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Unter dem Meer
Die alte Frau hasst das Tosen der Wellen. Wind streicht um ihre Beine wie eine hungrige Katze. Haie, die beißen. Quallen, die auf der Haut brennen. Schiffe, die untergehen. Schönheit zu entdecken fällt ihr schwer. Das Salz des Wassers vergiftet die Luft, lässt kaum einen tiefen Atemzug zu. Wohin sie auch tritt, gibt der Boden nach, versinken ihre Füße. Tiefer, immer tiefer. Treibsand, davon hat sie schon gehört, verschlingt ihren Leib, schlägt über ihrem Kopf zusammen.
Unter dem Meer ist es kühl. Kleine Körnchen, die kitzelnd in ihre Nase dringen, atmet sie einfach wieder aus. Es funktioniert. Die Ruhe im Inneren der Erde lässt sich leichter ertragen als das grausame Kreischen der Möwen. Es treibt sie noch weiter. Meter um Meter nähert sich ihr Körper dem Zentrum. Dort ist es warm. Noch kann sie es nicht spüren. Dunkelheit beschützt sie vor den Killerhaien. Den Mörderquallen. Vor der salzigen Gischt, die in den Augen brennt wie Salzsäure. Säure, die ihre Augäpfel auffrisst, in ihr Gehirn eindringt. Eine fiese Flüssigkeit, gemein, hinterhältig. „Gnade!“, ruft die Frau und die Gischt gehorcht, löscht alles aus. Kein Denken, kein Fühlen mehr.
An diesem Ort lebt es sich besser. Die Wärme kommt näher, angenehm prickelt der Sand. Langsames Sinken geschieht, auch ohne ihr Strampeln. Völlig bewegungslos treibt es sie voran, weit entfernt vom Grauen. Wie einfach das ist. So sorglos, dass sie ein lustiges Liedchen pfeifen möchte. Ha, ha, das funktioniert nicht, ihre Lippen bringen hier unten keinen Ton zustande. Von den Zehen aus steigt die Hitze empor. Die Frau ist mit sich zufrieden, denn sie hat es den anderen gezeigt. Denjenigen, die immer besser wussten, was gut für sie ist. Seht ihr mich nun, seht ihr, wie glücklich ich bin?
Horch, was klingt wie ein Topf gefüllt mit kochendem Wasser? Das Geräusch erzeugt Heiterkeit, Erinnerungen werden wach. Es blubbert, gluckst. Diese herrlichen Laute!
Bald erreicht sie das Feuer.
Weit über ihr tobt das Meer.