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Unten
Es hatte gedauert, jemanden zu finden, der etwas wusste. Er war schon älter, vielleicht so um die Fünfzig, und ich traf ihn in einer Kneipe. „Kann dir keiner sagen, was dich Unten erwartet“, sagte er. „Es heißt, es ist irgendwas Organisches, das dich liest wie ein Buch. In der Luft solls halluzinogene Sporen geben, also glaub nicht alles, was du siehst oder hörst, am besten glaubst du nichts, das ist alles nicht real. Was willste denn Unten? Wenn du Selbsterkenntnis suchst, dann lass es lieber! Isses nicht wert. Is völlig bescheuert, meiner Meinung nach, is ja nicht ungefährlich, gibt einige, die nicht wieder zurückgefunden haben …“
„Ich suche meine Frau. Maja …“
Er sah mich an, nickte und fuhr fort: „Du musst erst einmal reinkommen. Du wartest draußen vor der Tür, scheißegal was für Wetter is, kann dauern. Wenn die Tür sich öffnet, gehst du die Treppe runter, da sitzt dann einer, der fragt dich: Willst du nach Unten?“
„Ja!“, sage ich. „Will ich! Ich habe gewartet, fast sechs Stunden, jetzt lass mich rein.“
Er nickt mich durch, hinein in einen Tunnel, der sich in dunklem Grau und nur spärlich beleuchtet, in die Tiefe windet. Die Tunnelwand sieht aus, als wäre sie feucht, ist aber trocken und warm, als ich mit dem Finger darüber streiche. Ich lege die Handfläche auf, spüre ein Heben und Senken, ein schiffsartiges Wanken und Übelkeit klettert meine Speiseröhre hoch. Ich werde doch wohl nicht seekrank werden in einem Tunnel unter der Erde!
„Am Ende des Gangs is ne Treppe“, ruft er mir hinterher und reißt mich aus meinem Taumel, „eine hoch, eine runter, deine Entscheidung Bro!“
„Schon klar“, sage ich, löse die Hand von der Wand und gehe weiter in den Tunnel hinein. Ob sie an mich gedacht hat, als sie hier entlang ging? So wie ich jetzt an sie denke?
Ich weiß nicht, wie lange ich gehe, bis ich endlich die Treppen erreiche. Den großen, braunen Sessel sehe ich schon von weitem. In ihm fläzt eine junge Frau. Sie ist sehr schön und kaut gelangweilt am Nagel ihres großen Zehs, das Bein lässig verbogen.
„Nach Unten?“, fragt sie und spuckt mir was vor die Füße.
„Ich denke …“, sage ich.
„Du denkst?“, fragt sie und zieht eine Augenbraue hoch. „Wenn du nicht sicher bist, geh besser wieder hoch!“
Aber wenn ich Maja finden will, wenn ich sie fragen will, was das alles soll, wenn ich jemals wieder ruhig schlafen will, dann muss ich nach Unten, muss mich dem stellen, was mich Unten erwartet. „Deinen Ängsten“, hatte er gesagt. „Kann man leicht unterschätzen!“ Was auch immer das bedeuten soll. Gibt nicht viele Dinge, vor denen ich Angst habe.
„Nein, ich will runter“, sage ich. „Ich will runter!“
„Dann krieg ich einen Zeh von dir!“ Davon hatte der Typ nichts erzählt und ich suche nach einem Grinsen in ihrem Gesicht, aber sie deutet mit einem Nicken auf meine Schuhe. „Den kleinen Zeh, kann auch ein Finger sein, halt irgendwas …“ Sie zuckt mit den Schultern.
„Also gut, dann den linken kleinen Zeh … Wer braucht den schon?“
Ich ziehe meine Schuhe aus und sie holt ein Laserskalpell aus der Sesselritze, schiebt den Regler nach oben. Die Skalpellspitze leuchtet rot und still.
„Ich schneid den Zeh mit diesem Ding ab, die Wunde wird gleichzeitig versiegelt. Is nich so schlimm, wie es klingt. Is tatsächlich so, geht auch ohne gut, wirst sehen.“
Erst jetzt fällt mir auf, dass der kleine Zeh an beiden ihrer Füße fehlt. Sie klopft mit ihrer Hand vorne auf die Sitzfläche des Sessels und ich stelle meinen Fuß dorthin, zwischen ihre Schenkel. Mit dem Skalpell schneidet sie meinen kleinen Zeh ab, in einem schönen Bogen von innen nach außen. Es zischt, riecht nach verbranntem Fleisch und schmerzt wie bei einer leichten Verbrennung.
Sie wirft meinen Zeh in eine Pfütze neben dem Sessel, es zischt kurz. Sie sagt: „Sie weiß jetzt, wer du bist.“ Ich will meine Schuhe nehmen, aber sie lacht. „Die brauchst du da nicht und jetzt verpiss dich!“ Sie fläzt sich wieder in den Sessel, schlingt ihr Bein, bemerkenswert biegsam, über die Schulter und kaut weiter an ihrem Nagel herum.
An der Treppe schaue ich noch einmal zurück auf meine Schuhe, die neben dem Sessel stehen. Es fühlt sich nicht richtig an sie zurückzulassen, beim Zeh war es leichter. Aber was ist schon richtig oder falsch? Barfuß steige ich die Treppe nach Unten. Mit jeder Stufe wird es dunkler. Bis alles schwarz ist. Vorsichtig taste ich mich von Stufe zu Stufe, halte mich an der Wand fest, die sich hebt und senkt und meine Welt ins Wanken bringt. Erneut arbeitet sich Übelkeit meine Speiseröhre hoch, entlädt sich in einem Schwall. Erbrochenes, das mit einem Klatschen auf die Stufen und auf meine Füße fällt, einen beißenden Geruch verbreitet. Aber die Übelkeit ist fort.
Schließlich trete ich auf eine steinige, ebene Fläche, bedeckt mit knöchelhohem Wasser, das den Geruch von meinen Füßen wäscht und die Stelle kühlt, wo der kleine Zeh amputiert worden ist. Ich höre eine tiefe, dunkle Stimme sagen: „Lass los und alles findet sich!“
„Hallo?“, sage ich. „Ist da wer?“ Niemand antwortet.
Ich gehe einen Schritt vorwärts, taste um mich herum: Nichts. Gehe zurück Richtung Treppe, zurück zur Wand, aber ich finde die Treppe nicht wieder und auch nicht die Wand.
„Hallo …“, rufe ich in alle Richtungen und lausche, aber meine Worte verhallen ohne jedes Echo. Was gäbe ich für eine Wand …
„Kein Raum ist unendlich“, sage ich zu mir und setze einen Fuß vor den anderen, Hacke an Spitze, sage: „Piss“, Hacke an Spitze, sage: „Pott.“ Piss, Pott.
Da höre ich wieder die Stimme: „Hast du Vertrauen, so wird sich alles finden!“
Vertrauen, gut und schön, aber am Ende sitzt man alleine in der Drei-Zimmer-Wohnung, gemietet für Zwei mit der Hoffnung irgendwann zu dritt zu sein. Vertrauen - man sieht ja, was man davon hat. Was, wenn sie mit irgendeinem Typen hier Unten ist, geht es mir nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Ein leuchtender Zettel schwebt vor mir in der Luft. Such mich nicht!, steht in ihrer Kleinmädchenhandschrift darauf. Mehr Worte hat sie mir nicht da gelassen. Keine Erklärung. Nicht mal ein: Es tut mir leid! Nur ein: Such mich nicht! Als ob das möglich wäre. Ich greife nach dem Zettel, der in Funken zerfällt, die langsam verlöschen.
Um mich herum ist es so dunkel, dass mein Gehirn mir Streiche spielt. Wenn ich zu lange in die Dunkelheit starre, sehe ich Lichter und bunte Funken, sehe Gesichter und Menschen als graue Schemen aus der Dunkelheit steigen und sich wieder auflösen. Einmal scheint Maja auf mich zuzukommen, ich laufe ihr entgegen, Wasser spritzt bis in mein Gesicht. Hinter ihr erhebt sich ein Mann aus der Dunkelheit und ich halte inne. Er schlingt seine Arme um sie, bevor sie ineinander verwirbeln. Ich höre ein schweres Atmen in der Dunkelheit, ein Keuchen, das anschwillt zu einem Stöhnen. Majas Stöhnen. Es wird lauter und lauter bis es sich in einem trommelfellzerfetzenden Donner über mir entlädt, immer wieder. Ich halte mir die Ohren zu. Der Boden unter meinen Füßen vibriert. Ein warmer Hauch streicht über meine Wange, den Hals entlang, den Rücken hinunter, flüstert mir ins Ohr: „Ich begehre dich so sehr!“ Meine Beine geben nach, verlieren für einen kurzen Moment den Halt und ich falle … bis ich endlich auf dem Boden aufschlage und ein Donnerstöhnen mir das Trommelfell zerreißen will. Ich presse mir die Hände auf die Ohren. „Das ist nicht real. Das ist nicht real. Das ist nicht real.“
Ich bin kein Feigling. Konfrontationen gehe ich nicht aus dem Weg. „Ist das alles, was du hast?“, schreie ich. „Wo ist Maja?“ Aber dieser Krach, Majas Gestöhne, ich kann das nicht aushalten, presse weiter die Hände auf die Ohren, kauere auf dem Boden und warte, dass es vorbei geht. Irgendwann verebbt das Stöhnen und ich höre ein Wimmern. Ich glaube, es kommt aus mir. Oder nicht?
„Hallo?“, flüstere ich in die Dunkelheit und erschrecke, als ich eine Antwort bekomme.
„Hier!“, sagt eine dünne Kinderstimme.
„Wo?“
„Hier! Ich bin hier!“
„Sing ein Lied!“, fordere ich das Kind auf und es fängt an zu singen: „Theo, spann den Wagen an …“
Ich folge dem Lied, bis ich schließlich gegen etwas Weiches stoße und der Gesang verstummt. Behutsam taste ich in die Dunkelheit hinein, spüre schließlich unter mir einen Haarschopf, dann Schultern. Ich knie mich hin und taste das Kind ab, fahre seine nasse Hose entlang, erkenne, dass es im Wasser sitzt mit angewinkelten Beinen.
„Wie heißt du?“, frage ich. „Was machst du hier?“ Die werden doch wohl keine Kinder hier runterlassen und ihnen Zehen amputieren?
„Weiß nicht.“
Ich suche seine Hand, helfe ihm auf die Füße, frage: „Kannst du laufen? Bist du verletzt?“, frage: „Wie alt bist du?“
„Sechs.“
„Wie lange sitzt du schon hier? Wo sind deine Eltern?“
„Ich weiß nicht.“
„Und warum bist du hier? Wie bist du hierher gekommen?“
„Weiß nicht.“
Ich nehme seine kalten Händen in meine, reibe sie, versuche ihnen ein bisschen Wärme einzuhauchen.
„Komm!“, sage ich.
Er fragt: „Wo gehen wir hin?“
„Ich weiß nicht, irgendwohin, wo es heller ist.“
Er drückt meine Hand, als er flüstert: „Ich glaube, so einen Ort gibt es hier nicht!“
„Doch! Doch, doch! Wir sind hereingekommen, also kommen wir auch wieder heraus.“
„Warum bist du hier?“, fragt er.
„Ich habe etwas verloren.“
„Und was?“
„Geht dich nichts an!“, sage ich und gehe weiter mit ihm durch die Dunkelheit. Weiter und weiter.
„Bist du mein Sohn?“, frage ich.
„Ich weiß nicht.“
„Wie heißt du?“
„Weiß nicht.“
„Ich nenne dich Manuel“, sage ich.
„Warum?“
„Stell nicht so dumme Fragen! Nur dumme Menschen stellen dumme Fragen“.
„Können wir eine Pause machen?“, fragt er.
„Nein, wir müssen weiter!“, sage ich.
Das Wasser ist angenehm, es kühlt eine Wunde an meinem linken Fuß. Ich muss irgendwo gegen gelaufen sein.
Ich halte die warme Kinderhand und summe eine kleine Melodie, die meine Mutter mir beigebracht hat. Leise singt er dazu: „Theo, spann den Wagen an …“ Als Kind habe ich auch gerne gesungen.
„Es heißt: Hejo“, sage ich. „Hejo, spann den Wagen an …“ Ich setze mit ein und wir singen im Kanon, bis er innehält.
„Sand!“, sagt er.
Es stimmt, nur trockener Sand, wohin ich auch taste. Ich stecke meine Hand hinein, lasse ihn langsam aus meiner Faust auf meine Hose rieseln, lausche dem feinen Kratzen.
„Wollen wir uns setzen, mein Sohn? Eine Pause machen bis der Tag anbricht?“
Er sagt nichts, vielleicht nickt er.
„Wo sind nur all die Sterne und der Mond?“, frage ich und lasse mich mit schweren Beinen in den Sand fallen. Wie lange sind wir gelaufen? Ich spüre seine kleine Hand auf meinem Schenkel, ganz nah rückt er an mich heran, als ob er Angst hat, mich zu verlieren, und ich lege schützend meinen Arm um ihn. „Du kannst deinen Kopf in meinen Schoß legen und ein bisschen schlafen.“
Und so sitze ich, der Kinderkopf auf meinem Schenkel, meine Hand streicht sacht über sein Haar und die Dunkelheit bricht auf, ein dunkles Blau spannt sich über mir auf, wird heller und lässt einen kommenden Tag erahnen. Vor mir Wasser so weit ich schauen kann, ein Meer, spiegelglatt bis zum Horizont, hinter dem die Sonne aufgeht. Menschen kommen mit Luftmatratzen und Sonnenschirmen. Leise schlagen die Wellen auf den Strand, ein beruhigendes Rauschen, der Junge wacht auf. Neben uns breitet eine Frau eine große Decke aus.
„Ein schöner Tag“, sagt sie zu mir.
„Ja“, sage ich. „Wirklich schön!“
„Wie alt ist ihrer?“, fragt sie und deutet auf den Jungen.
„Ich weiß nicht“, sage ich und bin verwirrt, weil es stimmt, aber sie wundert sich nicht, sagt zu ihrer Tochter: „Ihr könnt ja zusammen spielen!“ Der Junge sieht mich an, ich nicke und er lacht und mein Herz lacht auch.
Die Frau gibt mir ein Stück Melone, das herrlich schmeckt, süß und erfrischend, der Saft tropft mir vom Kinn, läuft mir Hände und Arme herunter. Ich lache, vergrabe die Melonenschale im Sand und wasche mir die klebrigen Arme im kühlen Meerwasser, lege mich hin und schaue in den Himmel, so blau und weit. Die Kinder spielen und lachen. Von überall höre ich Menschen und die Freude, die es ihnen macht, am Leben zu sein. Ich schlafe ein, glücklich. Als ich aufwache sind Mutter und Tochter verschwunden, neben mir sitzt eine Frau.
„Ich kenne dich“, sage ich.
Sie schaut aufs Wasser, ihr langes, dunkelblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie sieht traurig aus und ich möchte sie in den Arm nehmen, sie trösten.
Da sagt sie: „Du hast mich also gefunden.“
Habe ich sie gesucht? „Sieht so aus!“, sage ich.
„Ich komme nicht zurück!“
„Warum nicht?“
„Das weißt du ganz genau!“
„Ich weiß es nicht. Nicht im Geringsten.“
Sie zeigt mir eine Narbe, die genau dort beginnt, wo der Ärmel ihres T-Shirts endet. „Die ist von dir“, sagt sie. „Erinnerst du dich?“
Ich schüttle den Kopf. „Wie, von mir?“
„Du hast mich gegen die Glastür geschubst.“
Ich höre Glas klirren, sehe Scherben auf weißen Fliesen liegen, aber kann das nicht glauben. Wieso sollte ich ihr so etwas antun?
„So bin ich nicht!“, sage ich leise, ohne sie anzuschauen.
„Gehört der zu dir?“, fragt sie und deutet auf den Jungen, der mit der Schaufel ein Loch gebuddelt hat, so tief, dass der Boden von Wasser bedeckt ist. Vorsichtig nimmt er einen Käfer aus dem Wasser und setzt ihn nach oben in den Sand.
„Ich glaube schon“, sage ich.
Sie lächelt traurig.
„Warum willst du nicht zurückkommen?“
„Mann, Olli“, sagt sie. „Du kannst dir nicht aussuchen, wer du bist …“
„Ich weiß“, sage ich, aber in meinem Kopf werden aus ihren Sätzen zusammenhanglose Worte, die sich auflösen wie Atemwolken an einem Wintermorgen.
„Olli. Ist das mein Name?“
„Pass auf!“, sagt sie. „Du bleibst hier.“
Ich lache. „Hier am Strand?“
Sie schaut mich ernst an. „Ja! Unten ist ein seltsamer Ort, aber du siehst glücklich aus. Ich hab dir gesagt, such mich nicht. Ich glaube nicht, dass du wieder raus findest. Es tut mir leid!“ Sie steht auf.
„Wohin gehst du?“, frage ich. „Kann ich mitkommen?“
„Nein, du bleibst!“
Ich verstehe nicht. Warum muss ich bleiben? Sie geht und ich sehe ihr hinterher. Sie trägt die blauen Shorts, die ich immer so gern an ihr mochte. Sie ist Maja. Meine Frau, die ich liebe, die mich liebt, mit der ich Kinder haben will. Viele.
Der Strand ist menschenleer. Vom Meer zieht weißer Nebel auf, während ich mich erinnere. Nur diesen Zettel hat sie da gelassen: Such mich nicht! Ich springe auf: „Maja, warte! So bin ich nicht. Das kommt nie wieder vor! Ich verspreche es!“
Ich laufe ihr hinterher, doch der milchweiße Nebel ist so dick, dass ich nichts sehen kann. Ich stolpere über einen rauen, harten Boden. War hier nicht eben noch ein Strand? Ein Schmerz fährt jäh in meinen linken Fuß.
„Ich finde dich!“, rufe ich.
Die Hände vor mir ausgestreckt wie Fühler stolpere ich umher. Wieso kann ich nichts sehen? Wo bin ich? Als ich nach der schmerzhaften Wunde an meinem Fuß taste, kriege ich einen Schreck: Mein kleiner Zeh fehlt. Wo ist er? Ich suche nach der Erinnerung wie nach einem verlorenen Schlüssel, kann sie aber nicht finden.
„Ich finde dich!“, rufe ich noch einmal und höre eine dünne Kinderstimme.
„Ich bin hier!“, sagt sie. „Hier drüben.“