Unter Menschen
Wie ihn dieser Typ nervte. Wieso musste es Menschen geben, die im Sitzen so groß waren wie im Stehen, und warum mussten die auch noch immer eine riesige Haarpracht mit sich rumtragen? Und wer ließ eigentlich zu, dass sich diese Leute im Kino immer genau auf den Platz vor einem setzten? Der Film war scheiße, OK, aber Theo hatte dafür bezahlt, und jetzt wollte er ihn auch sehen. Es ging um eine dumme, junge amerikanische Frau, sie hieß Jennifer oder Sandy oder Lynn oder so. Sie liebte einen Kerl, der sie nicht liebte, und sie wurde geliebt von einem anderen, den sie nicht liebte. Das ganze spielte irgendwo, in irgendeiner blöden amerikanischen Stadt, und es ging hin und her, noch eine Verwicklung und noch ein unglaublicher Zufall, na ja, wie das halt so ist in diesen Filmen. Dumme Menschen machen dumme Sachen, die kein normaler Mensch machen würde, nur weil dem mittelmäßigen Drehbuchautor nichts besseres eingefallen war. Aber Theo ging gerne in dieses Kino, genauer gesagt jeden Abend. Er sah den Film zum achten Mal.
Ja, dieser blöde Typ. Er konnte sich nicht in seinen Sitz lungern, wie das jeder normale Mensch im Kino machte, nein, er musste natürlich kerzengerade auf seinem Sitz sitzen, als befände er sich im Gerichtssaal als Angeklagter in einem Mordprozess. Das einzige, was dieses Bild beeinträchtigte, war, dass er die ganze Zeit herumhampelte, als säße er bereits auf dem elektrischen Stuhl. Theo fing an, ihm Papierkügelchen in seine Lockenpracht zu werfen. Seine ganze Eintrittskarte riss er in Stückchen, formte sie zu kleinen, handlichen Wurfgeschossen und beförderte sie mit eleganten Bewegungen in die störende Mähne des Langhaarigen. Theo gluckste vor Freude, was aber im allgemeinen Gelächter über den dummen Film nicht weiter auffiel. Er nippte an seinem Bier, und die kurze Freude verflog und wich diesem mittlerweile bekannten Zustand, dieser lähmenden Mischung aus Melancholie und Erschöpfung. Um ihn herum saßen die anderen Zuschauer, zum größten Teil junge, sorglose Pärchen, zum Teil aber auch zusammengehörende Grüppchen mehrerer junger, sorgloser Pärchen. Theo ließ seinen Blick schweifen, sah die Sitzreihen vor ihm, alte, abgewetzte Sitze, mit Jahre alten Limonadeflecken auf den Polstern und Krümeln von vor langer Zeit geknabberten Knabbersachen in den Ritzen. Er begann, seine Umgebung aufmerksam wahrzunehmen, er hörte das Rattern des noch aus Ostzeiten stammenden Abspielapparates und sah die Staubkörner, die auf der Leinwand flimmerten. Chipstüten knisterten, Bier und Cola rauschte durstige Kehlen hinunter, auch ein unterdrücktes Aufstoßen meinte er zu vernehmen. Er versuchte noch kurz, sich auf den Film zu konzentrieren, gab aber schnell auf und verließ das Kino.
Draußen blieb Theo stehen, atmete tief ein und angelte nach seinen Zigaretten. Immerhin, heute hatte er fast eine Stunde ausgehalten. Sonst war er immer schon gegangen, als das dumme amerikanische Mädchen noch mitten im Schlamassel ihrer Liebschaften steckte, doch heute hatte er zum ersten Mal das pflichtgemäße Happy-End erahnen können, bevor er gegangen war. Na, vielleicht noch drei, vier Tage, und er würde den Film bis zum Ende sehen. Trotz allem ging er gerne in dieses Kino, es lag direkt neben der Pension, in der er vor zwei Wochen ein kleines Zimmer bezogen hatte. Er kannte niemanden in dieser Stadt, genau genommen kannte er noch nicht einmal die Stadt, er kannte eigentlich gar nichts. Aber jeder musste mal unter Menschen, und so ging Theo seit einigen Tagen in dieses Kino. Er steckte sich seine Zigarette an und ging einige Schritte auf und ab. Es wurde langsam Sommer, die Luft war zwar zu dieser Uhrzeit schon ziemlich kalt, aber es war angenehm, die Menschen in den Cafes um ihn herum zu hören, wie sie lachten und redeten und tranken.
Er erinnerte sich an seine Flucht. Denn es war eine Flucht gewesen, kein sorgfältig geplanter und wohlüberlegter Umzug in einen neuen Lebensabschnitt. Er hatte nicht überlegt, welche Möbel er mitnähme und welche er verkaufte, er hatte nicht tagelang Umzugskartons gepackt, und er hatte nicht seine Freundschaften überprüft, welchen er baldiges Wiedersehen versprechen sollte und welche er lieber mit einem „Man sieht sich.“ versanden ließe. Nein, keine drei Tage hatte er gebraucht, um all seine Habseligkeiten an den Erstbesten zu verscheuern, natürlich ausgenommen das Nötigste und die wenigen Dinge, die ihm fehlen würden. Keine drei Tage, um seinen Job zu kündigen (das hatte nur drei Minuten gedauert, und keiner hatte ihn aufgehalten, eigentlich war es sogar ein Eklat gewesen, so hatte noch nie jemand gekündigt), die amtlichen Sachen zu regeln und alle Zelte abzubrechen. Ja, das konnte man schon eine Flucht nennen.
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„Hastwiskleingld?“ Theo drehte sich nach dem dünnen Stimmchen um und fragte: „Wie bitte?“ „Ob du was Kleingeld hast!“, fragte das Stimmchen, deutlich energischer, fast schon bestimmt, als habe es einen Anspruch auf einen Wegzoll der vorbeieilenden Passanten. Theo sah ein kleines, blutleeres Wesen, ein Mädchen (oder schon eine Frau?), blass und kränklich. Sie sah aus, als hätte sich ein Hersteller von süß-kitschigen Porzellanhündchen einen Scherz erlaubt, als hätte er versucht, eine Figur zu entwerfen, die so wenig süß wie möglich und erst recht nicht kitschig aussehen sollte, um sie dann an einen exzentrischen Sammler zu verkaufen, der sie in seinem dunklen, holzgetäfelten Kuriositätenkabinett ausgestellt und sich an den Hässlichkeiten dieser Welt erfreut hätte. Das Porzellan, was normalerweise die Liebhaber von blöde glotzenden Porzellanhündchen in Verzücken versetzte, betonte bei dieser Art von Statue – Theo musste sich daran erinnern, dass es gar keine Statue war – ihre Leblosigkeit und lies ihn ein wenig erschaudern. Nicht, dass er sich vor ihr ängstigte, vielmehr erschauderte er aufgrund der Absurdität, dass solch ein Wesen sprach und sogar ein lebendiger Mensch war wie er selbst.
„Wassisnjetz?“, riss ihn das Mädchen aus seinen Überlegungen, „hastewiskleingld oder ´n´ Zigarette?“ Sie schob sich ihre vom trommelnden Regen nassen Haare aus dem Gesicht und versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen. Theo betrachtete die Haare, und wieder erschien das Bild der Sammlermonstrosität, denn die an ihrem Kopf klebenden Haare bestätigten den Eindruck einer aus einem Stück gebrannten Porzellanfigur. „Ja, klar“, sagte Theo, freundlich, um seiner Begegnung mit einer bettelnder Kaminsimsdekoration einen unverbindlichen und alltäglichen Anstrich zu geben. Er überlegte, ob es hygienischer sei, die Zigarette aus der Schachtel zu nehmen und ihr mit der Hand zu geben oder ob er ihr besser die geöffnete Schachtel hinhielte. Er entschied sich dafür, die Zigarette aus der Schachtel zu nehmen (dies war nicht die Situation für übertriebene Höflichkeit) und reichte sie ihr zwischen Daumen und Zeigefinger geklemmt wie mit einer Pinzette. Nicht, dass er wirklich Angst vor der Ansteckung mit einer tödlichen Krankheit gehabt hätte, aber angesichts der dünnen Fingerchen des Stimmchens, deren Farbe der einer rohen Bratwurst ähnelten, und eines diffusen Unbehagens in seiner Magengegend schien ihm diese Vorsichtsmaßnahme angemessen zu sein. „Dankemann“, gurgelte das Mädchen, „un´ hasteauchwiskleingld?“ „Nein, sorry“, antwortete Theo; er hatte seinen Teil getan, und schließlich sollte man seine Großzügigkeit nicht überstrapazieren. Er ging weiter, und das Stimmchen wandte sich anderen Passanten zu.