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Unter der Buche
Das blutige Loch starrte sie an. Felix wurde der Ernst der Sache nun bewusst. Zu Beginn war alles noch ein Spiel gewesen, und nun?
Das Blut war geronnen. Ein paar Fliegen nährten sich an dem Loch, wo sich einst der Kopf des Rehs befunden hatte. Das Fell des toten Tieres war struppig, und es roch faulig süß und herb. Er schaute zu Chris, dessen Blick immer noch starr auf den Kadaver gerichtet war.
„Wilderer treiben sich da draußen rum.“
„Wilderer? Wieso bist du dir da so sicher? Könnte doch auch ein tollwütiges Tier sein.“
„Nein. Der Schnitt ist zu sauber. Das bekommt man nur mit einem Jagdmesser hin, oder mit einer Säge oder so.“
„Warum nehmen sie dann nur die Köpfe mit?“
„Keine Ahnung, vielleicht wollen sie einfach provozieren. Den Jäger? Die Polizei? Oder das ganze Dorf? Hast du schon gehört? Die Tiere wurden nicht erschossen, jedenfalls nicht mit einem Gewehr. Das Projektil verursachte eine Eintrittswunde, aber eine Austrittswunde fehlte. Außer bei den Karnickeln. Sie vermuten, dass sie mit Pfeil und Bogen erlegt wurden.“
So hatten sich Felix` Eltern beim Abendessen darüber unterhalten. Als das enthauptete Pferd auf der Koppel nah des Waldes aufgefunden wurde, löste das eine kleine Panik bei den Dorfbewohnern aus. Auf den sonst von Katzen bevölkerten Straßen war kein einziges Miauen mehr zu hören. Seitdem fuhr die Polizei oft durch den Wald, und auch die Jäger hielten Augen und Ohren offen. Zwei Monate ging das jetzt schon so. Ein bis zwei Mal die Woche wurde ein weiterer Tierkadaver gefunden. Füchse, Rehe, Wildschweine, Hasen, Eulen und das Pferd.
Jetzt wandte Chris ihm das Gesicht zu. „Das ist ´ne echt heiße Fährte. Lass uns weitergehen.“
Eine heiße Fährte? Für Felix war dies das schlimmste Omen überhaupt. Er wollte zurück nach Hause, zurück zu Peter, der Hauptperson in der Geschichte, an der er gerade schrieb.
Nächste Woche ging die Schülerzeitung in Druck, und er hatte noch keine Geschichte, die er liefern konnte. Chris hatte ihn sowieso nur unter dem Aspekt überreden können, dass dieses Abenteuer neuen Stoff für die Story liefern könnte.
In den letzten vier Ausgaben der Schülerzeitung, die alle drei Monate erschien, war jeweils eine seiner Geschichten abgedruckt worden. Sogar ein Bericht im Lokalteil der Zeitung hatte es ihm eingebracht. Das erfüllte ihn mit Stolz, aber für die coolen Kids war es eine willkommene Einladung, ihn zu schikanieren. Seine Mutter hatte ihm versichert, dass die anderen nur neidisch auf das Talent seien. Doch es war nicht Neid, was aus ihnen sprach, sondern blanker Hohn. Nur Chris, sein bester Freund, hielt zu ihm.
„Was ist?“, fragte Chris. „Komm, scheiß dich nicht ein.“
„Das tu ich nicht. Aber wir sollten erst mal nachdenken.“
„Über was?“
„Na ja, stell dir vor, wir treffen auf diese Wilderer. Was dann?“
„Hm“, machte er, schnappte sich einen langen Ast vom Boden, holte aus und ließ ihn gegen einen Baumstamm sausen. Der morsche Ast zerbarst in zwei Hälften. Dem Knall hallte ein leises Summen nach. „So ein Schlag gezielt gegen die Schläfe und – Bäm! - gute Nacht.“
Chris grinste ihn an. Mit diesem Grinsen hätte er ihn davon überzeugen können, dass es das Beste wäre, kopfüber von einem Hochhaus zu springen.
„Okay, dann los.“
„Da lang“, sagte Chris. „Die jagen bestimmt nicht so nah am Waldweg, wo sie leicht einer sehen kann.“
Sie drehten dem kopflosen Reh den Rücken zu und waren dabei, tiefer in den Wald einzudringen, als ein Schrei die idyllische Atmosphäre des Waldes sprengte. Sie drehten sich um, versuchten den schrillen Laut zu lokalisieren. Felix sah zu den Wipfeln auf.
Ist es der Schrei oder der Wind, unter dem sie sich beugen?
„Auf dem Weg“, zischte Chris.
Er packte Felix am Ärmel seines T-Shirts und zog ihn mit sich. Das Gefühl in Felix' Beinen war schwach und er befürchtete ständig zu stolpern. Sie rannten zwischen den Stämmen hindurch, mussten die Knie besonders hoch anziehen, um sich nicht in einem der niedrigen Sträucher zu verheddern und zu stürzen.
Ein weiterer Schrei, diesmal klar artikuliert. „Hilfe!“
Ein Mädchen, dachte Felix.
Der seichte Bach schnitt ihnen den Weg ab. Chris sprang, ohne nachzudenken, über den Graben. Es gab eine kleine Brücke ein paar Meter entfernt, aber dafür fehlte die Zeit. Felix hielt kurz vor dem Graben inne, sein Atem stockte.
„Jetzt komm!“, schrie Chris, und Felix nahm Anlauf und sprang. Dann rannten sie weiter und hüpften über einen abgesägten Baum am Wegesrand. Die Schuhsohlen schlitterten über den Kies.
Vor ihnen lag das Mädchen.
Es trug Jeans und ein bauchfreies, grünes Top, das vielleicht nur bauchfrei war, weil es ihre Arme über den Kopf streckte.
Es wandte den Kopf in ihre Richtung und schrie erneut: „Hilfe!“
Chris war wieder der Erste, der losrannte, Felix hinterher. Abrupt bremsten sie vor ihr ab.
„Was ist denn? Was ist los?“, fragte Chris.
Das Mädchen sagte nichts, wirkte angespannt, so als würde gleich ein hysterisches Lachen aus ihr herausplatzen. Kein Blut. Und sie unterdrückte tatsächlich ein Lachen. Für Felix war das offensichtlich.
Ein Junge sprang aus dem Gebüsch. Chris und Felix sahen ihn erschrocken an. Er war einen halben Kopf größer als die beiden.
„Was soll …“ Aber bevor Chris den Satz zu Ende bringen konnte, schoss ihm die Faust des Jungen ins Gesicht. Er stolperte rückwärts, hielt sich aber auf den Beinen. Der Junge machte erneut einen Satz auf ihn zu, packte ihn am Kopf, zog ihn näher an sich ran und rammte ihm das Knie in die Magengrube und, als sich Chris vor Schmerz krümmte, ins Gesicht. Wie ein nasser Sandsack klappte er zusammen.
Felix war sprachlos. Nicht nur wegen des Gewaltausbruchs des Jungen, sondern vielmehr wegen des Lachens, das jetzt in schallenden Schüben aus dem Rachen des Mädchens drang. In einer respektlosen Geste spuckte der Junge auf Chris. Anschließend besah er Felix eindringlich.
„Soll ich ihm den Kopf abschneiden wie einem dieser Tiere? Ich kenne da wen, dem dieser kleine Dummkopf schmecken würde.“
Das Mädchen, dessen Lachanfall nun abgeklungen war, richtete sich auf und klopfte sich den Staub von Top und Jeans. Felix fand es nicht hübsch. Das Gesicht war übersät von Pickeln und Pickelmalen, aber diese kastanienbraunen Augen, die herausstachen, zogen ihn in ihren Bann. Wie zwei Goldstücke im Kackhaufen, dachte er, und schämte sich sogleich für diesen Gedanken.
„Tommo“, rief sie sichtlich amüsiert, „hör auf ihm so ´nen Schrecken einzujagen.“
Was war das denn für ein Name? Tommo.
Vielleicht war sein richtiger Name Tom? Was soll´s. Chris war, im Gegensatz zu ihm, ein echter Draufgänger. Er hatte also nicht den Hauch einer Chance gegen Tommo. In Embryohaltung lag Chris am Boden und stöhnte.
„Er meint es nicht so, wirklich nicht“, sagte das Mädchen.
„Was meint er nicht so? Was wollt ihr überhaupt?“
„Du bist doch Schriftsteller, oder?“, fragte Tommo, und Felix hörte den altbekannten Spott in jeder Silbe.
„Was? Nein, ich … ich schreibe ab und an mal eine Geschichte, aber ich bin kein Schriftsteller.“
„Hm ... dann wirst du also nicht mal dafür bezahlt, dass du schreibst?“
„Nein. Ich … wieso hast du ihn geschlagen?“
„Wen?“, fragte Tommo verblüfft.
„Hä? Meinen Freund, Chris.“
„Ich seh hier keinen Chris.“
Felix deutete auf die Stelle am Boden und sah, dass er fort war. Hektisch wandte er sich in alle Richtungen.
„Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht?“
„Ich weiß nicht, von wem du sprichst.“
„Du weißt es genau. Und sie weiß es auch.“
Er wollte weiter auf sie einreden, aber die Bäume begannen sich zu biegen. Sein Blick auf die Realität wurde verwischt. Als er die Augen schloss, klangen ihre Worte wie ein Telefongespräch mit Störfrequenzen.
„Das ist doch nicht wirklich der Junge, nach dem wir gesucht haben, oder? Der hat einen an der Waffel.“
Doch sie ging nicht auf ihn ein. „Ich mag deine Geschichten, Felix.“
Er öffnete die Augen. Alles war wie vorher. Von Chris fehlte jede Spur. „Woher kennst du meinen Namen?“
„Na ja, er steht über deinen Geschichten.“ Sie kramte in ihrem Rucksack, der neben ihr auf dem Boden lag, holte ein kleines Heft – die letzte Ausgabe der Schülerzeitung, erkannte Felix - heraus und suchte nach einer bestimmten Seite. „Hier! Das ist meine Lieblingsgeschichte von dir. Die diebische Elster. Und daneben: von Felix Holzapfel.“
Tommo und das Mädchen sahen ihn an, erwarteten, wie er glaubte, eine Reaktion. Nein, sie erwarteten Verstehen. Doch er starrte nur zurück.
Tommo brach das Schweigen. „Kurz und knapp: wir sind hier, um dich zu entführen … jetzt mach kein so schockiertes Gesicht. Nicht entführen im eigentlichen Sinne. Eher möchten wir dich als Reisebegleiter dabei haben. Wir wollen, dass du eine Geschichte erzählst. Wir wollen, dass du unsere Geschichte erzählst.“
„Bitte“, sagte das Mädchen und trat einen Schritt nach vorne. „Die Menschen sollen wissen, dass sie in Gefahr sind, und wissen, wer sie vor dem Super-GAU zu bewahren versucht. Und das ist dein Part. Du wirst eine Geschichte darüber schreiben.“
Wieder erwarteten sie eine Antwort.
„Bekommst du auch mal den Mund auf?“, fuhr ihn Tommo an.
„Ich weiß nur nicht, wie, was ihr wollt. Niemand würde meine Gesichte glauben. Kaum jemand würde sie überhaupt lesen. Ich denke mir die Dinge doch bloß aus.“
„Darum geht es nicht. Viele werden sie lesen, glaub mir. Komm einfach mit. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Details können wir unterwegs klären. Ich bin übrigens Fona.“
Schon wieder so ein seltsamer Name. Fona. Als sie ihm den Rücken zuwandte und mit Tommo loslief, fiel ihm ihr Kreuz auf. Es war breit, nicht das eines jungen Mädchens. Sie schulterte den Rucksack. Er musste an Chris denken. An das, was mit ihm geschehen war. Er hatte doch noch das Stöhnen gehört.
„Setz dich endlich in Bewegung!“, schrie Tommo über seine Schulter und Felix trottete ihnen hinterher.
Sie liefen ein Stück auf dem Waldweg und bogen dann rechts in den Wald ein. Dieses Stück Wald war dichter bewachsen, und Felix musste laufend Zweige beiseite biegen, um voranzukommen.
„Wo gehen wir hin?“
„Wir gehen nach unten“, sagte sie.
„Was heißt das?“
„Das heißt: du sollst die Schnauze halten“, knurrte Tommo. „Da vorne ist der Baum.“
Er zeigte auf einen riesigen Baum, der Stamm so enorm, dass Felix nicht mal die Hälfte mit einer Umarmung hätte erfassen können. Wie ein Fremdkörper stand die Buche inmitten der vielen Nadelbäume.
„Was weißt du über Riesen, Felix?“, fragte Fona.
„Sie sind groß.“
„Was noch?“
„Keine Ahnung. Nichts. Wieso denn?“
Das stimmte nicht ganz. Denn er hatte vor einigen Wochen ein Buch im Keller gefunden. Es lag in einem zerfransten Karton. Der Titel lautete „Das große Buch der Riesen“. Er hatte aber kaum darin gelesen, sondern sich nur die Illustrationen angesehen.
„Was würdest du sagen, wenn ich dir sage: es gibt Riesen.“
„Ich würde dir sagen, dass das verrückt ist.“
Fona ging auf ihn zu. Kurz sah er in diese braunen Augen, verlor sich in den Linien der Iris. Dann presste sie ihre Lippen auf seine. Kurz aber intensiv. Sie sagte: „Natürlich ist es verrückt.“
Er blickte kurz zu Tommo, erwartete zu sehen, wie er vor Wut brannte. Aber ihn schien das alles gar nicht zu interessieren, als stünde alles in irgendeinem Drehbuch, dass er schon x-mal gelesen hatte.
Fona zog seine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Siehst du das Loch unter den Wurzeln.“
„Ja.“
„Gut. Wir werden dort hindurchkrabbeln. Wenn wir wieder herauskommen, befinden wir uns in einer anderen Welt.“
Darüber musste er schmunzeln. „Andere Welt? Riesen? Was soll das alles?“
„Hör zu!“, herrschte sie ihn an, und seine Schultermuskulatur verkrampfte sich. „Wir töten Riesen. Natürlich verstehst du das noch nicht. Du musst sehen.“
„Ich will nicht sehen.“
„Schnauze“, meldete sich Tommo aus dem Hintergrund. „Rein mit euch. Jetzt!“
Felix hatte Probleme sich voranzuziehen. Unter seinen Fingern bröckelte die feuchte Erde einfach ab und seine Knie rutschten ständig weg. Er war als letzter in das nasse Erdloch gestiegen und konnte nicht mit dem Tempo der anderen mithalten. In seichter Neigung ging es nach unten. Es war so schmal, dass er nicht mal einen Katzenbuckel formen konnte. Ständig bildete er sich ein, in eine Wand aus Regenwürmern zu stürzen und kniff die Augen zusammen.
„Hey! Wartet, ich komm nicht mit.“
Tommos Stimme schallte. „Dann beeil dich! Solche Tore kommen und gehen wie der Regen. Jetzt verstehst du auch, warum wir dich ausgewählt haben und nicht irgendeinen Bestsellerautor. Der Tunnel ist nur für unsere Größe beschaffen. Oder meinst du, wir hätten es nicht geschafft, Stephen King statt dir zu kidnappen?“
Felix glaubte, dass die beiden verrückt seien. Und Menschen bringen alles fertig, wenn sie nur verrückt genug sind.
Er gab alles. Trotz der Angst vor den Regenwürmern und der Dunkelheit robbte er sich weiter nach vorn.
„In die andere Welt“, murmelte er wieder und wieder vor sich hin.
Seine Griffe wurden sicherer, und er kam schneller voran. Da war jetzt Gras, an dem er sich entlang ziehen konnte, nur fühlte es sich nicht an wie Gras. Er erreichte den Scheitelpunkt der Höhlenparabel, danach ging es aufwärts. Er hörte dumpf wie sich seine Begleiter unterhielten. Ein schmaler Streifen natürliches Licht traf sein Gesicht. Er konnte seine pechschwarzen Hände sehen und musste an seine Mutter denken, wie sie ihn anschreien würde. Wie er aussehe und dass er sofort seine Hände waschen müsse. Doch selbst nach diesem Gedanken sehnte er sich nach ihr. Wahrscheinlich mehr denn je.
Es wurde heller und heller, bis er das Ende erreichte. Er krabbelte heraus und streckte sich. „Das ist die Welt unter der Welt“, sagte Fona.
„Präg dir alles genau ein. Ich will nicht, dass du dir beim Schreiben irgendeinen Schund zusammenreimst.“
Sie standen auf einem kleinen Berg, der von noch hören Felshängen umkreist war. Nur Richtung Osten bahnte sich ein kleiner, ewig langer Pfad aus Bäumen, über denen ein feiner Nebelschleier hing. Im Norden erhob sich ein Fels mit zwei großen Höhlenöffnungen aus dem Boden. Der Himmel war klar, und die Sonne schien. Er ging ein paar Schritte, und es kam ihm so vor, als ginge er auf einem Trampolin. Der Boden war braun und erdig, aber irgendwie auch organisch. Der Berg streckte sich und fiel wieder in sich zusammen, als besäße er ein Innenleben.
Das muss ein Vulkan sein, dachte er. Die haben mich auf einen verdammten Vulkan verschleppt!
„Wo sind wir?“
„Auf dem Bauch eines nordischen Bergriesen. Sie zählen zu den größten“, sagte Fona, „leider aber auch zu den gefährlichsten.“
„Das heißt: ich stehe gerade auf Haut?“, fragte er entsetzt. Er zeigte auf das Loch, aus dem sie gekrochen waren. „Und was ist das?“
„Das ist sein Bauchnabel“, sagte Tommo. „Und jetzt lasst uns aufbrechen.“
Nun wurde ihm klar, dass der grün bewucherte Fels mit den zwei Höhleneingängen die Nase des Riesens war. Efeugeflecht zog sich über den ganzen Körper. Vereinzelt ragten Bäume aus seiner Haut.
Vom ständigen Heben und Senken des Bauchs wurde ihm schlecht.
„Er schläft, nicht wahr?“
„Natürlich schläft er. Wenn er das nicht täte, wären wir längst tot“, sagte Tommo.
Sie liefen eine Weile, dann sprach er weiter: „Wenn wir sie nicht töten würden, wäre die Welt schon längst im Chaos versunken. Seit Jahrhunderten planen die Riesen ihren Rachefeldzug gegen die Menschheit, aber wir versuchen, sie klein zu halten. Wenn sie irgendwann genug für einen Krieg wären, würden sie aus dem Boden sprießen wie Unkraut und die Menschen wie Konfetti durch die Luft schleudern, sie vernichten.“
„Sie waren mal friedlich. Jedenfalls die meisten“, setzte Fona hinzu. „Hast du dir jemals die sieben Weltwunder angesehen und dich gefragt: wie zum Teufel konnte so etwas von Menschenhand erschaffen werden? Doch das wurden sie nur zum Teil. Wie auch bei anderen architektonischen Meisterwerken waren immer Riesen beteiligt, die den Menschen geholfen haben. Aber irgendwann wurden sie dem Mensch zu mächtig. Alles, was fremd und groß und unkontrollierbar ist, ist in den Augen der Menschen falsch und muss getötet werden. So begann die Jagd auf Riesen. Die Überlebenden schafften es in diese Unterwelt zu flüchten.“
Sie erreichten gerade den Mittelgang, der durch die beiden Brusthügel hindurchführte.
„Stonehenge ist nur das Produkt der Langeweile eines Riesen, der mit Bauklötzen spielen wollte“, sagte Tommo.
Felix hatte noch nie von Stonehenge gehört, wollte aber auch nicht fragen, damit er nicht wie ein Idiot dastünde.
„Wie wollt ihr ihn eigentlich töten?“, fragte er, als etwas sein Bein umschlang.
Beinah wäre Felix gestürzt, sah, dass sich Efeu um seinen Knöchel wand. „Was ist das?“, schrie er.
„Bleib ganz ruhig“, sagte Fona.
Der Efeu schlang sich immer fester um den Knöchel, unterbrauch die Blutzufuhr. Er spürte ein Kribbeln im Fuß.
„Es geht los“, sagte Tommo. „Hol den Kopf raus.“
Sie schwang sich den Rucksack vom Rücken, zog den Reißverschluss auf und holte den abgetrennten Rehkopf heraus. Ihm stockte der Atem. Das Bild vom gähnend roten Loch im Rumpf des Rehs tauchte vor seinem inneren Auge auf.
„Was geht los?“, fragte er zwischen zusammengepresste Lippen hindurch.
Keiner antwortete ihm.
Fona legte den Kopf vor sich auf den Boden und Felix sah, wie sich Efeuranken wie Raubtiertatzen auf den Kopf stürzten. Sie zogen ihn davon.
Die Fessel an seinem Knöchel löste sich wieder.
Tommo stellte sich neben ihn und flüsterte: „Sie ziehen den Kopf zum Mund, füttern ihn. Dieses Unkraut arbeitet wie unser Immunsystem, selbst im Schlaf behütet es ihn. Aber in diesem Fall ist es bestechlich.“ Ein hörbares Schlucken. „Das wird sein Verhängnis sein.“
Tommo zog eine Pipette, gefüllt mit grün schimmernder Flüssigkeit, aus seiner Hosentasche.
„Drei Tropfen genügen, um jeden Riesen zur Strecke zu bringen. Das hier ist hochgradig toxisch; das Gift des Gottes Loki.“
Von nordischer Mythologie hatte er genau so viel Ahnung wie von Riesensagen und dem Küssen von Mädchen. Verdammt, hatten ihre Lippen gut geschmeckt! Er fuhr sich sehnsüchtig mit der Zunge über die Lippen.
Das Haar unter seinen Füßen wurde langsam dichter und länger. Mit fünf Schritten trat er über den Adamsapfel.
Nun standen sie vor einer Wand aus hellrotem Barthaar.
Fona bestätigte seine Befürchtung, indem sie sagte: „Wir müssen da hoch.“ Sie wandte sich direkt an ihn. „Versuch dich nur an ganzen Haarbüscheln festzuhalten, und nicht an einzelnen Haaren, sonst wacht unser großer Kumpel auf und macht Jagd auf uns.“
„Ich versuch´s.“
Die Haare rutschen ihm immer wieder durch die Finger, sowie durch die Schuhsohlen, die er fest zusammenpresste. Wieder mal hatten die anderen ihren Vorsprung vergrößert. Aber sie hatten das ja schon oft gemacht. Ständig musste er über die Konsequenzen nachdenken, die ein Sturz aus dieser Höhe zur Folge hätte. Die anderen waren gerade oben angekommen und auch er hatte nur noch circa einen Meter vor sich, als ihm wieder ein Haarbüschel aus der Faust glitt. Er versuchte gerade nachzufassen, als die Haare auch durch die andere rutschten. Er drohte nach hinten zu kippen, griff hektisch nach vorne und bekam etwas zu fassen. Allerdings waren es nur zwei Haare, an denen er sich wieder nach vorne zog.
Danach stürzte die Wand einfach um. Er wickelte zwei Haarbüschel um seine Hände und packte fest zu. Seine Beine baumelten in der Luft.
„Aaaaaargh!“
Ein gewaltiger Urschrei.
Er war aufgewacht. Und er war wütend.
Auch wenn es nur noch wenige Meter waren, konnte er seine Füße, solange der Mund des Riesen geöffnet war, nicht einsetzen. Wie wild strampelte er in der Luft. Dann sah er, wie sich langsam ein Arm erhob. Schmutz und Gestein bröckelten von ihm ab. Wie ein hydraulischer Schwenkarm richtete er sich auf und verdeckte kurz die Sonne, warf einen riesigen Schatten.
Der Schrei verstummte und die Wand richtete sich zurück in die Vertikale.
„Komm, verdammt, mach schon!“, brüllte Tommo.
Felix schluchzte. Für einen Moment wollte er nicht mehr weiter machen, wollte sich seinem Schicksal fügen.
Doch dann drang Fonas Stimme zu ihm durch. „Los, nimm meine Hand! Es ist nicht mehr weit.“
Es war schlecht zu erkennen, wie schnell sich die Hand näherte, aber viel Zeit würde ihnen nicht mehr bleiben. Sie wurde größer.
Er zog sich Stück für Stück nach oben. Eine Welle der Euphorie durchfuhr ihn.
Im Rhythmus zu seinen Griffen stöhnte er: „Los, weiter, los, weiter.“
Dann ergriff er ihre Hand. Sie zog ihn ein Stück nach oben, bis Tommo ihm unter die Schulter griff und ihn nach oben wuchtete.
Da lag er nun, am Ende seiner Kräfte. „Ich … ähm“, keuchte er.
Tommo unterbrach ihn prompt. „Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für eine Ruhepause. Steh auf! Und dann renn!“
Verschwommen nahm er wahr, wie sich der Himmel verdunkelte. Und unter dem riesigen Schatten sah er Tommo. Er hielt etwas von seiner Brust gestreckt in der linken. Irgendetwas zischte, zerschnitt die Luft. Danach ertönte wieder der Schrei des Riesen, so laut, dass er fast die Berge im Umkreis zum Einsturz brachte. Speichel regnete auf sie nieder. Der Schatten lichtete sich. Und im Schein der Sonne erkannte er, dass Tommo einen Bogen in der Hand hielt.
Er hatte einen Pfeil in den gigantischen Bauch gejagt, und die Hand des Riesen, wanderte zum Zentrum des Schmerzes. Für ihn musste sich das anfühlen wie ein Fliegenstich.
Tommo packte Felix an seinem T-Shirt und setzte ihn auf. Dann schlug er ihm zweimal mit der flachen Hand ins Gesicht.
„Ah! Aua. Was soll das?“
„Halt die Klappe und steh auf. Wir müssen weiter.“
Mühsam richtete Felix sich auf. Obwohl er sich langsam an das Gehen auf dem wackligen Boden gewöhnt hatte, konnte er nur schwer die Balance halten. Er sah die wulstige Unterlippe. Dort lag das Ziel. Nur wenige Meter von ihnen entfernt.
Drei Tropfen genügen, hatte Tommo gesagt.
Der Boden neigte sich, und Fona wäre nach Hinten umgestürzt, wenn Tommo sie nicht festgehalten hätte. Der Riese hob langsam den Kopf. Noch ein Grund sich zu beeilen.
„Los jetzt!“, schrie er erneut.
Sie rannten und stolperten. Die Neigung wurde immer steiler, und sie mussten sich erneut an den Barthaaren hochziehen. Felix' Fuß wurde festgehalten. Er glaubte, er habe sich in den Barthaaren verfangen, aber als er sah, wie Efeu sein Bein heraufkroch, wusste er, dass es zu spät war. Felix schrie um Hilfe, wand sein Bein im Griff des Efeus. Nun umwickelten sie auch das andere Bein und seine Arme, krochen an ihm empor. Fona und Tommo drehten sich nach ihm um. Aus Fonas Blick sprach Entsetzen. Sie ließ sich das kleine Stück zu ihm heruntergleiten.
„Nein!“ schrie Tommo. „Weiter.“
„Hier“, sagte sie, und hängte ihm ein Amulett um den Hals. Die Form erinnerte ihn an den großen Baum. „Denke an etwas, was dich zum Lachen bringt, und du wirst wieder nach oben gelangen.“
Ohne weitere Ausführungen wandte sie sich ab und folgte Tommo.
„Und nicht vergessen!“, schrie sie über die Schulter. „Schreib unsere Geschichte!“
Der Efeu krabbelte unter das Shirt. Die anderen hatten die Unterlippe erreicht, konnten aber nicht mehr über sie klettern, da der Riese den Kopf schon zu weit nach vorne geneigt hatte. Deshalb warf Tommo ihm gleich die ganze Pipette in den Schlund, hoffte wahrscheinlich, dass sie an einem seiner Grabsteinzähne zerplatzen würde.
Denk an etwas, was dich zum Lachen bringt.
Der Efeu war nun in seinem Mund drückte die Zunge nach unten, kitzelte den Gaumen, bereit in die Luftröhre zu schnellen und ihn zu töten. Er biss zu. Eine Geschmacksexplosion der Bitterkeit. Und Blut, er schmeckte Blut.
Er wollte schreien, aber die Zweige erstickten seine Bemühungen im Keim.
Er blinzelte die Tränen fort und bemerkte, dass er die andern beiden nirgends mehr sehen konnte.
Denk an etwas, was dich zum Lachen bringt.
Fiktion.
Fick-tion.
Die ganzen Fratzen seiner Mitschüler, die verblüfft dreingesehen hatten, als er beim letzten Referat das F-Wort benutzt hatte. Dabei hatte das eine mit dem anderen gar nichts am Hut.
Ein Efeustrang schlang sich fest um seine Zunge und riss daran. Sofort füllte sich sein Mund mit einem Schwall warmen Blutes.
„Fiktion“, brabbelte er, wobei ihm Blutrinnsale aus den Mundwinkeln liefen.
Fick-tion. Fickt euch, ihr Ficker. Alles verfickte Fikton.
Und dann lachte er tatsächlich. Es hörte sich mehr nach einem Erstickungstod an, oder nach einem Schwein, dem gerade ein Bolzen durchs Hirn gejagt wurde, aber er lachte und lachte …
Und lachte.
„Kira! Kira, komm her! Lass das!“
Er blinzelte. Es dämmerte bereits. Die Sonne war zur Hälfte unter dem Horizont versunken. Die raue Zunge eines Hundes fuhr über sein Gesicht.
Ein etwas älterer Junge zog den Hund am Halsband zurück. „Was machst du da? Böse!“
Er verpasste Kira einen Klapps. Aber als er sah, dass Felix immer noch leise vergnügt kicherte, beließ er es bei dieser Zurechtweisung.
Mit dem Rücken an einem Baumstamm gedrückt, saß Felix am Waldrand, den Blick auf das Dorf und die Felder gerichtet. Er stand auf, klopfte Dreck und Rinde von seiner Jeans. Hinter verschlossenen Lippen spielte er mit seiner Zunge. Sie war noch da.
Der größere Junge befestigte die Leine am Halsband.
„Tut mir leid. Sie ist immer sehr aufdringlich. Überall findet sie neue Freunde.“
„Hast du einen Jungen gesehen? Chris. Chris ist mein Freund. Er ist verschwunden.“
„Sorry, tut mir leid, nein. Ich hab keinen Jungen gesehen. Weiß die Polizei davon?“
„Nein. Hast du ein Taschentuch?“
„Leider auch nicht. Tut mir wirklich leid.“
„Nicht so schlimm.“ Er wischte den Speichel am T-Shirt ab. „Ich werde ihn selbst suchen.“
„Okay. Ich halt die Augen offen. Komm Kira.“ Er lächelte und wollte ihm den Rücken zukehren, stoppte aber abrupt mitten in der Bewegung. Als er ihn wieder ansah, lächelte er immer noch. „Das ist außerdem ´ne ziemlich coole Kette. Wo hast du die her.“
Felix sah an sich hinab und starrte ungläubig auf das Amulett in Form der Buche. Es schimmerte rötlich im Ton der untergehenden Sonne.