt geschehen? War er ganz allein? Wieso wusste er nicht, dass er in dieser computergenerierten Welt gelebt hatte, kannte aber den Code des Ausgangs? Wie lang war er gefangen, und warum?
Er beugte sich der Flut und zwang sich, der Erschöpfung zu trotzen und erneut auf Suche zu gehen. Irgendeinen Hinweis musste es ja geben.
Nach einigem Suchen fand er einen Terminal, der sich bereitwillig aktivieren ließ. Er zeigte eine Liste von Tagebucheinträgen. Sie waren durchnummeriert. Kein Hinweis auf ein Datum.
William tippte auf den Ersten und ein Videofenster öffnete sich, aus dem ein jüngeres, mitgenommen wirkendes, Alter Ego seiner selbst heraus blickte. Mit weichen Knien lauschte er der Aufzeichnung.
"Ich habe nun so lange nach anderen Überlebenden gesucht, doch ich finde keine. Ich wollte mir selbst ein Ende setzen, aber es gelang mir nicht. Ich kann es nicht.
Ich habe diese Traumfabrik gefunden. Ich muss die Stromversorgung stabilisieren, aber die Maschinen sind noch intakt. Das Eingangsportal habe ich repariert und gesichert - nur für den Fall dass es doch noch jemanden gibt. Ich möchte nicht überrascht werden."
Der Schock der Erkenntnis traf William mit der Wucht eines Nuklearsprengkopfes. Er selbst hatte sich in dieses Gefängnis eingeschlossen. Klar, dass er den Code zum Eingang kannte. Aber warum wusste er nichts mehr davon?
Er tippte wahllos auf einen anderen Eintrag.
"Ich bin auf ein unterirdisches Lager voller Solarpanels gestoßen. Vermutlich ein Vorrat des Millitärs. Ich werde sie aufstellen und an die Stromversorgung für die Traumkammer anschließen. Ich brauche noch einen automatischen Reinigungsmechanismus. Dieser ölige Regen macht sie sonst augenblicklich unwirksam."
Wofür er wohl diese Aufzeichnungen gemacht hatte? Die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand abhören würde war doch eher gering. Vielleicht hatte er einfach das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen. Obwohl William erst seit kurzem wusste, wie allein er war, konnte er das bereits gut nachvollziehen. Einsamkeit ist eine schreckliche Strafe.
Gedankenverloren blätterte er zur letzten Seite der Liste und tippte einen weiteren Eintrag an.
"Ich habe nun schon eine Weile in meiner künstlichen Welt gelebt. Sie ist wirklich perfekt. Doch wenn ich Maria in die Augen sehe, kann ich nur denken: Sie ist nicht echt.“ Das Gesicht auf dem Schirm sah eine Weile schluchzend zu Boden, bevor es hinzufügte: „Wenn ich doch nur vergessen könnte."
Er musste es irgendwie geschafft haben, dachte William grimmig. Er wusste nicht einmal, was die Menschheit vernichtet und die Erde so unbewohnbar gemacht hatte. Er durchforstete das Tagebuch nach Hinweisen, doch sein jüngeres Selbst schien nur mit sich, seiner Einsamkeit und der Traummaschine beschäftigt zu sein. Kein Hinweis auf einen Krieg, eine Naturkatastrophe, einen Alienüberfall oder sonst irgendetwas.
Statt dessen besagte der letzte Eintrag:
"Marias künstliches Gegenstück hat einen Mechanismus entwickelt, der mein Gedächnis löscht, sobald ich an die Maschine angeschlossen werde. Die Katastrophe und alles danach wird durch andere Erinnerungen ersetzt. Mir wird es erscheinen, als habe sie nie stattgefunden. Und ich kann Maria in die Augen sehen und aufrichtig sagen, wie sehr ich sie liebe.
Ich werde mich an die Versorgungsmaschinen anschließen und meinen Geist der virtuellen Realität überlassen. Ich werde mein Leben in Frieden führen und schließlich in Frieden sterben."
William saß noch reglos vor dem Bildschirm, als die Automatik ihn abgeschaltet hatte. War er nun in der Lage, sich umzubringen? Schusswaffen gab es nicht. Er könnte sich höchstens erhängen oder mit einem Elektroschock töten. Er spürte förmlich, wie sein Körper wild zuckend von den Strömen durchflossen wurde; wie sich jeder Muskel verkrampfte und nicht mehr seinem Willen gehorchte, sein Geist um Hilfe schrie, bis die eiserne Hand schließlich sein Herz anhalten und das Leben aus ihm saugen würde.
Nein. Er konnte es nicht.
Er würde wie damals in die Maschine gehen und die Erinnerung an diesen Vorfall aus seinem Gedächnis löschen.
William atmete tief durch und setzte sich auf den Rand der Liege. Er klebte sich die Metallplättchen auf die Stirn, schaute etwas verunsichert auf die Kanülen, die er sich in die Arme stechen musste. Als er sich noch fragte, wie er diese Aufgabe ohne medizinische Ausbildung erledigen sollte, schnarrte eine Stimme in seinem Kopf: „Bitte hinlegen.“ Er zuckte, die Stimme klang nach Maria. Erzeugten die Plättchen seine Traumwelt? War er schon wieder auf dem Weg? Er gehorchte der Aufforderung.
Ein Metallarm fuhr aus der Wand und blieb auf Höhe seiner Ellenbogen stehen. Es zwickte kurz. Als die Sicht frei war, erkannte er neue Kanülen, die in seinen Armen steckten.
Eine seltsame Ruhe erfüllte ihn, die im krassen Gegensatz zu dem Unbehagen stand, das seinen Verstand angesichts des bevorstehenden Ereignisses erfüllte. Die Versorgungsmaschine musste bereits damit begonnen haben, ein Sedativum in seinen Körper zu pumpen. Die Gesichtsmaske kam näher. Mit einem seltsam beruhigenden Surren fuhr die Glasscheibe über ihn.
Mit jedem Millimeter, den sie sich vorarbeitete, versank er weiter in künstlicher Bewusstlosigkeit. Er spürte kaum, wie sich der Schlauch der Maske in seine Atemröhre bohrte. Mit einem schmatzen rastete der Deckel in seiner Endposition ein. Der Gedanke, dass die Stromversorgung sich nicht gebessert haben dürfte, erreichte seinen Verstand nicht mehr.
***
Maria schlug die Augen auf. Er lag auf dem Rücken schlafend neben ihr. Er war zurückgekehrt. Sie hatte wie immer gebangt, denn ohne seine Anwesenheit war ihre eigene Existenz gefährdet. Aber er war wie immer zurückgekommen. Das Spiel konnte von vorn beginnen, bis sie zum nächsten Mal eine Störung herbeiführen musste, die ihn die Wahrheit erkennen ließ.
Es war nötig. Er musste die künstliche Welt verlassen, denn nur beim Wiedereintritt konnte sie sein Gedächnis löschen. Irgendwann würde sie seinen Körper nicht mehr erhalten können. Doch bis dahin durfte er im Traumland nicht sterben. Sie würde ihm folgen müssen. Sie hatte seinen Tod in den letzten vierhundert Jahre verhindert, sie würde es mindestens noch einmal so lang durchhalten.
Sie intialisierte die Traumwelt neu.
***
William erwachte früh. Maria lag tief schlafend neben ihm. Leise erhob er sich und verließ das Zimmer. Er blickte duch den Spalt der offen stehenden Nachbartür. Lana schlief selig in ihrem Kinderbett. Er sah sie einen Moment lang an, bevor er seiner Morgentoilette nachging.
Zehn Minuten später stand er auf der Veranda seines Hauses und betrachtete den Garten. Es war ein herrlcher Sonntag. Er beschloss, eine Runde Joggen zu gehen und Brötchen zu holen, um Maria und Lana mit einem Frühstück am Bett zu wecken.