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Unter dem Jutesack
Der Tod seiner Frau lag ein Jahr zurück.
Beide hatten vom Beginn weg die Liebe im Gepäck. Zweiunddreißig Jahre können Liebe zur Freundschaft degenerieren lassen, oder zu Hass umwandeln.
Das mit der Freundschaft war teilweise passiert. Aber sie liebten sich trotzdem weiterhin. Das Wort Hass hatten sie nicht einmal zu buchstabieren versucht. Es gehörte nicht zu ihrem bescheidenen Glück. Sie hatten den Sex, bei dem das Atmen aus Zärtlichkeit bestand. Einen Sex, für den man Zeit brauchte, bei dem man sich alles schenken konnte. Alles schwang und war deshalb ruhig und fließend. Das Ungestüme war dahin, Beweise waren nicht von Bedeutung. Er sah mit Ruth sein Leben im Einklang. Er war ihr Mann. Sie brauchte seine Hände. Sie hatten sich über die Jahre erfahren.
Dann passierte es. Sie brach an der Kassa des Supermarktes zusammen. Dabei riss ihre volle Plastiktüte. Äpfel, Schnittkäse und ein paar Bierdosen kollerten auf den Fliesenboden. Ein Arzt kam dann auch, kam zu spät für alles. Nachdem Leute fassungslos herumstanden, nicht wussten wohin mit ihren Händen, ihrer Angst, etwas falsch zu machen und der Leiter der Supermarktfiliale und auch die völlig verschreckte Kassierin um Ruth herum gestanden waren, unfähig zu wissen was zu tun sei. Der Arzt stellte ihren Tod fest. Ein Angestellter holte aus dem Lager einen Jutesack. Den legten sie notdürftig über Ruths Körper. Es sah eigenartig aus, als Max angerannt kam. Ihre Schuhe sahen unter der Jute hervor. Es sah ganz einfach nicht so aus, dass es zu Ruth passen könnte. Niemand hob die Äpfel und die Bierdosen auf. Die Unordnung. Sie passte nicht zu Ruth. Er hatte am Parkplatz im Wagen gewartet. Dann spürte er, dass etwas nicht stimmen konnte, sah Leute laufen.
Später erzählten sie etwas von einem Schlaganfall. Ein Gerinnsel im Kopf. Max hörte den Arzt sprechen und seine Welt wurde dabei dunkler und dunkler.
Es begann damit, dass er die Beileidsbezeugungen nicht mehr hören konnte. Was wisst ihr schon, dachte er. Habt ihr meine Ruth gekannt? Er wollte alleine sein, zog sich zurück. Sie hatten von Reisen gesprochen. Nicht weit weg, aber so weit wie sie, als sie beide noch arbeiteten, nie gekommen waren. Mehr musste nicht sein. Ein bisschen in die Berge. Dahin und dorthin. Sie hatten gespart und Kinder gab es keine. Sie hatte ihm in all den Jahren keine Vorhalte gemacht. Dann eben nicht, hatte sie gesagt und das Thema war vom Tisch.
Er starrte die Wände der Wohnung an, starrte auf die Fotografien in den Alben. Ruth als junge Frau, Ruth im Badeanzug. In ihrem Hochzeitskleid machte sie eine unglaubliche Figur. Als sie ihn zur Jagd begleitet hatte, regnete es. Von den Fichtenwäldern kam ein Geruch von Moos, Nadeln und Erde, den sie beide danach nie mehr vergessen konnten. Sie hielt nichts vom Jagen, doch sie ging mit. Die Strecke war nichts Gewaltiges gewesen, doch Ruth hatte danach diesen Blick, den er an ihr fürchtete. Sie mochte nicht, dass Max auf Tiere schoss. Sie verstand nicht, wie er dieses Hobby mit seiner Sensibilität vereinbaren konnte. Ihre Tränen sah er nicht. Der Regen ließ alles weinen an diesem Tag, machte keinen Unterschied. Sie ging danach nie mehr mit. Ich mag das nicht, Max, sagte sie und damit war auch das für sie vom Tisch.
Max schob die beiden Kakteen zur Seite.
Das Fensterbrett war groß, er hatte Platz. Er hatte sich gefürchtet vor diesem Tag. Ruth würde es so nicht haben wollen. Doch er musste es zu Ende bringen. Was war das für ihn gewesen, dieses Jahr in einer Wohnung mit Bildern von ihr, ihrem Geruch, dem Kleiderschrank, der voll war mit ihren Sachen? Nein, nein, es muss aufhören, Ruth. Ich komme zu dir. Danach. Niemand hatte damals geholfen. Niemand. Es wäre machbar gewesen. Du hättest es schaffen können mit ein bisschen Courage der Anderen. Sie ließen dich so liegen und nichts geschah. Ich habe deine Hüften, dein Gesicht unter dem Jutesack gesehen. Sie haben vergessen, dir die Augen zu schließen. Im Krankenhaus mussten sie dir die Lider brechen. Ich war dabei. Ich kam zu spät, als der Blitz durch deinen Kopf fuhr. Ich saß im Wagen, hörte Chopin. Es tut mir so leid, Ruth. Ich habe all die Jahre nicht gehasst. Wir hatten das nicht gebraucht. Jetzt brauche ich es. Es ist das, was bleibt.
Er hatte sich alles zurechtgelegt, hatte den Jutesack, den von vor einem Jahr, unter seinen Knien ausgebreitet. Er sah das Glas ihrer Augen, hörte ihre Lider knirschen, dachte an die schmalen Lippen des Arztes, der es getan hatte. Er stützte den Arm auf das Fensterbrett. Es zielte sich so besser. Es musste schnell gehen, bevor sie ihn herunterholten. Es waren zweiunddreißig Schuss, die er griffbereit am Fensterbrett gestapelt hatte. Für jedes unserer Jahre, kleine Frau. Ein Andenken von uns für die da draußen. Nicht böse sein auf mich. Ich weiß keinen anderen Weg zu dir. Danach machen wir eine Reise, ja? Du und ich.
Gott, ich vermisse dich.