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Unter dem Jutesack

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02.11.2001
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Unter dem Jutesack

Der Tod seiner Frau lag ein Jahr zurück.

Beide hatten vom Beginn weg die Liebe im Gepäck. Zweiunddreißig Jahre können Liebe zur Freundschaft degenerieren lassen, oder zu Hass umwandeln.
Das mit der Freundschaft war teilweise passiert. Aber sie liebten sich trotzdem weiterhin. Das Wort Hass hatten sie nicht einmal zu buchstabieren versucht. Es gehörte nicht zu ihrem bescheidenen Glück. Sie hatten den Sex, bei dem das Atmen aus Zärtlichkeit bestand. Einen Sex, für den man Zeit brauchte, bei dem man sich alles schenken konnte. Alles schwang und war deshalb ruhig und fließend. Das Ungestüme war dahin, Beweise waren nicht von Bedeutung. Er sah mit Ruth sein Leben im Einklang. Er war ihr Mann. Sie brauchte seine Hände. Sie hatten sich über die Jahre erfahren.

Dann passierte es. Sie brach an der Kassa des Supermarktes zusammen. Dabei riss ihre volle Plastiktüte. Äpfel, Schnittkäse und ein paar Bierdosen kollerten auf den Fliesenboden. Ein Arzt kam dann auch, kam zu spät für alles. Nachdem Leute fassungslos herumstanden, nicht wussten wohin mit ihren Händen, ihrer Angst, etwas falsch zu machen und der Leiter der Supermarktfiliale und auch die völlig verschreckte Kassierin um Ruth herum gestanden waren, unfähig zu wissen was zu tun sei. Der Arzt stellte ihren Tod fest. Ein Angestellter holte aus dem Lager einen Jutesack. Den legten sie notdürftig über Ruths Körper. Es sah eigenartig aus, als Max angerannt kam. Ihre Schuhe sahen unter der Jute hervor. Es sah ganz einfach nicht so aus, dass es zu Ruth passen könnte. Niemand hob die Äpfel und die Bierdosen auf. Die Unordnung. Sie passte nicht zu Ruth. Er hatte am Parkplatz im Wagen gewartet. Dann spürte er, dass etwas nicht stimmen konnte, sah Leute laufen.
Später erzählten sie etwas von einem Schlaganfall. Ein Gerinnsel im Kopf. Max hörte den Arzt sprechen und seine Welt wurde dabei dunkler und dunkler.

Es begann damit, dass er die Beileidsbezeugungen nicht mehr hören konnte. Was wisst ihr schon, dachte er. Habt ihr meine Ruth gekannt? Er wollte alleine sein, zog sich zurück. Sie hatten von Reisen gesprochen. Nicht weit weg, aber so weit wie sie, als sie beide noch arbeiteten, nie gekommen waren. Mehr musste nicht sein. Ein bisschen in die Berge. Dahin und dorthin. Sie hatten gespart und Kinder gab es keine. Sie hatte ihm in all den Jahren keine Vorhalte gemacht. Dann eben nicht, hatte sie gesagt und das Thema war vom Tisch.
Er starrte die Wände der Wohnung an, starrte auf die Fotografien in den Alben. Ruth als junge Frau, Ruth im Badeanzug. In ihrem Hochzeitskleid machte sie eine unglaubliche Figur. Als sie ihn zur Jagd begleitet hatte, regnete es. Von den Fichtenwäldern kam ein Geruch von Moos, Nadeln und Erde, den sie beide danach nie mehr vergessen konnten. Sie hielt nichts vom Jagen, doch sie ging mit. Die Strecke war nichts Gewaltiges gewesen, doch Ruth hatte danach diesen Blick, den er an ihr fürchtete. Sie mochte nicht, dass Max auf Tiere schoss. Sie verstand nicht, wie er dieses Hobby mit seiner Sensibilität vereinbaren konnte. Ihre Tränen sah er nicht. Der Regen ließ alles weinen an diesem Tag, machte keinen Unterschied. Sie ging danach nie mehr mit. Ich mag das nicht, Max, sagte sie und damit war auch das für sie vom Tisch.

Max schob die beiden Kakteen zur Seite.
Das Fensterbrett war groß, er hatte Platz. Er hatte sich gefürchtet vor diesem Tag. Ruth würde es so nicht haben wollen. Doch er musste es zu Ende bringen. Was war das für ihn gewesen, dieses Jahr in einer Wohnung mit Bildern von ihr, ihrem Geruch, dem Kleiderschrank, der voll war mit ihren Sachen? Nein, nein, es muss aufhören, Ruth. Ich komme zu dir. Danach. Niemand hatte damals geholfen. Niemand. Es wäre machbar gewesen. Du hättest es schaffen können mit ein bisschen Courage der Anderen. Sie ließen dich so liegen und nichts geschah. Ich habe deine Hüften, dein Gesicht unter dem Jutesack gesehen. Sie haben vergessen, dir die Augen zu schließen. Im Krankenhaus mussten sie dir die Lider brechen. Ich war dabei. Ich kam zu spät, als der Blitz durch deinen Kopf fuhr. Ich saß im Wagen, hörte Chopin. Es tut mir so leid, Ruth. Ich habe all die Jahre nicht gehasst. Wir hatten das nicht gebraucht. Jetzt brauche ich es. Es ist das, was bleibt.

Er hatte sich alles zurechtgelegt, hatte den Jutesack, den von vor einem Jahr, unter seinen Knien ausgebreitet. Er sah das Glas ihrer Augen, hörte ihre Lider knirschen, dachte an die schmalen Lippen des Arztes, der es getan hatte. Er stützte den Arm auf das Fensterbrett. Es zielte sich so besser. Es musste schnell gehen, bevor sie ihn herunterholten. Es waren zweiunddreißig Schuss, die er griffbereit am Fensterbrett gestapelt hatte. Für jedes unserer Jahre, kleine Frau. Ein Andenken von uns für die da draußen. Nicht böse sein auf mich. Ich weiß keinen anderen Weg zu dir. Danach machen wir eine Reise, ja? Du und ich.
Gott, ich vermisse dich.

 

Hallo Aqua!

Insgesamt kommt mir der Text nicht ganz so flüssig vor wie Deine letzten. Vor allem die beiden mittleren Absätzte fügen sich nicht so ganz ein in den Rhythmus finde ich.

"Es sah eigenartig aus, als Max angerannt kam" hört sich für mich so an, als habe Max eine komische Art zu laufen. Du meinst allerdings etwas anderes.

"Es begann damit, dass er die Beileidsbezeugungen nicht mehr hören konnte" ohja, das geht, denke ich, vielen so, die geliebte Menschen verloren haben.

"Sie hielt nichts vom Jagen, doch sie ging mit" wieso?

"Ihre Tränen sah er nicht. Der Regen ließ alles weinen an diesem Tag, machte keinen Unterschied." das ist schön beschrieben...

Der Schluss, ja, der Schluss hingegen ist super! Hab allerdings nachlesen müssen, ist nicht ganz sichbar auf den ersten Blick.

Durch Schmerz wahnsinnig geworden. Er begreift, sie wäre nicht einverstanden, dennoch ist es für ihn der einzige Weg den er sieht, um seine Gefühle zu zeigen...

Schöne Grüße, Aqua, Anne

 

Maus,

wenn Max rannte, sah es ob seines Alters komisch aus. Ein Ehekrüppel....
Warum ging Ruth mit zur Jagd? Die Liebe, Maus, die war's.
Ich freu mich, dass du keine meiner Geschichten ausläßt.

Ganz liebe Grüße - Aqua

 

Aqua,

Schön: Liebe kann sich in Freundschaft oder in Haß verwandeln.
Auch schön: sie mußten ihre Lider brechen.
Dufte: Haß ist das, was bleibt.

Ja, nicht so fluffig wie die letzten, aber trotzdem viele Bilder, kann man alle sehen. Weiß nicht ob man sich nicht entscheiden sollte für einen Beweggrund, er will schießen weil er den Haß braucht wenn sonst nichts geblieben ist, oder Rache weil DIE nicht geholfen haben. Hm.

Eine Sache: "..nach 15 Minuten. Nachdem anwesende Kunden..."
statt dem Punkt ein Komma?

Liebe Grüße, alex.

 

Hallo Aqualung,

ich denke die abgehackte Sprache hast Du gewählt, weil Dein Protagonist gehetzt ist, Gedankenfetzen, Erinnerungen jagen durch seinen Kopf. Warum er die Gesellschaft büßen lassen will, erscheint mir nicht ganz plausibel, eigentlich müßte er doch den Arzt oder die Kassiererin angehen.

Alles Gute,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo Aqua,
das ist von ganz tief unten geschrieben worden und einmal angenommen, der Leser ist sowieso traurig sind Tränen hier der angemessene Beifall.
Die Worte stimmen so, genau wie sie da stehen und Keines fehlt oder ist zuviel.
Schööööön**Merlinwolf**********

 
Zuletzt bearbeitet:

Aqua, was mir nicht so gut gefällt, ist dieser Satz:
"Sie haben dir vergessen, die Augen zu schließen."
- Würde das "dir" vor "die Augen" geben, dann hört sichs besser an.

Außerdem muß ich sagen, das ist nicht nur eine Geschichte, sondern ein Lese- und Gefühlserlebnis. :)

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Aqualung, eine gute Geschichte. Im Gegensatz zu deinen letzten stories ausser eben der letzten verzichtes du auf das Wortgewaltige. Du bist herabgestiegen. Nein nicht der Abstieg des Schriftsteller. Ne andere Ebene. Hey....ich will gewagt sein. Befindest du dich in einer anderen Grundstimmung, oder kannst du auch schreiben wie du willst? (Als ob du dich ausgetobt hättest und erschöpft in Bescheidenheit schreibst)

Ohje...muss das Studienfach wechseln, solche Deutungen kommen dabei heraus.

tja, für den Schluss bin ich allerdings zu blöde.

noch eine sache: die Anderen. Wir bei Anderen nicht die Ausnahme gemachte es klein zu schreiben.

Sag mal, das mit den Lidern brechen, funktioniert das so? Mit Elektrizität?

Bis dann Arche

 

Häferl, ich hab gemacht, wie du wolltest. Hattest schwer recht.

Heiko und Arche lieben mich. Ich kann diese Liebe nur erwidern, indem ich weitermache.

Merlinwolf, wir beide wissen es. Danke.

Wolto scheine ich zusehends überzeugen zu können.

Alex ist meine Grenzwanderung zwischen Spanien und Wien. Die fünfzehn Minuten sind eine Ewigkeit hier.

Viele Grüße und ein Danke an euch - Aqua

 

Sie hatten gespart und Kinder gab es keine.

da gehört ein komma vor dem "und".

hi aqua,
ja, es ist dein stil - unverkennbar.
einmal musste ich das gesicht verziehen - als man ihr die augen brechen musste.
der erzählstil ist diesmal leider nicht so flüssig, wie ich es in der zuletzt von mir gelesen geschichte von dir erlebt habe. die thematik, ein lebenspartner stirbt nach jahrzehnter gemeinsamkeit, ist dir meiner ansicht nach nicht ganz bewusst. so melancholisch du es geschrieben hast, viele dinge fehlen einfach. also - es gibt in dieser geschichte mehr anspruch auf emotionale details.
das ende erinnert mich irgendwie ganz dringend an freaks "365".
leider gab es auch noch stellen, die ich mehr mals lesen musste.
dieser satz ist schwierig:

Ein Arzt kam dann auch, kam zu spät für alles. Nachdem Leute fassungslos herumstanden, nicht wussten wohin mit ihren Händen, ihrer Angst, etwas falsch zu machen und der Leiter der Supermarktfiliale und auch die völlig verschreckte Kassierin um Ruth herum gestanden waren, unfähig zu wissen was zu tun sei.

und noch etwas ... deine texte, so wie auch dieser hier, haben ein gewissen hohen anspruch. du solltest dann sex ausschreiben in sexualität.

mein lieblingssatz:

Sie verstand nicht, wie er dieses Hobby mit seiner Sensibilität vereinbaren konnte.

gute überlegung & gut umschrieben

bis dann
barde

 

Danke für deine sehr analysierende Kritik, Barde.
Du setzt dich mit meinen Geschichten wirklich auseinander.
Ich muss aber auf den nicht unbedeutenden Unterschied zwischen Sex und Sexualität hinweisen.
Sex haben wir. Es ist der Geschlechtsverkehr gemeint. Es ist das, was wir tun. Sex in diesem Zusammenhang ist damit als Handlung zu verstehen. Mit unseren PartnerInnen, den Haustieren, der Nachbarin. Egal. Ansichtssache.
Die Sexualität eines Menschen ist seine Geschlechtlichkeit. Ich wollte nicht die Geschlechtlichkeit von Ruth und Max beschreiben. Die scheint klar auf der Hand zu liegen und braucht keine in die Irre führenden Erklärungen.
Aber sie hatten guten Sex in all den Jahren.
Das war es, das ich sagen wollte.

Liebe Grüße an dich - Aqua

 

hey, aqua
dann hatten sie guten geschlechtsverkehr,
das wort sex ist einfach zu platt für deine geschichte. stört dich der klang denn gar nicht *wunder*?
(vielleicht wäre hier mal die meinung anderer kritiker sinnvoll!)

 

Danke für die Unterstützung, Morphin.

Autoverkehr, Parteienverkehr, Kreisverkehr..
Ist ja alles schon schlimm genug.
Mann stelle sich die Frage vor: ,Wollen wir Geschlechtsverkehr haben, Baby?'

Liebe Grüße - Aqua

 

Keine Frage- mich stört Sex auch nicht.
Kein Gekicher von da hinten, bitte. :-)

Grüße, alex.

 

Dann ist alles klar.
Barde hat Geschlechtsverkehr.
Der Rest der Truppe hat Sex.
Hat noch jemand was zur Story zu sagen? Ich mein' ja nur. Um dem Postingverkehr das Tüpfelchen zu geben.

Würd' ich furchtbar nett finden.

Ich hab euch alle lieb.

Aqua

 

*öhm*, habe ich etwas verpasst?
ich habe meine kritik gelesen, und sie steht da immer noch unverändert.
der ausdruck "sex" stört in der qualität dieser geschichte (m.e.). er ist der sprache nicht angepasst.
ich habe NICHT gesagt (und noch weniger gemeint), dass mich der ausdruck sex GENERELL stört.
ich möchte euch bitten, weniger oberflächlich mit einwänden umzugehen, denn wir denken uns doch etwas bei unseren kritiken, oder?

 

Hi Barde,

auch mein Bestreben ist es, das Niveau der Postings nicht abgleiten zu lassen. Ich meine nur, dass der Ausdruck Sex für diese Geschichte nicht unbedingt als qualitätsmindernd angesehen werden muss. Ich kann nicht nachvollziehen, warum du das Wort Sex für die bei dieser Geschichte gebrauchten Sprache nicht angepasst findest. Das Wort steht mit seiner Begriffserklärung genaus so in jedem Lexikon der deutschen Sprache. Ich erkenne bei dessen Verwendung nichts Abwertendes für den Text davor und danach. Es ehrt jedoch meine Geschichte, wenn du ihr Qualität nicht absprichst, Barde.
Vielleicht habe ich aber noch nicht den richtigen Zugang zum Hintergrund deiner Argumentation gefunden.

Liebe Grüße an dich - Aqua

 

Die Geschichte gefällt mir richtig gut.
Die Erzählweise auch.
Sehr schön. :)

 

ne aqua,
nicht argumentation .. ich schrieb es dir doch - es ist ein gefühl. ich meine, ich stolpere darüber beim lesen. wenn andere nicht stolpern, kann es sein, dass ich mit dem wort sex etwas anderes empfinde als die anderen.
vielleicht hängt es mit generation, kultur und erziehung zusammen. sex ist nicht negativ behaftet, es ist einfach sehr leger.
also wie gesagt, es ist ein gefühl - deshalb habe ich ja auch angeregt, dass sich andere kritiker darüber gedanken machen - einfach aus dem grund heraus, dass das gefühl eventuell nur bei mir oder bei wenigen auftritt - oder ob es ein generelles gefühl ist.
*hm* - lass uns damit nicht unnötig aufhalten.
bye
barde

 

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