Unter der Stadt
Anmerkung: Was einem nicht so alles einfällt, wenn das Auto in der Werkstatt ist und man auf öffentliche Verkehrsmittel ausweichen muss ... Bitte keine Rechtschreib- und Zeichensetzungskritik, die erledigt mein persönlicher "Lektor" wenn er aus dem Urlaub zurück ist - die Mühe wäre also umsonst. Jede andere Kritik: Immer her damit!
Hätten Sie mich vor ein paar Stunden gefragt, was ich mir vor dem Tod wünschen würde, dann hätte ich gesagt: Eine Flasche Lagavulin und ein ordentlicher Fick. Nein, warten Sie. Ich hätte wahrscheinlich guter Sex gesagt; damals glaubte ich nämlich noch, dass ich nie in eine Situation geraten könnte, in der die Umstände eine politisch korrekte Wortwahl unnötig machen würden. Natürlich waren diese beiden Wünsche nur verklärte Luftschlösser – so wie kleine Jungen Lokomotivführer oder Astronauten werden wollen, bevor sie begreifen, dass das eine grässlich langweilig und das andere unvorstellbar kompliziert ist. Wenn auf Ihrer Wünsche vor dem Tod-Liste eine Flasche Lagavulin (oder irgendein anderer sündhaft teurer Whisky) oder – nennen wir das Kind beim Namen – ein ordentlicher Fick auftaucht, dann lassen Sie sich sagen, dass Sie diese Liste früher oder später noch mal überdenken werden. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Den Fick habe ich vor einer halben Stunde abgelehnt, und statt einer Flasche Schnaps würde ich sofort eine Kiste Bier nehmen – die hält länger.
Mein Name ist Gilbert McFarley. Meine Freunde nennen mich Gil. Ich hasse es, aber ich habe es ihnen nie gesagt. Keine Ahnung, warum nicht. Aber sehen Sie: Über so einen Scheiß zerbreche ich mir jetzt tatsächlich den Kopf. Ich könnte auch mit Donna ficken. Egal.
Ich schreibe diese Zeilen in das Filofax von Ed Wilson. Es ist erstaunlich, wie viele private und intime Dinge man von einem Menschen erfährt, wenn man sein Filofax durchblättert. Ed ist mit Marla verheiratet, bumst seine Sekretärin Ginger, seine Tochter Judy hat morgen um halb vier einen Zahnarzttermin und sein Sohn Marc wartet seit – lassen Sie mich nachsehen – einer halben Stunde vor der Schule auf ihn. Armer kleiner Kerl. Er wird noch eine ganze Weile auf seinen Daddy warten müssen. Wenn ich es mir genau überlege, wird er Ed nicht mal bei der Beerdigung sehen – sie werden wohl oder übel einen leeren Sarg unter die Erde schaufeln müssen. Denn Ed Wilson, Sohn von Edda und Samuel, Jude, Sachbearbeiter einer großen Versicherungsagentur und stolzer Inhaber einer Goldkarte der Best Western-Motels (raten Sie mal, wo er Ginger vögelt) ist irgendwo da draußen. Und wenn Sie hier unten sind, dann ist da draußen bestimmt kein Ort an dem Sie gerne sein möchten. Oder ein Ort, von dem Sie zurückkommen würden, was das betrifft.
Sind es letztendlich vielleicht Sekunden, die über unser Leben entscheiden? Haben Sie sich das mal gefragt? Überlegen Sie: Wie viele einschneidende Erlebnisse Ihres Lebens wären geschehen, wenn Sie die dazu führenden Schritte ein paar Sekunden früher oder später unternommen hätten? Hätten Sie dann Kinder? Einen Job? Einen Schulabschluss? Eine Frau?
Ich zumindest wäre noch am Leben, wenn ich das Haus heute morgen drei Sekunden früher verlassen hätte. Drei verdammte Sekunden. Wissen Sie, was man mit drei Sekunden anfangen kann? Nichts. Scheiße, das reicht nicht einmal, um sich eine Kippe anzuzünden. Ich hab’s getestet. Aber es reicht, um eine beschissene U-Bahn zu verpassen. Murphys Gesetz. Man befindet sich auf der Rolltreppe, sieht den Zug und überlegt, ob man Rennen soll oder nicht. Eigentlich ist es Scheißegal. Rennt man, dann wird sie einem vor der Nase wegfahren. Rennt man nicht, fährt sie auch weg, aber man weiß genau, man hätte sie bekommen, wenn man gerannt wäre. Ich bin heute morgen nicht gerannt. Und ich hätte sie bekommen, wenn ich gerannt wäre. Ich lief langsam die Treppe hinunter, wartete darauf, dass sich die U-Bahn in Bewegung setzte, begann zu hoffen, begann zu lächeln (ein schönes Gefühl, wenn man glaubt, dem alten Murphy ein Schnippchen geschlagen zu haben, nicht wahr?) und Peng! – weg ist sie. Keine große Sache, dachte ich da noch. Immerhin war ich nicht gerannt – wenn man rennt und sie fährt einem vor der Nase weg, steht man da wie der letzte Trottel.
Ich las in der Times und wartete auf den nächsten Zug. Ich machte mir Gedanken um lauter unwichtige Dinge. Ob mein guter Anzug rechtzeitig aus der Reinigung zurück sein würde, ob Jill (meine Frau) die Sache mit dem Baby wirklich ernst gemeint hatte, ob Christine (Ed Wilson war nicht der einzige, der fremdbumste) endlich kapiert hatte, dass sie mich nicht im Büro anrufen sollte. Scheiße, das klingt jetzt so, als wäre ich das letzte Arschloch gewesen. Vielleicht war ich es auch. Aber hey, stellen sie mal eine Liste der fünf schlimmsten Dinge, die Sie in Ihrem Leben je getan haben auf und dann unterhalten wir uns noch mal.
Die nächste U-Bahn fuhr ein, als ich gerade einen langweiligen Artikel über Exportzölle las und ich stieg in den ersten Waggon. Wie immer erstaunte es mich, dass es meine Pendler-Kollegen jeden Morgen schafften, sich Hose und Krawatte anzuziehen – angesichts der Tatsache, dass die meisten von Ihnen zu dumm zum U-Bahnfahren waren, schienen mir diese einfachen Ankleidemechanismen eine bewundernswerte Leistung zu sein. Sie werden sicher wissen, was ich meine. Während der erste und der letzte Waggon einer U-Bahn normalerweise gähnend leer ist, stehen sich die Leute in den mittleren Abteilen auf den Füßen rum. Warum nur eine lächerlich geringe Minderheit auf die Idee kommt, ein paar Meter nach vorne oder nach hinten zu laufen, um einen Sitzplatz fern ab der Duftmarken von fettleibigen Wall Street-Brokern zu ergattern, wird mir für immer ein Rätsel bleiben.
Ich saß also im ersten Waggon, hatte einen Viererplatz für mich alleine und schaute mich kurz um, bevor ich mich wieder in die Zeitung vertiefte. Außer mir waren nur fünf Menschen im Abteil. Eine junge Frau mit feuerroten Haaren, die mich unwillkürlich an eine Freundin aus der Highschool erinnerte, ein schlaksiger Teenager, ein fast schon obszön intensiv knutschendes Pärchen (offensichtlich auf dem Heinweg, offensichtlich voll wie tausend Russen) und ein älterer Farbiger, der einen Walkman auf den Ohren hatte und mit den Fingern auf seiner Armlehne trommelte. Wir fuhren los.
Ich las noch mehr langweiliges Zeug über Exportzölle, sprang dann zu einem Bericht über ein albernes spanisches Volksfest (die Leute dort bewerfen sich einen ganzen Tag lang mit matschigen Tomaten und kommen sich scheinbar überhaupt nicht dämlich dabei vor) und wartete darauf, dass Civic Street kam. Das Problem war nur: Civic Street kam nicht. Die weibliche Roboterstimme aus den Lautsprechern sagte die Haltestelle zwar an, aber der Zug verlangsamte seine Fahrt nicht. Wir machten eine recht scharfe Kurve nach links, an die ich mich überhaupt nicht erinnern konnte und donnerten in stetigem Tempo weiter. Verdutzt schaute ich auf. Das Pärchen war immer noch damit beschäftigt, Körperflüssigkeiten auszutauschen (und ich glaubte zu erkennen, dass der Typ seine Hand unter ihrem Rock hatte), der Teenager starrte dumm vor sich hin, die Frau mit den roten Haaren fummelte in ihrer Handtasche rum - und der Farbige schaute mir genau in die Augen. Er hatte aufgehört mit den Fingern zu trommeln. Er hob die Brauen, als wolle er sagen seltsam, nicht wahr?, richtete den Blick kurz aus dem Fenster hinaus und gleich darauf wieder auf mich. Ich zuckte mit den Achseln.
„Nächste Haltestelle: Union Center.“, sagte die Roboterstimme. Der Teenager stand auf und ging zur Tür. Ich schaute aus dem Fenster und sah nur die immer gleiche dunkle Mauer. Eine Minute verging. Der Teenager trippelte nervös von einem Fuß auf den anderen. Plötzlich beschleunigte der Zug – und zwar so heftig, dass es mich unwillkürlich an den Start eines Flugzeugs erinnerte. Ich wurde in den Sitz gedrückt, hörte hinter mir jemanden überrascht aufschreien und sah, dass der Teenager durch den Ruck heftig gegen die Tür geschleudert wurde.
„Hey!“, rief er verblüfft und klammerte sich an einen der Haltegriffe. Ich stand auf.
„Alles in Ordnung?“
„Will der Idiot uns umbringen?“, fragte er mich und deutete auf die Trennwand zwischen Zugführer und Abteil.
„Irgendwas stimmt hier nicht.“, sagte eine Stimme hinter mir und ich drehte mich um. Es war der ältere Farbige. Er trug immer noch seine Kopfhörer. „Wir hätten schon an zwei Haltestellen ankommen müssen. Haben sie eine gesehen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Wir sind auch durch keine durchgefahren.“
„Vielleicht gibt es ein Problem mit den Weichen.“, sagte eine weibliche Stimme. Es war Miss Feuerkopf. Sie war ebenfalls aufgestanden. Hinter ihr warf uns das Pärchen einen kurzen Blick zu und entschied dann, dass es sich wegen zwei dummen Haltestellen nicht vom Zungenkuss Marke Basic Instinct abhalten lassen würde.
„Wir fahren viel zu schnell.“, sagte der Farbige und warf erneut einen Blick aus dem Fenster. „U-Bahnen dürfen eigentlich nur dreißig Meilen pro Stunde fahren. Jedenfalls in dieser Stadt.“
„Woher wissen sie das?“, fragte ich.
„Ich habe für die Stadtwerke gearbeitet. Schienen ausgebessert, Weichen erneuert, den ganzen Kram eben.“
„Diese Kurve vorhin.“, sagte ich langsam. „Die ist sonst nicht da, oder?“
Er lächelte. „Oh, die ist sonst auch da. Nur fahren wir da normalerweise nicht lang.“
„Was soll das heißen?“, fragte der Rotschopf und ich stellte fest, dass sie erstaunlich gut aussah. Ihr Kinn war markant, sie hatte eine süße Stupsnase und ihr Haar sah unnatürlich natürlich aus – ein optisches Paradoxon, dass ich unheimlich erotisch fand.
„Das soll heißen“, sagte der Teenager, „dass wir auf einer stillgelegten Strecke unterwegs sind.“ Er schaute den Farbigen an. „Stimmt’s?“
„Fast.“ Ein dunkler Schatten zog über sein Gesicht. „Es heißt, dass wir auf einer Strecke unterwegs sind, die nie in Betrieb genommen wurde.“
Wir fuhren weiter. Der Teenager hämmerte mit den Fäusten an die Wand, hinter der der Zugführer saß, aber er bekam keine Antwort. Ich schaltete mein Handy ein, hatte aber keinen Empfang. Das Pärchen gesellte sich zu uns. Sie wirkten eher verwirrt als verängstigt und ich fand, dass das ein gutes Zeichen war. Kein Grund in Panik zu geraten. Es konnte tausend Gründe geben, warum wir auf einem uralten Gleis in einem Affenzahn unter der Stadt hindurch jagten. Ein Unfall. Ein Kurzschluss in den elektrischen Leitungen. Ein Wasserrohrbruch.
Und warum hat der Fahrer dann keine Durchsage gemacht, Sherlock?
„Meine Name ist übrigens Jake Edwards.“, sagte der Farbige nach einer Weile. Er hatte den Walkman der Innentasche seines Mantels verstaut. Ich fand, dass er ohne Kopfhörer irgendwie nackt aussah.
„Donna Blake.“, sagte der Rotschopf.
„Casey.“, sagte der Teenager.
Bei dem Pärchen handelte es sich um Paul und Mandy Springer.
„Wie weit führen diese alten Gleise eigentlich, Jake?“, fragte ich, weil mir das Schweigen unbehaglich wurde.
„Keine Ahnung.“, sagte Edwards. „Es gibt Tunnel, in die sind sogar wir nicht rein, weil keiner wusste, wo sie enden. Oder von wem sie angelegt wurden. Es gibt sogar ein paar verlassene Bahnhöfe. Geisterbahnhöfe wenn Sie so wollen.“
„Wir könnten die Notbremse ziehen.“ sagte Casey. Ich hatte auch schon daran gedacht. Wir schauten uns an. Edwards zuckte mit den Achseln und zog an einem der roten Hebel. Eine Sekunde lang geschah gar nichts, dann hörte man das schrille Quietschen der Bremsklötze und dann wieder gar nichts. Der Zug verlangsamte sein Tempo nicht. Edwards warf uns einen verwirrten Blick zu und zog noch einmal. Wieder geschah dasselbe.
„Verfluchte Scheiße.“, murmelte Casey und ich war geneigt, mich seiner Situationsbeschreibung anzuschließen.
„Vielleicht hat der Fahrer sie abgeschaltet.“, sagte Mandy Springer.
„Warum sollte er das tun?“, fragte ihr Freund.
„Vielleicht ist die Sprechanlage ausgefallen und er kann keine Durchsage machen und will nicht, dass wir in Panik geraten und einfach den Zug anhalten.“
Guter Punkt, dachte ich.
„Das Problem ist nur, dass der Fahrer sie nicht abschalten kann.“, sagte Edwards.
Das brachte uns zum Schweigen.
„Das hört sich jetzt vielleicht dumm an oder so“, sagte Donna nach einer Weile, „aber habt ihr nicht auch das Gefühl, dass wir tiefer fahren?“
Ich machte den alten Flugzeug-Trick. Nase zuhalten und versuchen, auszuatmen. Ich spürte, wie meine Ohren frei wurden.
Scheiße, dachte ich. Wir fuhren tiefer.
Kurze Zeit später gab es einen lauten Knall. Er kam aus dem Zugführerabteil. Man hörte das Geräusch von zerspringendem Glas. Die ganze Bahn wurde erschüttert. Dann verlangsamten wir das Tempo.
„Was war das?“, fragte Donna und ich spielte mit dem Gedanken, ihr zu sagen, dass ich während der Hellseher-Stunden in der Schule gefehlt hatte.
„Ich glaube, wir halten an.“, sagte Edwards. Sein zerfurchtes Gesicht spiegelte Besorgnis wieder. Ich schaute aus dem Fenster und sah immer noch die dunkle Wand.
„Wir könnten versuchen, eine der Türen aufzubekommen.“, schlug Casey vor.
„Gute Idee.“, sagte Paul Springer und Mandy nickte. Ich streckte meine Hand nach dem nächsten Türgriff aus. Edwards packte mich am Arm. Seine Finger waren eiskalt.
„Warten sie, Gilbert.“, sagte er.
„Worauf?“, fragte ich gereizt. Ich wollte nur die verdammte Tür aufmachen und so schnell wie möglich aus dieser seltsamen U-Bahn verschwinden. Scheiße, ich wäre den ganzen verfluchten Weg sogar zurück gelaufen. „Worauf, verdammt noch mal, soll ich warten, Jake? Auf besseres Wetter? Oder darauf, dass wir noch ein Stückchen weiter fahren? Vielleicht bis nach Kanada? Worauf, Jake?“
Er hielt mich immer noch am Arm, seine Finger bohrten sich schmerzhaft in die Haut. Der Ausdruck in seinen Augen war grimmig, aber die zuckenden Mundwinkel verrieten seine Angst. Er deutete über meine Schulter. Ich drehte mich um.
Wir fuhren mittlerweile im Schritttempo. Die Wand war immer noch vor dem Fenster, aber nun von einem eigentümlichen, schmutzigen Glanz erhellt. Ich sah, dass sie beschrieben war. Über und über mit krakeligen Inschriften versehen. Manche von ihnen waren verblasst und unleserlich, andere so frisch, als seien sie gestern geschrieben worden. Und alle waren rot.
Eine, die größte von ihnen, lautete:
Yog-Soggoth lebt
Auf einer anderen stand:
Cubht´ub Cthulhu
„Jesus Christus.“, murmelte Donna. „Wo sind wir ?“
Der Zug fuhr in einen Bahnhof ein und kam leise quietschend zum Stehen. Dann begannen die Schreie.
Casey weinte. Ein hohes, kindliches Schluchzen, das mir unter anderen Umständen peinlich gewesen wäre. Paul und Mandy hatten sich auf den Boden gesetzt und hielten einander umklammert. Jake starrte aus dem Fenster.
Der Bahnhof lag in einem bleiernen Dunst vor uns, schemenhaft konnte ich eine verfallene Treppe ausmachen, sah undeutlich eine uralte Ampel, die noch manuell bedient werden musste. Das Gleis auf der gegenüberliegenden Seite – sofern überhaupt eins existierte – war nicht zu erkennen. Wir hatten hohe, zirpende Laute gehört, zerklirrende Schreiben - und natürlich die Schreie. Laut, unglaublich laut und irgendwie ... es ist schwer zu beschreiben ... irgendwie wahnsinnig. Ich dachte an die Menschen in den hinteren Abteilen.
„Sehen sie etwas, Jake?“, fragte ich und er schaute mich an.
„Nein.“, sagte er, aber ich glaubte in seinen Augen zu erkennen, dass er doch etwas gesehen hatte. „Ich denke, wir sollten von den Fenstern fern bleiben.“
Donna kam zu uns und nahm meine Hand. „Ich habe Angst.“, sagte sie leise. „Irgendwas ist da draußen, oder Gilbert? Irgendwas, das die Leute aus den anderen Waggons umbringt.“
„Ich weiß es nicht.“, sagte ich, aber ihre Vermutung klang in meinen Ohren ganz vernünftig.
„Ach ja?“, sagte Paul Springer. Er war aufgestanden, sein Atem stank nach Alkohol. „Und was soll das bitte sein?“ Er verdrehte seine Glupschaugen. „Monster?“
„Vielleicht.“, sagte ich, nicht weil ich wirklich daran glaubte, sondern weil mir sein spöttischer Ton nicht gefiel.
„Ihr seid ja total bescheuert.“, sagte Paul. „Völlig durchgeknallt. Wir müssen nur die verdammte Tür aufmachen und schon spazieren wir hier raus.“
„Haben Sie mal nach draußen gesehen, Paul?“, fragte ich. „Wo wollen sie denn hinspazieren?“
„Was ist mit der Treppe da hinten?“
„Sieht nicht so aus, als könnte man die noch benutzen.“
Er schaute mich wütend an. „Herrgott, dann werfen wir eben mal einen Blick drauf. Wo zur Hölle liegt euer verdammtes Problem?“
„Sie haben die Schreie doch auch gehört, oder nicht?“, fragte Donna sanft.
Paul schüttelte den Kopf. „Ihr seit wirklich total bescheuert. Mary und ich gehen da jetzt raus. Wir schicken jemanden runter, so bald wir oben sind.“
„Paul, ich weiß nicht ...“, begann Mary und verstummte.
Er blickte sie ungläubig an. „Willst du etwa bei diesen Spinnern bleiben?“
„Ich ...“
Er nahm ihre Hand und zog sie in Richtung Tür. Seine Hand ruhte auf dem Griff, dann drehte er sich noch einmal um und grinste uns an: „Macht keinen Unsinn, während wir weg sind.“
„Paul, hören sie ...“, versuchte es Jake noch einmal, aber Paul winkte ab. Sie gingen nach draußen. Hastig machte Jake die Tür wieder zu.
Sie kamen etwa fünf Meter weit. Dann blieb Paul stehen und ich konnte sehen, dass sich sein Körper versteifte.
„Was zur Hölle?“, rief er und etwas
eine geflügelte Schlange?
etwas, das ich nicht genau erkennen konnte, schoss aus dem Dunst auf ihn zu. Er wurde von den Füßen gehoben, strampelte wie wild mit den Beinen und plötzlich durchtrennte etwas seinen rechten Arm sauber unterhalb der Schulter. Blut schoss aus der Öffnung und Paul begann zu schreien. Mary bewegte sich langsam rückwärts, während Paul in den Nebel gezogen wurde.
„Mein Gott, das tut weheeee!“, kreischte er.
Jake öffnete die Tür.
„Kommen sie rein, verdammt noch mal!“, rief er, aber Mary schien ihn nicht zu hören.
Dann kamen die Spinnen. Hunderte, tausende von ihnen, kleine pelzige Dinger, blitzschnell. Sie krabbelten an ihren nackten Beinen hinauf, unter ihren Rock, waren innerhalb von Sekunden in ihrem Haar. Sie gab keinen Laut von sich.
„Mary!“, brüllte Jake, schlug mit der Faust gegen Tür.
„Machen sie die Tür zu!“, schrie Casey. Seine Augen waren rot und Tränen liefen ihm über das Gesicht. „Zumachen! Die kommen rein, die kommen rein!“
Mary drehte sich um. Ihr Gesicht war nicht schmerzverzerrt oder ängstlich, sondern vollkommen verblüfft. Eine Spinne krabbelte in ihre Nase, eine andere in ihr rechtes Ohr. Dann kippte sie vornüber.
„Scheiße, verfluchte Scheiße.“, sagte Jake und zog am Türgriff. Kurz bevor sich die Tür schloss, glaubte ich Pauls Stimme zu hören, leise, weit entfernt, nicht mehr bei Verstand.
Nicht die Augen, oh Gott, bitte nicht in die Augen!
„Was machen wir jetzt?“, fragte Donna mit zitternder Stimme. Zehn Minuten lang hatte keiner von uns etwas gesagt. Casey weinte nicht mehr, sondern schluchzte nur noch heiser.
„Wir sehen nach, ob wir den Zug wieder in Gang setzen können.“, sagte Jake ruhig. „Oder hat jemand eine bessere Idee?“
„Ich will nicht sterben.“, flüsterte Casey.
„Sie wollen da raus?“, fragte Donna. „Wo ... wo diese Dinger sind?“
„Wenn nicht zufällig jemand eine Axt dabei hat, mit der wir die Wand aufbrechen können, wird uns gar nichts anderes übrig bleiben. Sind sie dabei, Gilbert?“
Ich schaute aus dem Fenster. War da eine Gestalt? Ein sich bewegender Schatten? Vielleicht.
„Bin dabei.“, sagte ich.
„Wenn wir schon auf dem Weg sind, könnten wir auch gleich einen Blick in den Waggon hinter uns werfen.“, schlug Jake vor. „Vielleicht lebt dort noch jemand.“
Ich dachte an die Spinnen. „Warum nicht?“ Mein Mund war trocken.
„Haben Sie eine Waffe, Donna? Pfefferspray oder so etwas?“, fragte Jake und sie schüttelte den Kopf. „Wie sieht’s mit dir aus, Casey?“
Der Junge schaute uns mit bebenden Lippen an. „Ich habe ein Messer.“, sagte er leise. Es war ein kleines Klappmesser, die Klinge kaum zehn Zentimeter lang.
„Besser als gar nichts.“, sagte ich und nahm es.
„Sie kommen doch zurück, oder?“, fragte Casey. Die Tränen flossen wieder. Ich legte ihm einen Arm und die Schulter.
„Wir schauen nur eben nach, dass wir den Zug wieder zum Fahren kriegen und dann sind wir hier raus, okay? Donna bleibt bei dir. Du bist nicht alleine.“
„Ich ...“, begann er und schluckte, „ ... ich bin noch Jungfrau. Ich will nicht als Jungfrau sterben.“
Ich warf Donna einen Blick zu. „Du wirst überhaupt nicht sterben. Wir sind in fünf Minuten wieder da und wenn wir oben sind, fahren du und ich in den besten Puff der Stadt und lösen dein kleines Problem.“ Er grinste müde. Immerhin etwas. „Oder bist du eine Schwester? Ich kenne da einen süßen kleinen Franzosen ...“
„Arschloch.“, sagte Casey lächelnd. Ich zwinkerte ihm zu.
„Passen sie auf sich auf, Gilbert.“, sagte Donna und ich nahm sie in den Arm.
„Sind sie so weit?“, fragte Jake.
„Nein.“, antwortete ich. „Aber wir gehen trotzdem.“
Und dann gingen wir hinaus.
Bei Gott, wir gingen wirklich hinaus.
Jake ging voran. Er bewegte sich langsam und achtete darauf, kein Geräusch zu machen. Der Nebel war feucht und die Luft roch abgestanden, modrig, tot. Ich schaute zu der Treppe und spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, einfach rüber zu rennen. Dumme Idee. Paul hätte ein Liedchen davon singen können.
Nicht die Augen, oh Gott, bitte nicht in die Augen!
Wir kamen zu Marys Leiche. Oder dem, was davon übrig war. Jake beugte sich herunter und verzog das Gesicht. Die Spinnen waren verschwunden und hatten ihr Fleisch mitgenommen. Bis auf ein paar lose Muskelstränge war nur noch das bleiche Skelett übrig. Ich kämpfte gegen den Drang, mich zu übergeben. Wir schlichen weiter.
Der nächste Waggon war ein Wrack. Die Außenwand war zerbeult, so als wäre sie von einem Bus gerammt worden und die Scheiben waren zerbrochen. Von der Tür fehlte jede Spur. Wer – was - konnte so eine Kraft aufbringen? Wollte ich es wirklich wissen?
Jake blickte mich fragend an. Ich nickte. Wir gingen hinein.
Der Waggon war leer, die Polster von den Sitzen abgerissen. Jemand hatte versucht, die Fenster zu verbarrikadieren. An der hinteren Wand lag ein Filofax. Ich steckte es ein. Jake hatte einen Rucksack gefunden und wühlte ihn durch. Plötzlich hielt er inne und stieß einen leisen Schrei aus. Ich ging zu ihm und er zog eine Windel und ein Babyfläschchen heraus. Mir wurde schlecht.
„Wollen wir den Nächsten versuchen?“, flüsterte er nach einer Weile.
Ich schüttelte den Kopf. „Lassen sie uns zusehen, dass wir hier verschwinden.“
Er nickte und wir gingen zurück. Als wir bei unserem Waggon angelangt waren, warf ich einen Blick durch die Fenster. Keine Spur von Casey und Donna. Meine Eingeweide zogen sich schmerzhaft zusammen. Ich ging näher heran und dann sah ich sie.
„Was ist mit ihnen?“, fragte Jake hinter mir besorgt.
Ich drehte mich um. „Er wird auf jeden Fall nicht als Jungfrau sterben.“ Wir grinsten uns an und für einen winzigen Augenblick vergaß ich, wo wir uns befanden. Sein Grinsen war ehrlich, irgendwie vertraut. So, als wären wir nicht in einem dunklen, verlassenen Bahnhof voller ... Dinger, sondern in einer Kneipe, bei einem gemütlichen Bier. Meine Mutter fiel mir ein, meine Mutter, die immer prophezeit hatte, dass ich mich eines Tages totsaufen würde.
Schön wär’s, Mum, dachte ich. Schön wär’s.
Das Führerhaus war leer. Eine enorme Menge Blut war in einem obszönen Muster über die Rückwand verteilt. Unter dem Fahrersitz lag eine Hand. Die Swatch befand sich noch am Gelenk. Die Windschutzscheibe fehlte. Ich dachte an den ersten Knall. Jake beugte sich hinein.
„Kriegen sie das Ding wieder in Gang?“, fragte ich.
„Kein Strom.“, sagte er. „Verfluchte Scheiße, wir haben keinen Strom.“
„Das kann nicht sein.“, widersprach ich. „Irgendwie sind wir doch auch hergekommen.“
„Ohne Strom wird sie nicht fahren. Diese ganzen kleinen Lampen hier müssten leuchten.“
„Gibt’s denn keinen Hebel dafür oder so was?“ Ich wurde panisch.
Jake wollte gerade etwas erwidern, als das Pfeifen begann. Es war hoch und schrill, so als habe man tausend Mäusen gleichzeitig einen elektrischen Schlag gegeben. Ich drehte mich um.
Sie stand auf dem Gleis vor dem Führerhaus und füllte beinahe den ganzen Tunnel. Sie war nackt. Heilige Mutter Gottes, sie war nackt. Ihr Schwanz zuckte. Aus ihrem Rücken wucherte etwas, das aussah, wie ein riesiges Auge. Ihre Zähne waren lang, so unendlich lang und ekelhaft gelb. Ein grünes Ding, vielleicht eine Art Tentakel, kroch langsam aus einer eitrigen Wunde in ihrem Bauch. Sie stieß wieder dieses Pfeifen aus und während sich meine Blase entleerte fragte ich mich, ob es ein Schmerzensschrei war. Oder – der Gedanke war viel schlimmer – ob es ihr vielleicht gefiel.
Jake kreischte. Ich wollte rennen und ihn mit mir zerren, aber er bewegte sich nicht. Seine Augen traten aus den Höhlen hervor, sein Mund war geöffnet und Speichel floss heraus. Er hatte den Verstand verloren. Das grüne Ding zuckte nach vorne, rasend schnell, und landete mit einem widerwärtigen Platsch auf Jakes Bauch. Langsam senkte er den Kopf und starrte fassungslos auf die Tentakel. Dann begann sie zu fressen. Ich konnte es hören, konnte sie beißen und kauen hören, aber Jake gab keinen Laut mehr von sich. Er begann zu zittern. Sein Mantel wölbte sich am Rücken und ich begriff, dass das Ding im Begriff war, sich durch ihn durch zu fressen. Endlich schrie er. Es klang anders, als alles, was ich je zuvor gehört hatte. Konnte ein Mensch so laut schreien, dass seine Stimmbänder rissen? Langsam zog ihn das grüne Ding zurück. Zu ihr. Sie bleckte die Zähne.
Ich rannte. Ich ließ Jake dort zurück und rannte. Donna öffnete mir die Tür. Ich fiel auf den Boden. Dann begann ich zu weinen.
Später, vielleicht nach fünf Minuten, vielleicht nach einer Stunde, hörten die Schreie auf. Casey glotze apathisch aus dem Fenster.
„Cthulhu.“, murmelte er. „Cthulhu.“ Immer wieder. Wie ein Mantra.
Donna kam zu mir und nahm mich in den Arm. Ihre Hand streichelte meine Brust, wanderte tiefer. Ich stieß sie weg.
Ich werde das Filofax unter einem Sitzpolster verstecken, bevor ich es tue. Vielleicht wird es irgendwann jemand finden. Ich habe immer noch das Messer. Donna wird sich nicht wehren, glaube ich. Bei Casey bin ich mir nicht so sicher. Er verändert sich.
Cthulhu. Mir ist, als sollte ich dieses Wort kennen. Als hätte ich es irgendwann gekannt und wieder vergessen. Der Anfang und das Ende.
Cthulhu.