Unter dem Nussbaum
207 Sekunden, die Zeit eilt fort. Auf und ab schwankt mein Körper, einer besseren Zukunft entgegen. Erst „Tick“ dann „Tack“ murmelt die Uhr fragend. Ja, ich erinnere mich, mein kleiner Freund. 104 Ticks, 103 Tacks, solange hat es damals gedauert. Dann wurde ich ohnmächtig, was mich wohl auch jetzt zu der Annahme verleitet, 207 Sekunden noch zu haben. Dieses Mal ohne Wiederkehr. „Tick-Tack“. Ich baumle am Strick im Gleichschlag mit der Zeit.
Natürlich, Selbstmord, wie erbärmlich, die letzte Rückzugsmöglichkeit für einen hohlen Charakter, der vor Selbstmitleid überläuft. Dennoch, dass trifft es nicht ganz.
Als kleines Kind war ich durchaus religiös gewesen. Wenn man es als Tatsache begreift, dass ein Gott einen das Leben zum Geschenk machte, scheint es sicherlich absurd dieses Geschenk wegwerfen zu wollen. Diesen Gedankengang hatte ich mir damals zurechtgelegt und das Kapitel war für mich vorerst geschlossen. Nun, die Jahre kamen und Gott ging. Meine Einstellung zu dem Thema jedoch blieb vorerst gleich, ganz nach dem Motto: Mal abwarten was die Zukunft noch bringen mag. Ich begann zu realisieren, dass der Chefkoch „Zukunft“ es vorzog, mir jeden Tag die gleiche Mahlzeit zu kredenzen. Diese ähnelte stark einer halbherzigen Vorspeise vom Vortag . Also begann ich mir meine eigenen Gedanken zu machen.
Als Mensch, der gerne auch vorausplant, habe ich mir natürlich schon früher an den Tod gedacht, gerade auch im Kontext eines atheistischen Weltbildes. Ein guter Ansatz war Epikur. Ich ging also davon aus, den Tod nicht fürchten zu müssen, da ich ihn als endgültige Abwesenheit des Ichs zu interpretieren vermochte. Klar, unter Berücksichtigung dieser Gegebenheiten sollte Selbstmord noch absurder für mich geschienen haben. Dem war aber nicht so. Warum will also jemand das Leben selbst, also den Rahmen der eigenen Existenz, für immer vernichten? Vielleicht weil ihm das Gemälde gar nicht gefällt?
186 Sekunden spricht die Uhr, noch ist vieles möglich. Dieser Meinung war ich auch einst. Das Potenzial zufrieden und glücklich zu sein, und sei dieser Zustand noch so weit entfernt, stellte für mich einen Lebenswert per se dar. Nun, jeder Mensch wird mit dem Potenzial zu irgendwas in die Gesellschaft geboren, die dieses Potenzial wiederum ändert und dreht und wendet. Und obwohl ich noch immer der Meinung war, dass jeder grundsätzlich glücklich sein könnte, so schien doch nicht immer das entsprechende Umfeld dafür vorhanden zu sein.
Nein, ich gebe an dieser Stelle nicht der Gesellschaft die Schuld an allem. Darum habe ich auch keinen dieser kläglichen Abschiedsbriefe verfasst. Dieser Tod ist nur für mich alleine gedacht. Dass heißt letztlich nicht, dass ich mich nicht dazu gezwungen sehe eine andere Menschenkreatur mit meinem Ableben zu belasten. Dies ist bei der Tötung durch den Strick kaum zu vermeiden. Aber wenn mich jemand findet, dann einer meiner nervigen Nachbarn oder jemand vom Vater. Staat. Den echten gibt es ja jetzt schon eine Weile nicht mehr.
1. 5. 0. Der oder das Zeitmesser hat gesprochen oder geschnitten. Wie's beliebt. Es ist schon komisch: Umso älter man wird, desto schneller vergeht die Zeit. Man versucht nur noch irgendwie mitzukommen. Und ehe man sich versieht sind die Freunde von einst weg, die Familie irgendwie auch, alles was man erreichen wollte scheint unerreichbar. Irgendwann ging es mir scheinbar ganz gut. Ich hatte doch Freunde, oder? Ich komm euch gleich besuchen.
Die zwei letzten Minuten sind angebrochen. Mir schmerzt langsam die Lunge. Das Seil am Hals hat sich auch zu erstklassigem Weltkriegs-Stacheldraht entwickelt. „Wenigstens einer von uns beiden bringt's zu was.“ Ich würde dem Seil gerne diese aufmunternden Worte sagen, aber seltsamerweise ist meine Kehle eingeschlafen. Allgemein fühlt sich mein Körper ziemlich kribbelig an. Ich bin aufgeregt. Trotzdem habe ich Kopf- und Halsschmerzen. Warum geht es mir so schlecht, ich bin doch sonst nicht so anfällig?
Ach so, ja stimmt. Ich sterbe.
Wir sind zeitlich schon zweistellig. Ob man mich dafür hassen wird? Leer scheint die Welt geworden zu sein. Kalt auch. Sagt mir, dass ihr mich vermissen werdet. Das werdet ihr doch?
Nein, ich gehe mit Stolz, ihr wolltet mich ja nie. Ihr Schweine habt doch keine Ahnung, wie ihr jeden Tag euch gegenseitig tretet und schubst, nur um eurer jämmerliches Haupt in den vollen Fresstrog zu stürzen. Immer mehr, immer selbst am meisten, jeden Tag. Ich sollte euch danken, ich war einst auch so. Aber das ist schon viel zu lange her, als dass ich mich erinnern könnte.
Trotzdem hätte ich vielleicht etwas anders machen gekonnt? Ist es überhaupt legitim jetzt zu zweifeln?
Oh, gleich ist es soweit. 7...6...5...4...3...2...1..........
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Was ist los? Habe ich etwa noch Zeit?