Unter dem Bett
Am ganzen Körper zitternd, mit verstört starrenden Augen stolperte Isolde B. in das Zimmer. Unablässig fuhr sich die junge Frau durch die, ohnehin schon völlig zerzausten, Haare. Heiße Tränentropfen verharrte in ihrem eiskalt gewordenen Gesicht, welches eine ungesund-gräuliche Farbe angenommen hatte.
Von heftigen Schluchzern unterbrochen wühlte Isolde in Schubladen herum. Bald wurde sie fündig. Aus einem Stapel von Zeitschriften zog sie ein kleines schwarzes Heftchen hervor. Hastig öffnete sie es und las.
Tagebucheintrag 28. 12.:
Gestern ist etwas überaus Merkwürdiges geschehen. Meine Eltern sind über Weihnachten verreist, darum habe ich bis zum Ende der Ferien sturmfrei. Wie dem auch sei, gestern haben Walter, Dan, Lise, meine Schwester Isolde und ich bei uns gefeiert. Wir sind dann allerdings bald schlafen gegangen, da wir am Vortag schon ausgelassen gefeiert hatten. Doch so etwa um Mitternacht ist etwas sehr seltsames passiert:
Ich wachte auf, denn ich hatte ein wenig Halsweh. Anschließend wollte ich aufstehen, um etwas zu Trinken zu holen. Da hörte ich ein ungewöhnliches Geräusch. Es klang wie ein ersticktes, heiseres, keuchendes Ausatmen, doch im Gegensatz zu einem gewöhnlichen Atemzug riss das Geräusch, das ich hörte, einfach nicht ab.
Es kam aus der Küche. Da ich mir sowieso etwas zu Trinken holen wollte, ging ich dort hin. Der Raum war stockfinster und zu allem Überfluss konnte ich den Lichtschalter nicht finden. Also tastete ich mich langsam vorwärts. Ich öffnete die Kühlschranktür und Licht quoll daraus hervor. Plötzlich stand da jemand neben mir. Ich erschrak natürlich, und das Geschöpf, das ich im Dunkel nicht erkennen konnte, huschte davon.
Ich dachte mir nichts weiter, aber, um ehrlich zu sein, war das sehr unheimlich, und ich hatte ziemliche Angst.
„In der Tat merkwürdig“, sagte Isolde vor sich hin, doch das konnte es unmöglich gewesen sein, was ihren Bruder derart in den Wahnsinn getrieben hatte. Sie schlug die nächste Seite auf und las weiter:
Tagebucheintrag 29./30. 12.:
Ich sitze in meinem Bett. Die Nachttischlampe wirft schemenhafte, düstere Schatten an die Wand. Ich glaube, ich werde langsam wahnsinnig. Unter meinem Bett ist etwas. Ich höre scharrende Kratzgeräusche und das selbe Atemgeräusch wie gestern Nacht. Vielleicht träume ich ja nur. Wenn ja, dann ist es ein Alptraum. Ich traue mich nicht nachzusehen. Ich spüre es könnte meinen Verstand zerfressen, wenn ich sehe, was sich dort unten verbirgt.
Isolde begann abermals zu weinen. Der Tagebucheintrag war erst drei Tage alt. Wäre sie doch bei ihrem Bruder geblieben, dann wäre das alles nie passiert. Isolde las den Tagebucheintrag aus der Nacht vom 30. Dezember:
Tagebucheintrag 30. 12.:
Ich hatte solche Angst. Die letzte Nacht war furchtbar. Ich leide zunehmend unter Verfolgungswahn. Ich habe versucht meine Schwester zu erreichen, aber sie hat offenbar ihr Telefon ausgeschaltet.
Bei diesem letzten Satz stockte Isolde in furchtbarem Zorn über sich selbst, las jedoch gleich weiter:
In diesem Haus halte ich es nicht mehr aus. Ich muss irgendwo anders hin. Kann nicht wieder in diesem, oder einem ähnlichen Bett schlafen. Ich gehe erst einmal in die Stadt, vielleicht in den Park, um mir einen klaren Kopf zu verschaffen.
Später:
Ich hab Walter getroffen. Ich habe ihm alles erzählt. Hat mich ausgelacht. Wundert mich nicht. Er hat mir angeboten, heute bei ihm zu übernachten. Ich nahm dankend an. Wenn es mir wieder so schrecklich geht, heute Nacht, dann habe ich wenigstens ihn in meiner Nähe. Obwohl ich mich wie ein kleines, verängstigtes Mädchen anhöre, schäme ich mich nicht. Die letzte Nacht war zu furchteinflößend.
Isolde verstand es einfach nicht. Sie verstand das einfach nicht. Ihr Bruder war doch nicht verrückt gewesen. Was war bloß mit ihrem armen Bruder geschehen? Die Gedankenflut wirkte auf Isolde unerträglich. Sie ging nach draußen in die Küche. Das Zimmer ihres Bruders wirkte nun auch schon auf sie furchterregend. Ein freundlicher Polizist gab ihr eine Tasse Kaffee. Er sagte ihr sie sollte versuchen sich zu beruhigen, obwohl er natürlich wusste wie schwer das jetzt für sie war. Er sah ihr in ihr blasses, müdes Gesicht, erblickte danach das ausgefranste Tagebuch in ihrer Hand, und riet ihr es besser nicht zu lesen. „Eigentlich merkwürdig, dass er das nicht als Beweismaterial beschlagnahmt“, dachte Isolde, verlor aber keinen Gedanken mehr darüber, sondern freute sich, dass der Polizeibeamte es nicht getan hatte.
Isolde setzte sich mit ihrem Kaffee und dem Tagebuch ihres Bruders an den Esstisch im Wohnzimmer. Draußen schneite es. Genau bei so einem Wetter wollte ihr Bruder immer begraben werden. Das hatte er ihr gesagt. Isolde kam nicht umhin, flüchtig zu lächeln. Sie betrachtete das Spiel der dicken, weißen, flauschig-kalten Flocken im Wind. Nachdem sie das Naturkunstwerk eine Weile lang betrachtet hatte, und sich dabei erinnert hatte, wie gern ihr Bruder das immer getan hatte, während sie ein solches Wetter immer gehasst hatte, blätterte sie in dem Tagebuch weiter:
Tagebucheintrag 31. 12.:
Habe bei Walter übernachtet. Wir haben bis spät in die Nacht Fernsehen geschaut, Bier getrunken und sind dann irgendwann zwischen zwei und fünf Uhr auf dem Sofa eingeschlafen.
Langsam fange ich an zu glauben, dass ich in der letzten Nacht einfach nur ein bisschen durchgedreht habe. Vermutlich habe ich wirklich nur schlecht geträumt. Hat vielleicht was mit dem Weihnachtsstress zu tun. Jedenfalls denke ich, dass ich heute wieder wie ein toter schlafen werde. Zu Hause in meinem Bett. Ohne irgendwelche Alpträume.
Isolde verstand gar nichts mehr. Wenn es ihrem Bruder gestern so gut ging, wieso…? Wieso? Es war einfach so grauenvoll. Isolde brach wieder in bitterlichsten Tränen aus. Sie verschloss sich im Arbeitszimmer ihres Vaters, aus Angst jemand könnte ihr das Tagebuch wegnehmen. Sie beugte sich über den Schreibtisch und las den letzten Tagebucheintrag, in der Hoffnung er würde ihr die furchtbare Tat ihres Bruders erklären.
Tagebucheintrag 31. 12./ 1. 1.:
Ich ertrage es nicht. Es ist unter mir. Ich kann kaum noch die Feder halten, mit der ich diese Zeilen schreibe. Ich schlief in meinem Bett. Meine eine Hand glitt in der Nacht auf den Boden. Es hat mich gepackt. Ich habe es gesehen. Hat aus der Dunkelheit unter meinem Bett mich angefaucht. Angeschrien. So furchtbar. Was ist es? Es war so grauenvoll. Diese stechenden Augen, die Mumienhafte haut, haarig wie ein Tier und verfault, die Kiefer eines, ja, eines Monsters. Ich habe das Licht eingeschaltet, vermag jedoch nicht es zu vertreiben. Es kriecht dort unten, scharrt. Unter meinem Bett. Es hat mich mit seinen grauenvollen, giftigen Reißzähnen verletzt. Es ist dort unten, unter dem Bett. Ich höre es. Im Zimmer ist es hell, aber alles ist dunkel. Ich muss weg! Weg von dem Bett. Nach oben. Dort kann es mich nicht erwischen. Es kriecht am Boden. Ich muss über das Bett. Ich höre es. Es will mich holen. Ich muss fliehen. Nach oben. Dieses Monster! Unter dem Bett.
Isolde wischte sich die vertrockneten Tränen aus ihren rotgeschwollenen Augen, und steckte das Buch ein. Sie durchschritt die Absperrung der Polizei, bevor man sie aufhalten konnte, und trat in das Zimmer ihres Bruders. Da sah sie ihn. Er hing, ganz oben an einem Haken an der Decke aufgeknüpft, eine Schlinge um den Hals, über seinem Bett, und baumelte hin und her. Eine Hand war abgeschlagen, oder vielmehr abgerissen, und beklebt mit Haaren. Und mit Blut hatte der arme, kranke Junge in großen Lettern dieses Wort an die Wand geschmiert. Das Wort war: ES. Wieso? Isolde sah zitternd ihrem toten Bruder in die irren, offenen Augen. Lieber sah sie ihn an, als diesen Ort, unter dem Bett.