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Unter eurer Nase
Es ist tragisch, dass ihr Menschen heute nur noch auf eure Handys schaut. Ihr verpasst dadurch so viel von der Welt. Ihr überseht die Vögel in den Bäumen, die Hasen in den Pärken, nicht mal andere Menschen beachtet ihr allzu oft – kein Wunder, dass ihr uns Zwerge hinter den U-Bahnfenstern nicht entdeckt. Gebt's doch zu! Ihr habt uns noch nicht bemerkt. Dabei sind wir direkt vor eurer Nase. Na ja – unter eurer Nase. Wir waren es immerhin, die das U-Bahnnetz überhaupt erst gebaut haben. Und heute habt ihr vergessen, dass es uns gibt. Zugegeben, es ist nicht leicht uns zu erblicken. Wir treiben uns selten in befahrenen Tunneln rum. Aber manchmal kommt es vor. Wie zum Beispiel bei Eddie.
Er war der Fürst unserer Gemeinschaft, unser Anführer, und er verbrachte den ganzen Tag in den Schächten. „Schneller, schneller! Die Tunnel bauen sich nicht von selber“, kommentierte er die Arbeit seiner Zwerge. Er war vielleicht nicht der freundlichste Fürst, aber er spornte die Gruppe zu herausragenden Leistungen an. Seid ihm gefälligst dankbar. Er ist der Grund, warum euch die Tunnel meist nicht auf den Kopf fallen, wenn ihr durch sie hindurch fahrt. Zufrieden war er allerdings selten.
„Wir haben einen strickten Zeitplan. Die Menschen regen sich schon über Verspätungen auf. Morgen fährt hier wieder die U6 durch und bis dahin müssen wir fertig sein.“ Eddie hatte zwar noch nie eine U-Bahn gesehen, aber er hatte riesige Angst vor ihnen und wollte ja nicht zu nah an sie ran kommen. Er stellte sie sich als monströse Metallschlangen vor, die den Tunnel bis auf den letzten Zentimeter ausfüllten und sich von langsamen Zwergen ernährten.
„Als ich noch jung war, da haben wir doppelt so schnell gegraben wie ihr jetzt“, rief er, was lustig war, denn er sah zwar nicht mehr jung aus mit seinem dunkelgrauen Haar, war aber gerade mal 214 Jahre alt. Ich war viel älter und hatte mehr von der Welt gesehen als er, aber Eddie war nunmal der Fürst. Er ging zu einem leicht verschlafenen Zwerg und nahm seine Spitzhacke „Ich hab schon Menschen gesehen, die besser graben können!“, brüllte er und ein paar Speicheltropfen landeten auf der ledrigen Haut seines armen Gegenübers. „Schau her, wenn ich dir was zeige! Und Hack, und Hack, und Hack ...“
„Ähm, Eddie!“, ertönte eine süßliche Stimme hinter ihm.
„Nicht jetzt. Ich erteile hier gerade eine Lektion im Buddeln. Das ist von größter Wichtigkeit“, schnaufte er, bemerkte aber, dass es plötzlich außer seinen Schlägen auf den Stein vollkommen ruhig geworden war. Mit einem „Was ist denn los?“ drehte er sich um. Als er sah, wer da vor ihm stand, zuckte er zusammen.
„B-B-Bella?“, fragte der sichtlich verunsicherte Fürst. Jeder im Tunnel blickte auf die Zwergin, die vor Eddie stand und eine ruhige Präsenz ausstrahlte – eine höchst ungewöhnliche Aura hier unten. Die Jüngsten starrten sie fragend, vielleicht sogar vorwurfsvoll an. Die wenigsten wagten es, Eddie bei einer seinen Lektionen zu unterbrechen. Wer war diese respeklose Fremde?
Wir, die aber schon ein bisschen älter waren, konnten nicht umhin zu schmunzeln, denn wir kannten Bella und ihren Effekt auf ihn bereits.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Eddie wieder seine Stimme fand. Dann krächzte er: „Was- Was machst du denn hier unten?“
„Wollte mal wieder vorbeischauen“, erwiderte sie fröhlich, „Ist ja schon ein paar Dekaden her seit das letzte Mal da war.“ Sie drehte sich zu einem schelmisch grinsenden Zwerg mit blauer Latzhose und feuerrotem Haaren auf dem ganzen Gesicht. „Hallo, Lars. Schön dich zu sehen“. Aber Lars‘ Lächeln wurde nur noch breiter, als er antwortete: „Lasst euch von mir nicht stören, ihr beiden Turteltäubchen.“
Nicht, dass er jemals Tauben gesehen hätte, aber seitdem er das Wort mal beiläufig bei acht neun Bier mitbekommen hatte, war es seine Lieblingsbezeichnung für Eddie und Bella. Besonders der Fürst reagierte allergisch auf das Wort. Es brachte ihn endgültig wieder zu Sinnen. „Jaja, super, schön dich zu sehen. Wann gehst du wieder? Wir richtigen Zwerge müssen jetzt weiter arbeiten.“
Bella ließ der abweisende Tonfall völlig unbeeindruckt. „Willst du mich nicht zu den Wohnhöhlen begleiten?“
„Das kann Lars machen. Ich habe hier meine zwergische Pflicht zu tun“, sagte er, während er sich bereits wieder den Felsen zuwandte. „Zurück an die Arbeit. Aber dalli!“
Lars ging auf Bella zu. „Komm, ich führ dich mal rum.“ Aber sie bewegte sich nicht. Als ihr klar wurde, dass Eddie sich nicht nochmal umdrehen würde zischte sie: „Du kalter Sturkopf!“ Sie wirbelte herum und rannte in die Finsternis. Lars schaute nochmal besorgt zu Eddie und lief ihr dann aber hinterher.
Wir arbeiteten noch, bis es Abend wurde. Eigentlich war es zwei Uhr nachmittags, aber das war unter der Erde schwierig auseinanderzuhalten. Wie es sich für uns gehört, tranken alle noch ein bisschen Bier vor dem Schlafengehen. Und mit Bier meine ich nicht das gelbe Wasser, das ihr in euch reinpumpt, sondern richtiges Bier – Zwergenbier.
Alle saßen zusammen und plauderten nett miteinander, aber Bella war der Mittelpunkt und jeder hatte Fragen an sie. „Wie ist es da oben so?“, „Haben die wirklich so schlechtes Bier?“, „Sind die Menschen wirklich so dumm, wie sie aussehen?“ Die Zwerge wollten alles wissen. Bella gefiel das. Sie erzählte von eurer wundersamen Welt, in der sie nun schon seit so langer Zeit lebte. „Es ist unfassbar hell. Man braucht Tage, um sich an das Licht zu gewöhnen. Aber die Menschen sind total zuvorkommend. Die haben extra solche dunklen Gläser, die man sich vor die Augen hängen kann. Aber von Bier haben sie wirklich keine Ahnung. Und sie nennen Zwerge Kleinwüchsige. Drolliger Name, nicht?“
Etwas abseits der Gruppe lehnte Eddie sich an eine Wand und schaute Bella wie verzaubert an. „Sehe ich da etwa ein Lächeln auf deinem Gesicht?“, schallte Lars neben ihm, woraufhin Eddie sofort wieder seine grimmige Miene aufsetzte. „Nein, das kann nicht sein“, witzelte Lars weiter. „Fürst Eddie lächelt doch nicht. Nur eine Person hat Fürst Eddie je zum Lachen gebracht und damals war Fürst Eddie noch gar kein Fürst.“ Beim letzten Satz blickte Lars rüber zu Bella.
„Pah!“, erwiderte er. „Für diesen Satz sollte ich dich gleich wieder in an die Arbeit schicken.“
„Und ich würde deinen Anweisungen genauso wenig gehorchen wie sonst.“
„Doch, würdest du.“ Aber er wusste, dass Lars recht hatte. Sein bester Freund aus Kindertagen war der einzige, der ihm nie gehorchte.
„Willst du nicht mal zu deiner Flamme gehen?“, fragte Lars.
„Sie ist nicht meine Flamme!“
„Nicht mehr!“
„Das reicht.“ Eddie stieß sich von der Steinwand ab. „Ich gehe“, sagte er und eilte zur Tür.
Bella entging das nicht. „Gehst du schon?“
„Ja, und du packst deine Sachen auch bald. Tauchst hier einfach auf und denkst, du könntest uns von der Arbeit abhalten.“
„Ich erzähle doch nur ein paar Geschichten von oben.“
„Ja, von da oben. Von deinen ach so tollen Menschen. Du denkst wohl, du bist was Besseres als wir Tunnelzwerge. Haust einfach ab und lässt deine Brüder und Schwestern im Stich. Du bist nichts Besseres! Du bist einfach nur zu faul, um eine Spitzhacke zu tragen.“
„Du kannst dir gar kein anderes Leben als das hier vorstellen mit deinem … Tunnelblick. Ich habe dich damals gefragt, ob du mitkommen willst, aber du warst zu pflichtversessen“, schrie sie ihn an und äffte dann in einer Stimme, die entfernt an Eddie erinnerte: „Ich habe hier eine Aufgabe. Eines Tages werde ich Fürst sein.“ Sie wechselte die Stimme wieder. „Und jetzt schau dich an. Ein alter, grauer, brummiger Fürst. Ich werde gehen. Morgen früh bin ich nicht mehr da. Und ich werde dich nicht nochmal belästigen.“ Sie hastete zur Tür und hinterließ eine totenstille Zwergenkneipe.
Nach einigen Sekunden brach Lars das Schweigen: „Eddie, meinst du nicht, du solltest vielleicht –“
„NEIN!“, herrschte er seinen Freund an. „Morgen früh ist der Spuk aus. Dann können wir wieder in Ruhe arbeiten.“ Er drehte sich zum Ausgang und verschwand in den dunklen Gängen.
Als ich am nächsten Morgen meine Spitzhacke holen wollte, sah ich Eddie aus seiner Wohnhöhle kommen. Er sah ziemlich niedergeschlagen aus, als Lars auf ihn zukam und anfing, auf ihn einzureden: „Na, das war ja was gestern! Der mürrische Fürst Eddie gibt sich seiner Hassliebe hin.“
„Hol deine Spitzhacke! Wir haben Arbeit zu tun“, sagte Eddie, aber seine Stimme war nicht so kraftvoll wie sonst, sondern voller Resignation. Mit trockener Kehle aber einem Funken Hoffnung fragte er: „Ist Bella noch da?“
„Sorry, Bruder. Die ist vor fünf Minuten in Richtung U6 losgezogen.“
Eddie hörte auf. „Was?“
„Ja, gerade eben war sie noch da.“
Er griff Lars bei den Schultern und schüttelte ihn. „Ganz sicher? Gerade eben Richtung U6.“
„Ja, habe ich doch gesagt.“
Eddie lief los.
„Ich mag Bella ja auch, aber nachdem, was du gestern gesagt hast … Ich weiß nicht, ob du sie zurückholen kannst. Damals konntest du das auch nicht.“
„Der U6-Tunnel war nur bis gestern gesperrt. Heute fahren da wieder U-Bahnen. Bella darf auf keinen Fall in den Schacht!“
Was nun passierte weiß ich nur aus zweiter Hand. Eddies Erzählungen waren ziemlich spartanisch, was nicht weiter verwunderte. Es war schließlich Eddie. Bella hingegen beschrieb immer wieder gerne, was eigentlich los war. Zusammen mit den Berichten einiger Zwerge, die bereits so früh schon in den Tunneln arbeiteten, ergibt sich doch ein recht klares Bild.
Eddie rannte, so schnell er konnte – und das will was heißen, denn wir Zwerge rannten gar nicht gerne. Aber in diesem Moment hätte ihn der schnellste Mensch nicht eingeholt. Er flitzte von einem Schacht in den anderen und rief dabei, so laut er nur konnte: „Bella! Beeellaaa!“.
Völlig außer Atem kam er am U6-Haupttunnel an. Er hatte in all den kleinen Gängen gesucht, sie aber nicht gefunden. Es blieb also nur der Hauptschacht.
Ihm wurde mulmig zumute, als er einen Fuß auf die Schienen setzte. „Bella? Bist du hier?“, rief er in die Dunkelheit. Er stand jetzt zwischen den Gleisen und blickte sich um, konnte aber niemanden sehen. „Verdammt“, murmelte er in seinen Bart und lief dann nach links.
Wir Zwerge können uns unter der Erde perfekt zurechtfinden. Wir sehen zwar nicht so gut, aber wir haben ein ausgezeichnetes Gehör. Leider war Eddie sehr aufgebracht und hörte die nahende U-Bahn erst ziemlich spät. Zu spät, um zum Nebentunnel zurückzulaufen. „Bella!“, rief er nochmal verzweifelt.
„Eddie, was machst du denn hier?“, kam eine Stimme aus der Dunkelheit. „Komm sofort runter von den Schienen!“
„Bella? Wir müssen sofort zurück, raus aus dem Tunnel!“, rief er ihr zu und rannte los. „Die U-Bahn kommt.“ In der Ferne konnten sie schon ein Licht ausmachen. Eddie wusste, dass sie es nicht bis zum Ausgang schaffen würden, als das Dröhnen immer lauter wurde. Da riss Bella ihn zur Seite.
Der Zug rauschte an ihnen vorbei.
Eddie schaute ihm hinterher. „Alles gut bei dir?“, fragte Bella.
„So klein sind die? Die nutzen ja gar nicht den ganzen Tunnel. Wofür machen wir uns denn die Arbeit, wenn die U-Bahnen dann so dünn sind?“ Sein Blick war absolut verständnislos.
„Schau! So wenig weißt du von der Welt! Deshalb wollte ich nicht unten bleiben.“
„Hm!“, sagte Eddie mit gesenktem Blick. „Wenn du mich jetzt nicht mehr brauchst, dann sollte ich wohl wieder zurück.“
„Warte! Willst du nicht doch mal einen Blick nach oben wagen?“
„Meine Zwerge brauchen mich. Ich kann nicht.“
Langsam drehte Bella sich um und ging. Er schaute ihr hinterher, und als sie fast verschwunden war, rief er ihr zu: „Vielleicht könntest du uns mal wieder besuchen? So ab und zu?“
Sie schaute zurück und hauchte so leise, dass Eddie sie ohne seine Zwergenohren nicht gehört hätte: „Sehr gerne.“
Wie ihr seht, ist es immer ein wenig dramatisch, wenn Zwerge die U-Bahntunnel betreten. Allerdings wurde Eddie durch sein Erlebnis ein bisschen weltoffener. Er will weiterhin nicht nach oben, aber wenn Bella gelegentlich zu Besuch kam, lauscht er ihren Geschichten bis tief in die Nacht hinein. Auch befahrene Tunnel scheinen ihn nicht mehr so zu ängstigen wie früher. Es kommt zwar nicht oft vor, dass er sie betritt, aber wenn ihr lange genug aus dem Fenster schaut, könnt ihr bestimmt mal einen Blick auf ihn erhaschen.
Resignation • Hassliebe • Fürst • Finsternis • U-Bahnnetz