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Unter der Weide
Ich war nicht darauf vorbereitet, wie sehr es weh tun würde. Seit Monaten lebte ich nun mit diesem Schmerz irgendwo im Hintergrund meines Bewusstseins, der sich jedoch wie Unkraut immer wieder an die Oberfläche drängte. Doch die beiden jetzt zusammen zu sehen, schien all das wieder hervorzuholen, was sich die letzten Wochen quälend langsam und schleichend zurückgezogen hatte. Aus dem Unkraut schien innerhalb von Sekunden ein riesiger Baum zu wachsen, der den Himmel verdunkelte und in dessen Schatten ich mich jetzt befand. Jeder Fortschritt, jede verabschiedete Erinnerung, jeder Moment der Akzeptanz – nichts davon hatte jetzt noch eine Bedeutung.
Sie saßen in einem Restaurant nahe der Wasserbrücke. Die triste Farblosigkeit des Herbstes schien sich an diesem Tag noch ein letztes Mal zurückzunehmen und machte den Weg für ein paar zaghafte Sonnenstrahlen frei. Der Platz unter der Weide muss gerade heute ein ziemlich romantischer Ort gewesen sein. Das Mädchen, dessen Namen auf meiner Seele tätowiert zu sein schien, saß mit dem Rücken zu mir, doch das hinderte mich nicht daran, sie trotzdem zu erkennen. Selbst wenn man weiß, wie unwahrscheinlich es ist, ein Gesicht in der Menge wiederzusehen, heißt es doch nicht, dass man jemals gänzlich damit aufhört, danach zu suchen.
Natürlich hatte ich gewusst, dass ich sie irgendwann wiedersehen würde. In einer Kleinstadt wie dieser ist das kaum vermeidbar. Und ich war so gut gewappnet gewesen, wie es eben geht, und möglicherweise hätte ich den Anblick von ihr allein auch ertragen können. Wäre mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck vorbeigegangen und erst ein paar Ecken später still und heimlich zusammengebrochen, bis ich mich wieder unter Kontrolle gehabt hätte. Doch stattdessen hatte das Schicksal wohl entschieden, mich, die eigentlich bereits genug unter seiner Willkür gelitten hatte, noch einmal mit voller Härte zu bestrafen.
"Ich weiß, dass meine Beziehung kurz vor dem Scheitern ist. Aber ich möchte darum kämpfen, solange es noch geht."
Ihre Stimme in meinem Kopf machte mich wahnsinnig. Diese Worte hörte ich nun seit zehn Tagen wieder und wieder, nahm sie auseinander und klebte sie wieder zusammen. Immer in der vergeblichen Hoffnung, dass sie irgendwann Sinn ergeben würden. Jeder Moment in all den Wochen vorher spulte sich in jedem wachen Augenblick vor meinem inneren Auge ab und wenn ich Schlaf bekam, träumte ich davon.
Sie hatte beinahe mir gehört. Und das Beinahe brach mein verdammtes Herz immer und immer wieder.
Ich blieb mitten auf dem Gehweg stehen, vielleicht zwanzig Meter von dem glücklichen Pärchen entfernt. Der Mann hätte mich entdecken können, doch er achtete gar nicht auf mich. Warum auch? Er kannte mein Gesicht nicht und ich bezweifelte, dass er jemals von meiner Existenz gewusst hatte. Denn wenn doch, würde er möglicherweise nicht so glücklich mit seiner Freundin hier sitzen.
Denn das war sie – seine Freundin. Sie war es immer geblieben, obwohl sie ihre Beziehung andauernd infrage stellte und die Nerven besessen hatte, sich lange genug über eine Alternative Gedanken zu machen. Die Erinnerung schnürte mir die Kehle zu und ich rang nach Luft. Ich war diese Alternative gewesen, eine zweite Option, eine Wahlmöglichkeit, die jedoch wieder verworfen wurde. Tagelang war ich blind durch mein Leben gestolpert und litt unter Appetitlosigkeit, nächtelang wäre ich beinahe an meinen Tränen erstickt. Und dieser Mann wusste von all dem nichts und er würde es nie erfahren, denn ich war aus ihrem Leben ausgelöscht worden und musste mich wieder in meinem eigenen zurechtfinden.
Ich stand auffällig lange da und starrte zu ihnen herüber. Ich kannte den Mann nicht und doch hasste ich ihn, hasste ihn mit jeder Faser meines Körpers, die einer Empfindung mächtig ist. Er hatte mir etwas genommen, egal, ob er es die ganze Zeit über besessen hatte oder nicht. Ich war der festen Überzeugung, dass er dieses Mädchen ihm gegenüber nicht verdiente, dass ich selbst ihr etwas Besseres hätte bieten können.
Er bemerkte mich. Stockte mitten im Satz und sah immer wieder zu mir herüber, zu der angewurzelten Gestalt am Fuße der Wasserbrücke. Er hatte einen arroganten, selbstzufriedenen Blick, selbst in dieser Situation. Als wüsste er, wer ich war und was er mir angetan hatte, ohne wirklich irgendetwas zu tun.
Gleich würde sie auch herüberschauen, das wusste ich. Sie würde die Ablenkung ihres Freundes bemerken und sich umdrehen, um den Grund herauszufinden. Seit Wochen fragte ich mich, wie es wohl sein würde, wenn ich sie wiedersehen würde. Wie sie reagieren würde. Ob sie sich einer Schuld bewusst wäre oder ob sie mich so begrüßen würde, als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen. Oder ob Ignoranz alles wäre, was ich bekommen würde.
Diese Augen wiederzusehen, bereitete mir Gänsehaut am ganzen Körper. Dieses Gesicht verwandelte meine Beine in ungelenke Klumpen und zog all das Blut aus meinem Gehirn, sodass es seine Funktion aufgab. Ich fühlte mich wie früher, wenn wir uns getroffen hatten, konnte sogar diesen unverwechselbaren Duft noch einmal tief in meine Lungen aufnehmen. Das war die perfekte erste Sekunde.
Danach verwandelte sich ihr Blick in leise Überraschung und ihr Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln.
Doch es stank nach Falschheit. Ihre Emotionen waren nicht echt, nicht tief und nicht real. Sie war nicht überrascht, mich zu sehen und sie freute sich auch nicht darüber. Doch das Gegenteil war genauso wenig der Fall. Es löste auch keinen Kummer oder Ärger oder zumindest Genervtheit in ihr aus.
Es war ihr egal.
Vielleicht ist es ihr immer egal gewesen, meine Gefühle und wie man damit umgehen sollte und die ihres Freundes, den sie zumindest in Gedanken unentschlossene zehn Tage lang betrogen hatte. Ich würde es nie herausfinden.
Ihr Freund fragte etwas und ohne es zu hören oder seine Lippen lesen zu können, wusste ich, was er wissen wollte. Wer dieses Mädchen war, das dort scheinbar unbeweglich stand und mit den Tränen kämpfte.
Seine Freundin drehte sich herum. Und winkte ab.
Ich erwachte aus meiner Schockstarre und lief auf die Brücke. Ich war immer noch in Sichtweite, doch es war mir egal. So egal wie ich dieser scheinbar Fremden dort hinten geworden war, die mir noch vor wenigen Wochen versprochen hatte, sie würde sich ernsthafte Gedanken über eine Beziehung mit mir machen. Vielleicht hatte sie sich die gemacht. Doch ihre Gedanken schienen so wechselhaft und unbeständig zu sein wie das Laub der Bäume in diesem Herbst. Nur die Weide war unberührt grün, als wolle auch sie das einsame Mädchen auf der Brücke verspotten.
"Du bist mir wichtig und ich will dich nicht verlieren. Aber-"
Sie hatte nie ausgesprochen, was dem Aber folgen sollte, doch ich habe die Worte trotzdem gehört. Und jetzt saß das Aber mit ihr unter dieser Weide. Am liebsten würde ich ihn wie Unkraut aus dem Boden reißen, um etwas Neuem, Besserem Platz zu machen.
Doch sie hatte gelogen. Ich war ihr nicht wichtig und sie hatte es ohne Weiteres hingenommen, dass ihre Entscheidung uns voneinander trennen würde. Aber diese Erkenntnis kam zu spät und sie änderte nichts.
Jeder Stein der Brücke lag nicht mehr solide unter meinen Füßen, sondern schwer und niederdrückend auf meinem Herzen. Das Gewicht drückte mich zu Boden, doch nicht nur auf die Brücke, sondern tiefer herunter, ins Wasser, auf die Steine, unter die Erdoberfläche. Die leichte Brise war wie starke Böen auf meiner angeschlagenen, verwundeten Haut. Meine Kleidung scheuerte sie auf, meine Tränen waren Nadelstiche, die mir der eigene Körper zur Folter geschickt hatte. Das Blut, das nun wieder durch meine Adern rann, war reine Feuerglut. Alles in mir schrie auf.
Vergessen war der Fortschritt, vergessen die Versprechen auf Besserung, die ich meinen Freunden und Familie gegeben hatte. Es gab keine Zukunft mehr, keine Hoffnung und keine Genesung. Und meine Wunde vernarbte nicht einmal, nein, sie wurde aufgerissen und mit neuem Futter versorgt, bis sie alles verschlingen würde.
Mein Körper stand in Flammen und nichts außer Wasser vermochte Feuer endgültig zu löschen. Ich blickte hinunter. Die dunklen Wellen sahen einladend aus, friedlich und kühl. Kälte, ja, danach verzehrte sich mein Körper.
Ich schaute mich noch einmal um. Der Tag ging weiter, niemand beachtete mich. Die Weide war grün und es war ein romantischer Anblick.
Mein Kopf traf das Wasser zuerst.