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Unterm Rad
Die Bibliothek erschien zu so später Stunde wie ein Geisterhaus. Langsam und forschend suchte er sich seinen Weg durch die Bücherreihen, die hoch gestapelt, modrig und von Webern umschwungen ihre greisen Autoren behüteten. Er folgte den bedächtigen Lauten der Violine, die ab und zu dem Spuk der körperlosen Stimmen in seinem Kopf ausweichen konnte, einen Harken schlugen und weit in den Fuchsbau seiner Seele vorpreschten. Hans Giebenrath fühlte ein Gemisch aus Sehnsucht und Offenbarung in seinem Herzen, für die kein Platz war in seinem Studium an dieser geistigen Lehranstalt, zwischen Griechisch, Hebräisch und Latein. Sein Gesicht spiegelte die Furcht seines Geistes wieder, die Furcht entdeckt zu werden zu so später Stunde, den Kampf gegen die Begierde, die er zu stillen gesuchte. Langsam ergaben sich seine Phantasien den Besetzern der Violinenstimme und sie feierten ihre Eroberer vor jahrelanger Zurückhaltung, Scham und Unterdrückung. Falsch gekleidete Menschen hatten ihm das Gefühl gegeben jemand zu sein, der Persönlichkeit, Geist und Andacht besäße; ein verschwiegener Mensch geächtet von den gleichaltrigen, getrieben von dem Sinn nach Gleichberechtigung und angespornt durch die kirchliche Odyssee, die Antworten verprach, die er sonst nie finden würde.
Die Violine wurde eindringlicher mit jedem seiner Schritte und die Begierde lies ihm das Herz zu Ohren schlagen, die Begierde etwas zu finden, das tief in ihm ruhte und dessen Präsenz ihm nur seine Sehnsucht verriet. Seine Torheit und Schüchternheit, seine Reserviertheit und Zurückhaltung hatten diese kleine Flamme entzündet und sie immer wieder angefacht, solange bis sie ein Buschfeuer wurde, das auch Hans nicht mehr zu löschen vermochte.
Heilner saß bedächtig auf dem Kaminsims und spielte auf der Violine. Hans beobachtete ihn und Heilner spürte es, doch die Vertrautheit der Klänge trug beide auf ihren Schwingen und lies sie durch die Himmel fliegen. "Heilner", sagte Hans und sein Gegenüber reagierte, wie jemand der aus tiefem Schlaf erwachte. "Ich möchte alleine sein", sagte dieser schroff und wandte sich dem Plafond zu. Hans war verletzt und kurz davor umzudrehen, als Heilner aufsprang und ihn packte. Die beiden Knabengesichter kamen sich fast bis zur Berührung nahe und es knisterten Funkenflüge in der Luft, die das Lauffeuer des Geistes erzeugte.
Heilner drückte seine Lippen Hans auf den Mund. Hans erschrak und war bereit sich aus der Umklammerung zu lösen, solange bis die Essenz des Kusses aus den weinenden Augen Heilners in Hansens wanderte. Er ergab sich der Begierde und fühlte das Pochen seines Herzens, hoch und schnell. Heilner löste sich und blickte Hans mit einer Selbstsicherheit in die Augen, die ihn erschrecken lies. Diese blauen, tiefen Augen, diese Spiegel einer Phantasiegestalt, die sich ihre Umwelt so geschaffen hat, wie es ihr ihr kranker Verstand vorhält; dieser Angriff einer ums Überleben kämpfenden Rasse, die im Sterben mit allen Sünden untergeht, ohne sich auf das Jenseits jemals vertrösten zu lassen. Dieser aufrechte Untergang wurde für Hans zu einem gebückten Neubeginn. Hans presste Heilner an seinen Körper und spürte die Wärme. Wie ein Maiglöcklichen traurig träge seine Blätter gen Himmel streckt, begann Hans tastende Hand über Heilners Hals zu streichen. Er packte fest zu, zog ihn an sich und ihre Lippen berührten sich wieder.
gewidmet Hermann Hesse