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Unter einer weißen Schicht
Daran, wie Marah an ihrer Bluse zupfte, die Ledertasche durchwühlte und sich dabei Haarsträhnen aus der Stirn blies, erkannte Roland, dass es in ihr brodelte. Wieder mal.
»Ich bin spät dran«, sagte sie.
Er zog die Pyjamahose höher und schlurfte Richtung Küche. »Willst du Kaffee?«
Sie blickte auf die Uhr. »Machst du mir einen?«
»Klar.«
Marah öffnete den Kühlschrank. Er schlang die Arme um ihre Hüften, küsste ihren Nacken und legte das Kinn auf ihre Schulter. Sie roch nach Make-up. Er liebte das.
»Guten Morgen.«
»Morgen.« Ihre Hände ruhten einen Moment auf seinen, bevor sie sich aus der Umarmung befreite und die Tür schloss. »War's das?«
»Was denn?«, fragte er.
Marah schnaubte. »Wir haben uns gestern Nacht unterhalten. Vergessen?«
»Nein, hab ich nicht.« Roland drückte die Taste am Kaffeeautomaten. »Und was willst du hören? Ist ja nicht so, dass wir noch nie darüber gesprochen hätten.«
Sie blies sich erneut Haare aus dem Gesicht und wartete, bis die Tasse voll war. »Es wäre eben schön, wenn du mal konkret werden könntest. Wir sind bald fünf Jahre zusammen!«
»Ja, na und? Läuft das jetzt nach Zeitplan ab, wann man Kinder haben muss, oder wie?«
»Natürlich nicht. Aber fünf Jahre! Du schiebst die Entscheidung raus, bis es vielleicht zu spät ist. Ich hab' einfach Angst, morgens aufzuwachen und zu bereuen, dass ich keine mehr kriegen kann.«
»Oh, übertreib' nicht wieder. Du bist gerade mal vierunddreißig!«
»Meine Schwester hat schon ihr zweites mit vierunddreißig bekommen!«
»Deine Schwester ... Willst du nur Kinder, weil sie welche hat?«
»Nein, Roland.« Ihre Züge wurden weich. »Weil ich eine Familie mit dir gründen möchte.«
»Marah ...«
Sie hielt die Tasse fest umklammert.
»Gib mir noch etwas Zeit, okay?«
»Klar.« Blick zur Uhr, Strähnen aus der Stirn. »Wie du meinst.«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und schlug die Tür hinter sich zu.
Roland schloss die Schreibtischschublade auf und kramte Zigaretten heraus. Er trat auf den Balkon und atmete tief durch. Es roch nach frisch geschnittenem Gras. Die Nachbarn kümmerten sich um den ersten Rasenschnitt, als ob sie den Frühling herbeimähen könnten.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite strich ein Mann in Arbeitskleidung die Friedhofsmauer an. Wer bist du?, stand darauf. Irgendwann hatte jemand das Wer durchgestrichen und ein Wo darunter gesprüht. Es war Roland zum Ritual geworden, den Satz auf sich wirken zu lassen und heimlich zu rauchen. Marah würde nicht gutheißen, dass er wieder angefangen hatte.
Die Farbrolle sauste runter und das Fragezeichen verschwand unter einer weißen Schicht. Er ärgerte sich über den Anstreicher.
Roland war nicht zu seinen Eltern gefahren, wie er Marah erzählt hatte. Er saß stattdessen hier im Wagen und starrte auf das Reihenhaus mit den Glasbausteinen neben der Eingangstür. Wie ein Spanner kam er sich vor.
Regentropfen auf der Windschutzscheibe brachen das Licht. Roland wollte eben den Scheibenwischer in Gang setzen, als Andrea Nolting aus dem Haus trat. Kein Zweifel, dass es sich um sie handelte, trotz der eingeschränkten Sicht. Sie hielt die Kapuze des Friesennerzes vorne fest und lief – an einer Haltestelle vorbei – Richtung Bäckerei; eine Querstraße weiter. Er steckte sich eine an, betätigte den Fensterheber und blies Rauch nach draußen. Es goss in Strömen.
Andrea betrat den Laden. Kurze Zeit später tauchte sie mit einer blauen Papiertüte wieder auf.
Irgendwo hupte es, sie drehte den Kopf und bemerkte die Leute nicht, die zur Haltestelle jagten. Sie wich einer Frau mit vorgestrecktem Schirm aus, kam ins Straucheln und stolperte auf die Fahrbahn. Der Fahrer stieg in die Eisen und das tonnenschwere Fahrzeug rutschte unbarmherzig auf Andrea zu. Im allerletzten Moment sprang sie nach vorn, stürzte bäuchlings auf die Straße und hatte Glück, dass kein entgegenfahrendes Auto unterwegs war.
Roland riss die Tür auf und spurtete los.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. Sein Herz raste, er ging in die Hocke und legte die Hand auf ihren Rücken.
»Was ist ...?«
»Geht es Ihnen gut?«
»Ich denke schon.« Sie drehte sich zur Seite und begutachtete ihre Hände. Die Haut war stark gerötet, schien jedoch unversehrt. Dafür klaffte eine Wunde auf der Stirn. Die Jeans war in Höhe der Knie zerrissen, Andrea troff vor Nässe und Schmutz.
»Kommen Sie, versuchen Sie mal, aufzustehen.« Roland griff mit der Linken unter ihren Arm und reichte ihr die Rechte.
»Danke.« Sie ließ sich aufhelfen.
Der Bus fuhr an und quetschte die Brötchen zu Brei. Der Fahrer maulte und fuchtelte wie wild mit den Armen, während die Fahrgäste maskenhaft aus beschlagenen Fenstern glotzten.
»Scheiße«, sagte Andrea und schaute auf die Überreste der zermanschten Papiertüte.
»Wissen Sie was, ich kaufe Ihnen neue, in Ordnung?«
»Oh, mir ist der Hunger vergangen.«
»Ja, das glaube ich.« Er begleitete sie zur überdachten Haltestelle. »Ziemliche Schramme auf ihrer Stirn.« Er zeigte auf die Schürfung.
Andrea tastete danach, Roland hielt sie davon ab. »Nicht anfassen! Das muss desinfiziert werden.«
»Ja, gut. Ich wohne gleich da drüben.«
Roland musterte das Haus, als nehme er es zum ersten Mal wahr. Er schlug den Kragen hoch. »Na dann los.«
Wenig später schloss sie auf und drehte sich zu ihm um. »Hören Sie, vielen Dank für alles!«
Er sah das Mädchen in der fünfzigjährigen Frau. Nur für einen Augenblick. Neugierde funkelte in ihren großen Augen, die Mundwinkel kräuselten sich, als sie lächelte.
»Keine Ursache«, sagte er.
»Ich sollte mich umziehen.« Sie rieb sich über die durchnässte Hose und bemerkte erst jetzt, dass sie zerrissen war.
»Natürlich. Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Ja, danke.« Sie zögerte, streckte ihm die Hand entgegen. »Sie sind ganz nass geworden.«
»Das macht doch nichts«, sagte er.
»Ich heiße übrigens Nolting. Andrea.«
»Roland Lierhaus«, sagte er. »Freut mich.«
»Ja, mich auch und Danke noch mal«.
Sie verschwand im Haus, Roland kaufte Brötchen. Er stellte sie ihr vor die Tür, klingelte, rannte zu seinem Wagen, so, wie er damals als Junge davon gerannt war, wenn er einen Streich gespielt hatte. Er schaute durchs Fenster zurück. Sie öffnete, sah sich um und griff nach der Tüte. Rolands Beine begannen zu zittern.
Marah trug vorsichtig die Sperrholzplatte mit dem unfertigen Puzzle darauf zum Esszimmertisch. Der Rahmen des Jan-van-Goyen-Bildes war bereits fertig ausgelegt, verschob sich beim Tragen jedoch ein wenig.
»Scheiße«, zischte sie und rückte alles wieder gerade.
»Na, wie weit bist du?«, fragte Roland und nahm neben ihr Platz.
»Na ja, geht so.«
Er starrte auf die losen Puzzleteile, wühlte herum, schnappte sich eines und setzte es zielstrebig am vorgesehenen Ort ein. Die Wolke war ein Stückchen über die befahrene See gewachsen.
»Wow!« Marah sah ihn sichtlich überrascht an. »Nicht schlecht!«
»Siehste mal.« Er lächelte. »Und du sagst immer, mir fehlt die Geduld für so was.«
»Okay, dann hilf mir ein bisschen. Hast du Lust?«
Sie kamen gut voran, mit dem Spiel und dem Wein, den sie tranken.
»Marah, ich möchte mit dir alt werden.« Er hatte ihre Hand gepackt und sah sie an.
»Also ich bin froh, dass wir's noch nicht sind«, sagte sie. »Andererseits, wenn ich mir deine grauen Schläfen ansehe ...«
»Ich meine das so.«
»Wirst du jetzt gefühlsduselig, oder was?«
»Nein.«
Sie sah wohl etwas an ihm. »Ich wünsche mir das genauso.«
»Und ich will Kinder mit dir. Und Enkelkinder, mit denen du puzzeln kannst und mit denen ich ins Stadion gehe.«
»Das ist schön.« Marahs Augen wurden feucht.
»Ich weiß nur nicht, ob ich das bringe. Ob ich gut genug bin. Keine Ahnung, vielleicht versau ich's ja und du hasst mich dafür und die Kinder hassen mich und ich mich selbst am meisten.«
»Roland, ich glaube, die Frage könnte sich jeder stellen.«
»Ja, mag sein ... Ach, ich weiß nicht.«
»Wir werden das hinbekommen, da bin ich mir absolut sicher. Ich will dich auch nicht unter Druck setzen, wirklich nicht, es ist nur so ...«
»Ja, ist klar. Ich brauche nur noch etwas Zeit. Bitte.«
Marah legte den Kopf an seine Brust. Er vergrub Nase und Mund in ihrem Haar.
»Ich liebe dich, weißt du?«, sagte er.
»Ich liebe dich, und wie.«
Er war zeitig aufgestanden und hatte Frühstück gemacht. Orangensaft, perfekte Eier, Toast und Bacon - so, wie sie es mochte. Marah sah gelöster aus als sonst; und verschlafen.
»Na, müde?«, fragte er grinsend.
Sie schlug ihm zur Antwort auf den Hintern und ging ins Badezimmer, aber nicht, ohne ihm ein Lächeln zuzuwerfen.
Nachdem Marah zur Arbeit gegangen war, setzte er sich an den Schreibtisch, öffnete die unterste Schublade und tastete an dessen Unterseite nach der Klarsichthülle, die dort klebte. Den Brief darin fummelte er raus und legte ihn vor sich ab. Er strich mit den Fingern darüber, das Papier knisterte, würde die Falten jedoch nicht mehr loswerden. Zu oft hatte Roland das Schriftstück in Händen gehalten. Zu oft hatte er gelesen, was in Mädchenschrift von einem Kind geschrieben worden war, das selbst ein Kind zur Welt gebracht hatte: ihn, Roland Lierhaus.
Die Adoptiveltern hatten ihn bereits mit vierzehn eingeweiht – so alt war auch seine schwangere Mutter gewesen. Jahre später hatte er den Brief erhalten, der beim Jugendamt für ihn hinterlegt worden war.
Anfangs hatte er geglaubt, darin etwas finden zu können. Etwas von Bedeutung. Irgendwann hatte er entschieden, dass es keine Rolle spielte.
Roland warf einen Blick auf das Herz, das schon vor seiner Geburt für ihn gemalt worden war. Er schob es samt Schreiben in einen neuen Umschlag, adressierte ihn an Frau Andrea Nolting und klebte eine Marke darauf.
Ein Frühlingstag erwachte, die Vögel sangen Liebeslieder und die goldene Stunde tauchte die Friedhofsmauer in warmes Licht. Er nahm einen letzten Zug und wollte die Kippe über das Geländer schnippen, drückte sie aber stattdessen im Blumenkübel aus. Marah sollte ruhig bemerken, dass er geraucht hatte.
Roland stand mitten im Raum wie jemand, der nicht aus Fleisch und Blut bestand, sondern aus Wachs gegossen war. Er hielt den Brief in Händen. Dann holte er tief Luft, schnappte sich den Füller von der Ablage und fügte auch noch den Absender hinzu.