Unwiederbringlich
Leise tappe ich durch das unbekannte Halbdunkel und versuche dabei im Schein der niedergebrannten Kerzen meine Sachen zusammenzusuchen. Wonderbra, Strümpfe, Kleid – aber wo zum Teufel ist mein Slip? Und wo habe ich in all der Ekstase meine Pumps hingekickt? Ein lautes Schnarchgeräusch lässt mich unweigerlich herumfahren. Noch schläft er, aber wenn ich weiter so vor mich hinfluche... Schnell husche ich auf die andere Seite des Bettes, wo ich meine Schuhe endlich entdeckt habe, und versuche im Vorbeigehen keines der Gläser umzuwerfen, die noch halbvoll auf dem sündhaft teuren Teppich stehen. Nach einem letzten prüfenden Blick und der Vergewisserung, dass Chris noch schläft, haste ich lautlos zur Wohnungstür und verschwinde. Soll er den Slip doch behalten.
Draußen auf der Strasse zünde ich mir eine Zigarette an und blase den Rauch in die kalte Morgenluft. Es ist gegen halb fünf und die Straßenkehrer beseitigen was von der letzten Nacht übrig geblieben ist. Nichts als Scherben zerborstener Flaschen und Zigarettenkippen. Langsam schlendere ich die 34. Straße in Richtung Aldo’s hinunter, wo ich mir jetzt erst einmal einen Kaffee gönnen werde. Straßenlaternen leuchten mir den Weg und einzelne Autos bahnen sich den ihren durch die Seitenstraßen. Minuten später stehe ich mit einem dampfenden Becher Kaffee und einer weiteren Zigarette vor Aldo’s kleinem Laden und starre nachdenklich die gegenüberliegende Hauswand an, auf der in großen Lettern geschrieben steht: „Geh nicht immer auf dem vorgezeichneten Weg, der nur dahin führt, wohin andere bereits gegangen sind.“ Konzentriert denke ich über die Bedeutung nach, die die Zeile in sich trägt. Doch mein Kopf lässt solche Gedankengänge nicht zu. Es ist zu früh und die Spuren der letzten Nacht noch zu frisch. Ich halte das nächste vorbeifahrende Taxi an und lasse mich zu meinem Apartment in Upper Manhattan fahren.
Das Geräusch meines Schlüssels hallt im Flur wider und schnürt mir für eine Sekunde die Luft ab. Ich weiß ich werde für alles, was ich je in meinem Leben getan habe in die Hölle kommen. Ich weiß es in dem Augenblick, in dem mir Abby blinzelnd zwischen den Kissen meines riesigen Bettes entgegenschaut und dabei aussieht, wie eine kleine Göttin. Meine Göttin. „Schön, dass du da bist.“, flüstert sie schlaftrunken und lächelt mich müde an. Sie weiß nicht, wo ich wirklich war. Sie glaubt ich sei mit alten Freundinnen weggegangen. Wie mindestens einmal in zwei Wochen. Sie glaubt sie sei die einzige, der ich meinen Körper offenbare. Sie ist so treu, so liebenswürdig, so naiv. Sie ist das einzige, was mich noch am Leben hält.
Langsam lasse ich mich neben sie gleiten, in die kühlen Wogen aus Satin. Abby sieht dazwischen aus wie unglaublich kostbares Porzellan. Meine Fingerspitzen betasten ihre sinnlichen Lippen, die blutrot nach Berührung schreien. Vorsichtig küsse ich sie, aus Angst sie zu verletzen fast unspürbar, und atme ihre wundervollen Duft ein. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und lässt mich wehmütig mitlächeln. Sie hat es nicht verdient, dass ich so unsagbar schlecht bin. „Ich will dich spüren, Helen.“, flüstert sie und sieht mir in die Augen, während sie meine Hand zu ihren kleinen Brüsten führt. Mit geschlossenen Augen nehme ich Abby wahr. Sie streichelt mich liebevoll. An meinem Hals, über meine Brüste, über meinen Bauch... Überall. Ich spüre ihren heißen Atem in meinem Nacken, als ich sieh an Stellen berühre, die sie wild machen. Ich weiß, was sie will. Es ist schon fast so etwas wie Gewohnheit und doch immer wieder spannend. Mein Mund berührt sie sanft, leckt, knabbert, beißt. Immer wilder treiben wir uns gegenseitig in den frühen Morgenstunden dem Höhepunkt entgegen, bis sich alles in einer Woge verliert und Abby ihre Finger in mein Haar krallt. Ich sehe in ihr zufriedenes Gesicht, als sie sich rücklings in die Kissen fallen lässt. Erschöpft streiche ich über ihr Haar, hauche ihr einen Kuss auf die Lippen und schmiege mich an sie. „Ich liebe dich.“, höre ich sie müde sagen und eine leise Träne bahnt sich ihren Weg über mein Gesicht.
Mein Therapeut, zu dem ich heimlich gehe – wie jeder der etwas auf sich hält – sagt ich solle ehrlich mir gegenüber sein. Ich starre ihn an und nicke langsam. Was heißt das? Ehrlichkeit? Das Koks lässt das Bild an der Wand zerfließen. Langsam kriecht es über den Boden zu mir und bedeckt meine Designerpumps. Mein Therapeut weiß nicht, dass Abby mich verlassen hat, nachdem sie mich in flagranti erwischt hat. Sie legte ihre Naivität ab und ging. Abby ist kein kleines Mädchen mehr. Und Evelyn ist kein Ersatz für sie. Ich liebe Evelyn nicht. Ich brauche sie eigentlich auch nicht, aber es ist nett jemanden um sich zu haben. „Helen, was wollen sie?“, fragt er mich eindringlich und ich zucke zusammen. Woher soll ich das wissen?
Dort steht sie. Evelyn. Ihr String sitzt perfekt. Grün, leuchtend, sehen ihre Augen in meine. Sie ist ihres Lebens müde. Ich weiß es. Bin es selbst. Langsam geht sie auf mich zu. Ihre Brüste wiegen im Takt ihres Schrittes. Fremd und doch so unwiderstehlich, so steht sie nun vor mir. Langsam lässt sie ihre Hand zwischen meine Beine gleiten. Mein Atem geht schwerer. Ihre Hand tut das Übrige, um mich zu dem zu treiben, was ich genau in diesem Moment nicht will. Ekstase. Ich beiße mir auf die Lippen, will die Schmerzen in meinem Herzen nicht spüren. Ich will genießen können. Ihre weichen Lippen gleiten über meine Haut, lassen mich unter ihnen erzittern. Ich lasse mich auf alles ein, erwidere, was sie mir gibt. Willenlos gebe ich mich ihr hin, von allem, was mich im Innern berührt, verlassen. Was mache ich hier? Sie ist so dominant, lässt mich in Wogen der Lust schwimmen. Ich weiß nicht, wie sie es schafft, aber schon Minuten später schmelze ich dahin. Ich will Abby.
Langsam setzt die Wirkung ein. Ich drifte dahin. Ich habe meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle, lasse mich auf das Spiel meiner willenlosen Muskeln ein. Whisky und Koks. Die Schattenspiele an der Wand faszinieren mich, ich will sie greifen und kann es nicht. Meine scheinbar ausweglosen Qualen sind mit einem Mal wie weggeblasen. Das Fenstersims scheint mir von hier aus näher als sonst. Es spricht zu mir, will mein Freund sein. Meine – hoffentlich – letzte Zigarette verglüht einsam im Aschenbecher und mein Körper fliegt von Engelsflügeln getragen dem harten Asphalt entgegen.