- Beitritt
- 28.11.2014
- Beiträge
- 884
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Unterwegs
Bahnhöfe können prachtvoll und beeindruckend sein: monumentale Denkmale eines aufstrebenden Europas. Unter ihnen die imposanten Pariser Bahnhöfe und der fast gleichzeitig erbaute Keleti, Ungarns Tor nach Osten. Dort war Alia im August.
Jetzt, fast vier Monate später, steht sie mit mir, ihrer alten Freundin, an einem ganz anderen Bahnhof: Empel-Rees. Hier gibt es nur zwei Gleise. Vom Bahnsteig des ersten führt eine Treppe hinab in eine dunkel-feuchte Unterführung, aus der man auf der gegenüberliegenden Seite wieder ans Tageslicht gelangt. Alles ist grau, alles ist Beton. Nur die Latten der einsam dastehenden Bank sind aus Holz. Doch auch sie werden getragen von gegossenen Betonstützen. Ein trostloser, ein verwaister Ort - zumindest, solange sich nicht die zwei oder drei Menschen eingefunden haben, die von einem der ankommenden Züge weggebracht werden möchten.
Während Alia eifrig mit dem Automaten diskutiert, um ihm das günstigste Ticket für unseren Trip nach Düsseldorf zu entlocken, stehe ich fröstelnd hinter ihr. Eine Mütze wäre gut. Mir ist kalt am Kopf. Außerdem verweht dieser feuchte Windzug meine sorgfältig in Form gebrachten Haare. Früher, als mein Haar noch voll und lang war, konnte ich es hochstecken. Das lassen meine kurzen und dünneren Haare jetzt nicht mehr zu und bei Wind wirke ich immer leicht gerupft. Ja, eine Mütze – daran hätte ich denken sollen. Alia ist da besser dran. Ihr türkisfarbenes Kopftuch schützt ihren Kopf vor dieser nasskalten Niederungsluft. Der lange schwarze Tuchmantel weniger. Es ist dringend nötig, dass sie sich einen Wintermantel kauft, denke ich. Vielleicht finden wir ja heute einen.
Der Automat rattert und spuckt zwei Tickets aus.
Alia dreht sich um und reicht mir meins. Türkis steht ihr gut, denke ich. Irgendwie unterstreicht es ihre Augen, die auch mit Mitte Fünfzig noch groß und ausdrucksvoll sind. Amüsiert stelle ich fest, dass sie mit einem feinen türkisfarbenen Lidstrich nachgeholfen hat.
„Ist dir nicht kalt?“, frage ich sie.
„Schon, etwas. Zum Glück habe ich an einen dicken Pullover gedacht. Und außerdem sitzen wir gleich im warmen Abteil. Noch sechs Minuten.“
Sie hat es kaum ausgesprochen, da beginnt der schwarze Kasten über uns lebendig zu werden. Eine Schnarrstimme teilt uns mit, dass unser Zug ausfällt. Es tue ihnen leid, ein Ersatzzug komme in zwanzig Minuten.
„Scheiße!“, tönt es von der Holzbank. Eine junge Frau steht auf und kommt zu uns.
„Habe ich das richtig verstanden? Wir müssen noch 20 Minuten warten?“
„Ja, das scheint so.“
„Typisch Bahn. Damit hat sich das dann auch mit meinem Anschluss erledigt.“
Sie stellt sich vor uns und schaut hoch zum schwarzen Kasten, so als hoffe sie, dass es sich die schnarrende Stimme noch einmal überlege. Doch auch das schwarz-gelbe Spruchband bestätigt jetzt die Verspätung.
Resigniert dreht sie sich um. Sie ist kleiner als wir, kompakt und stämmig. Unter ihrer schwarzen Kapuze lugt eine Frisur hervor, wie ich sie bisher nur bei pubertierenden Jungen gesehen habe: kurze schwarze Haare, spitz nach oben gestylt. Die kleinen Piercingringe an Lippen und Nase empfinde ich als merkwürdigen Widerspruch zu ihrer gesunden Hautfarbe und den rosig durchbluteten Wangen. Und auch ihre lebhaften blauen Augen scheinen mir nicht zu den Tätowierungen zu passen, die am Ende der Ärmel sichtbar werden und fast bis zu den Händen reichen. Wieder diese stumpfen Rot-, Blau- und Grüntöne, denke ich. Gibt es eigentlich keine frischeren Farben für Tattoos oder funktioniert das dann nicht?
„Haben Sie kein Problem mit der Verspätung?“, wendet sich die junge Frau an mich.
„Ach, eigentlich nicht. Ist schon blöd, aber das wird sich ja hoffentlich bald ändern.“
„Und ihre … Freundin?“ Sie betrachtet Alias schwarzen Stoffmantel. „Ist sie nicht zu dünn angezogen für hier?“
Ich nicke und drehe mich zu Alia: „Was denkst du? Sollten wir in Düsseldorf mal nach einem Wintermantel schauen?“
„Hm, ja. Ist wohl nötig. Hab ganz vergessen, wie ungemütlich der Winter bei euch sein kann.“
Die junge Frau betrachtet Alia neugierig.
„Entschuldigung. Ich habe gedacht, Sie sprechen kein Deutsch.“ Sie mustert Alias Gesicht und ihr Kopftuch. „Woher kommen Sie? Aus Syrien?“ Ihre blauen Augen blicken Alia offen und interessiert an.
„Ja. Genau.“
Die Kleine freut sich, dass sie richtig gelegen hat. „Und wie lange sind Sie schon hier?“
„Erst ein paar Monate.“
„Und dann sprechen Sie schon so gut Deutsch?“
Alia lächelt und schaut mich an.
„Ja, ich hatte eine gute Lehrerin.“ Sie schmunzelt. „Aber das ist schon viele Jahre her. Da war ich schon einmal hier.“
Die gepiercten Lippen verziehen sich zu einem verschmitzten Lächeln. Sie sieht mich an: „Soll ich raten? Sie sind die Lehrerin.“
Alia und ich lächeln.
„Und dann haben Sie sich nach so vielen Jahren wieder getroffen?“
„Ja, Alia kannte ja meine Schule und es war nicht schwer, mich zu finden.“
„Ist ja irre.“ Die Kleine findet Gefallen an unserem Gespräch.
„Ich bin übrigens auch nur eine halbe Deutsche, müssen Sie wissen. Soll man nicht denken, bei meinen Augen. Aber wirklich: Meine Mutter ist Türkin. Sie ist als junges Mädchen mit ihren Eltern hierher gekommen. Ihr Deutsch ist super, klingt aber immer noch irgendwie komisch.“
Der Damm ist gebrochen. Innerhalb weniger Minuten erfahren wir einiges. Die junge Frau ist Friseuse, heißt Bircan und fährt an diesem ersten Dezember-Wochenende zu ihrer Großmutter nach Dortmund. In Syrien sei sie natürlich noch nicht gewesen, aber in der Türkei. Als kleines Mädchen habe ihr Großvater sie zu einem Wettkampf nach Istanbul mitgenommen. Sie erinnere sich noch ganz genau an diesen Sultanspalast und die große Moschee.
Was sie dann im Bazar erlebt hat, erfahren wir nicht mehr, denn endlich kommt der Zug.
Er ist noch fast leer und Alia und ich finden recht schnell unsere Plätze. Wir mögen es beide, in Fahrtrichtung zu sitzen. Das Handy unserer neuen Freundin klingelt und sie setzt sich in die Bank an der anderen Seite des Ganges. Ich weiß nicht, was Alia denkt, aber ich bin nicht traurig, dass der Redefluss der Kleinen unterbrochen worden ist.
Wir sitzen ruhig nebeneinander, betrachten die an uns vorüberziehende trüb-graue Gegend mit ihren Wiesen und blattlosen Baumgruppen.
Alia ist ganz heiß darauf, einen großen deutschen Weihnachtsmarkt zu sehen. Vor dreißig Jahren, als sie zum ersten Mal in Deutschland war, gab es nur wenige dieser Märkte.
Außerdem tut uns so ein Frauen-Wochenende mal wieder gut. In der Woche helfen wir beide einer Flüchtlingsinitiative: Ich gebe ein paar Stunden Deutsch und sie kümmert sich um gesundheitliche Probleme der Flüchtlinge. Als Hautärztin darf sie noch nicht praktizieren.
Allmählich füllt sich unser Abteil. Bircan ist immer noch mit ihrem Handy beschäftigt, tippt und wischt. Ihr gegenüber sitzt jetzt eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter.
Auch die beiden Plätze vor uns werden besetzt. Wir ziehen unsere Knie zurück. Ungepflegte Typen, denke ich. Beide scheinen sich noch mit Bier versorgt zu haben. Der Kleinere öffnet die Dose, nimmt einen Zug und vertieft sich in das Display seines Handys. Auch der größere, der Alia gegenübersitzt, hat sein Bier geöffnet und trinkt. Unter seinem rechten Auge hat er ein längliches Feuermal. Ich kenne so etwas. Einer meiner Neffen wurde mit einem ähnlich roten Flecken geboren. Er ließ ihn später weglasern. Ich überlege, ob dieser junge Mann auch darunter leidet. Er indes scheint seine Umgebung nicht wahrzunehmen, leer sehen seine etwas wässrigen Augen nach vorne. Dann ändert sich sein Blick.
Er fixiert Alia:
„Was glotzt du so?“
Ich habe nicht bemerkt, dass auch Alia den Jungen angeschaut hat. Wahrscheinlich ist ihr fachliches Interesse geweckt worden.
„Entschuldigung, das wollte ich nicht. … Es tut mir leid.“ Ich spüre Alias Betroffenheit.
„Entschuldigung, Entschuldigung. Hab ich dich etwa angeglotzt? Du mit deinem komischen Turban?“
Er trinkt einen Schluck.
„Was wollt ihr hier eigentlich? … Kommt einfach alle rüber und nehmt uns die Arbeit weg.“
„Also bitte!“, schalte ich mich ein, „Sie haben die Entschuldigung gehört. Damit sollte es jetzt gut sein.“
„Gut sein? Gut sein? Nichts ist gut! Ich kriege keine Arbeit. Und die da kommen und bekommen gleich alles.“
Alia schaut auf ihre Hände.
Seine Stimme wird lauter: „Ja, guck nur weg. Euch habe ich das alles zu verdanken. Kein Geld, keine Arbeit. Nichts.“
Nebenan entsteht Unruhe. Die Mutter erhebt sich, fasst ihr Kind an der Hand und geht zur Abteiltür.
„Nur euch.“ Er stupst Alia mit dem Zeigefinger auf ihren inzwischen gesenkten Kopf. „He, guck mich an. Das hilft jetzt auch nichts, dass du runterguckst.“
„Komm, Alia, wir suchen einen anderen Platz.“
Ich erhebe mich, aber gleichzeitig schnellen die Beine des Jungen nach vorne und verstellen uns den Weg.
„Ihr bleibt hier und hört euch mal an, wie es mir geht.“ Er beugt sich zu Alia und wartet darauf, dass sie den Kopf hebt. Sein Gesicht befindet sich nun ganz nahe an ihrem Kopftuch. Das rote Mal erscheint mir plötzlich greller, seine Konturen schärfer.
Er schnauft, eine Pause entsteht.
Nebenan steckt Bircan ihr Handy in die Tasche. Wahrscheinlich macht sie sich jetzt auch davon, denke ich. Langsam erhebt sie sich und tritt in den Gang, ihre Tasche auf der Bank lassend.
Der Atem des Jungen geht schwer. Wir sitzen starr und warten darauf, dass er fortfährt.
Da tritt Bircan neben ihn und tippt ihm auf die Schulter: „Könntest du die Damen mal in Ruhe lassen.“
Irritiert hebt er seinen Kopf und schaut zur Seite: „Was willst du denn, du Zwerg? … Setzt dich hin und kümmre dich um deinen Kram.“
„Ich möchte, dass du dich entschuldigst und dich dann vom Acker machst.“
Der Junge schaut Bircan gespielt fragend an: “Kannst du das noch mal sagen? Ich glaube, ich habe dich nicht verstanden.“
„Ich möchte, dass du dich entschuldigst.“
„Spinnst du. Was mischst du dich hier eigentlich ein? Hau ab!“
„Nein.“
Dem Jungen reicht es. Er steht auf, streckt seine Hand nach vorne und will Bircan zurückschieben.
Plötzlich geht alles sehr schnell. Ein Ruck, eine kurze, heftige Bewegung und der große Kerl liegt auf dem Boden. Alia und ich verfolgen das Geschehen fassungslos. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Hände feucht und kalt sind.
Der Gesichtausdruck des Jungen ist eine Mischung aus Überraschung und Schmerz. Bircan hat sich über ihn gebeugt. Ihre Hand hält seinen Arm und hat ihn so nach hinten gewinkelt, dass es ihm nicht gelingt, sich aus ihrem Griff zu befreien. Er ruckt, kann sich aber nicht erheben. Der Ärmel ihrer schwarzen Jacke ist etwas hochgerutscht und gibt einen Vogel mit grünen, roten und blauen Federn frei.
„Hör auf …“, bittet der Junge.
„Sag, dass es dir leid tut und du kannst gehen.“
„Verdammt, lass mich los. … Ja, okay, … es tut mir leid. Und jetzt mach Schluss.“
Bircan hat mit ihrem Fuß auch den anderen Arm des Jungen blockiert und die Bierdose ist ihm aus der Hand gefallen. Ein dünnes hellbraunes Rinnsal bewegt sich auf den Schuh seines Kumpels zu. Auch der ist starr.
Langsam öffnet Bircan ihre Hand und lässt den Jungen frei. Umständlich, beinahe torkelnd, erhebt er sich. Sein Fuß stößt gegen die Bierdose, die rollend unter der Bank verschwindet. Auch sein Freund steht nun auf und geht zum Gang. Wortlos schieben sie sich an der abwartend stehenden Bircan vorbei.
Ich schaue den Jungen hinterher. Beklommen verweilt mein Blick auf dem Rücken des Größeren. Ich atme tief durch und langsam löst sich meine innere Anspannung.
Nebenan beugt sich Bircan über ihre Tasche und zieht den Reißverschluss zu.
Alia steht auf. Sie ist die erste von uns beiden, die die Sprache wiederfindet: „Ich danke Ihnen sehr. Das war sehr sehr mutig von Ihnen.“
Bircan wendet sich lächelnd um. Sie schaut Alia an und dann an ihr vorbei zur geschlossenen Abteiltür. Ihre Miene wird ernster: „Echt ne arme Socke.“
Ich habe mich gefangen. Doch mich lässt das soeben Erlebte noch nicht los: „Wie haben Sie das bloß gemacht? Ist das Judo oder Karate? Wie macht man denn so was?“
„Ach ja, richtig. Das wollte ich vorhin noch erzählen.“ Bircan reißt sich los und verfällt wieder in den uns bekannten Plauderton: „Wir waren ja in Istanbul zu diesem Wettkampf. Mein Großvater konnte alles: Karate, Jiu Jitsu, alle diese Sachen. Ja, und er hat mir schon ganz früh das Wichtigste beigebracht. Irgendwie hatte er immer Angst, dass ich zu klein bin und jeder mit mir machen würde, was er wollte. Ich war noch keine vierzehn, da konnte ich schon alles.“ Sie denkt kurz nach. „Eigentlich ist alles nur Technik. Man muss den Hebel kennen und den anderen überraschen, dann klappt das schon.“
Sie nimmt ihre Tasche.
„Jetzt kommt Duisburg. Hier muss ich umsteigen. Wahrscheinlich sitze ich noch eine Dreiviertelstunde in der Kälte, bis der Zug nach Dortmund kommt. Scheiß Bahn.“
Sie schaut Alia an: „Sie müssen sich unbedingt einen wärmeren Mantel kaufen. Das ist ganz wichtig. Der Winter kann hier wirklich kalt werden.“ Ein wenig unschlüssig steht sie im Gang. „Ach ja. Hätte ich beinahe vergessen. Schon jetzt: Schöne Weihnachten.“
Wir erwidern ihren Wunsch und schauen ihr nach, wie sie unseren Blicken hinter der sich schließenden Abteiltür entschwindet.