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Unsterblich
Die Gentechniker hatten es geschafft. Ein uralter Menschheitstraum ging in Erfüllung. Schon seit dem Ende des 20. Jahrhunderts war bekannt, wie der Alterungsprozess funktionierte, und nach und nach ist man dahinter gekommen, wie man ihn aufhalten konnte. Das Komplizierte daran war, die Alterung eine Weile lang laufen zu lassen - schließlich sollten die Menschen nicht unsterbliche Babys sein - und dann, nach Ablauf der Pubertät, anzuhalten. Und an besagtem 15. Mai 2137 um genau 17 Uhr 32 GMT wurde in den Forschungslabors der Everlast inc. im US-Bundesstaat New York John Lloyd von einer Leihmutter zur Welt gebracht. Er entwickelte sich normal, besuchte eine normale Schule, absolvierte eine normale Ausbildung. Wunden heilten ungewöhnlich schnell, aber an sonsten hätte er ein ganz gewöhnlicher Junge sein können. Bis zu seinem 28. Geburtstag. An diesem Tag hörte er auf zu altern.
Zunächst registrierten dies nur die begeisterten Forscher von Everlast, die ihn und die anderen Prototypen regelmäßig untersuchten. Im Alter von 35 Jahren begann man, ihm Komplimente wegen seines Jugendlichen aussehens zu machen. Als John 40 war, ging Everlast mit der Sensation an die Öffentlichkeit. “Unsterblichkeit ist möglich!”, titelten die Nachrichtenmagazine aller Medien. Von den 100 gezeugten Prototypen waren 99 seit ihrem 28 Geburtstag nicht gealtert. Einer starb mit 17 Jahren bei einem Verkehrsunfall.
Everlast wurde geradezu gestürmt. Alle, die es sich leisten konnten, wollten ein unsterbliches Kind bekommen. Einige Superreiche versuchten sogar, Everlast dazu zu bringen, sie selbst zu behandeln, aber das war nicht möglich, und das Klonen war von der UN 2049 verboten worden.
Und so kam es, daß schon in der nächsten Generation die Welt fast ausschließlich von Unsterblichen bevölkert wurde. Um zu verhindern, daß die Weltbevölkerung ins unermeßliche wächst, wurden die Gene der Embryos nicht nur unsterblich gemacht. Es wurde auch dafür gesorgt, daß sie selbst keinen weiteren Nachwuchs zeugen konnten.
Eine Zeit lang hatten die Menschen das Aussetzen ihres Alterungsprozessen mit echter Unsterblichkeit verwechselt und ein sehr riskantes Leben geführt. Viele verloren ihr Leben bei Unfällen oder durch die üblichen Zivilisationskrankheiten, andere fielen Drogen zum Opfer. Natürlich starben auch noch viele in gewaltsamen Auseinandersetzungen, doch die Weltregierung hatte beschlossen, Kriminelle sofort zu exekutieren. Die Todesstrafe war umstritten, doch da es kaum zu gewährleisten war, alle gefährlichen Unsterblichen lebenslang einzusperren, stimmten schließlich auch die europäischen Regionen zu. So gab es nach einiger Zeit nur noch Menschen, deren Aggressionspotential so gering war, dass sie das Leben anderer nicht mutwillig bedrohten. Bei einer null-Geburtenrate schrumpfte die Weltbevölkerung so auf ein verträgliches Maß und alle lebten in einem gewissen Wohlstand.
Everlast inc. mußte 2263 Konkurs anmelden, nachdem die Geschäftsführer die erwirtschafteten Gelder an der Börse verloren hatten. Niemand hatte Interesse, die Firma zu übernehmen, die keine Einnahmen mehr erzielte. Und so wurden die Datenbestände und Forschugsergebnisse sang und klanglos vernichtet.
Einhundert Jahre nach der Geburt John Lloyds bestand die Menschheit im Wesentlichen aus Unsterblichen. Im Jahr 2297 gab es nurch noch in einigen russischen Slums und Hüttendörfern im Urwald Menschen, die normal alterten.
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John Lloyd hatte gerade seinen 165 Geburtstag gefeiert, als es anfing. Er war immer noch in der Verfassung eines achtundzwanziger, genau wie 99,9 Prozent der Weltbevölkerung. Er trieb regelmäßig Sport und ernährte sich gesund. Er verlor sein Gedächis. Es begann harmlos. Er konnte sich nicht erinnern, was er eine halbe Stunde zuvor getan hatte. Doch umso mehr Zeit verstrich, desto häufiger gingen seine Erinnerungen nicht vom Kurz- in das Langzeitgedächnis über. Schließlich begannen auch die Erinnerungen an seine zurückliegenden Lebensjahre zu verschwinden. Die Ärzte konnten sich das Phänomen nicht erklären und hielten es zunächst für eine neue Form der Alzheimer-Krankheit, die man eigentlich besiegt glaubte. Die Alarmglocken läuteten erst, als alle 78 noch lebenden Prototypen von den gleichen Symptomen heimgesucht wurden. Man begann fieberhaft zu forschen, suchte nach genetischen Defekten, nach neuen Viren. Doch vergebens. Man suchte auch die alten Unterlagen von Everlast inc., doch die gab es nicht mehr, und auch die Patenteintragungen waren mittlerweile gelöscht worden.
Als man schließlich dahinter kam, war es für die Prototypen schon zu spät. John Lloyd und die 77 übrigen vermeintlich Unsterblichen waren - körperlich in bester Verfassung - 35 Jahre nach Einsetzen von Johns Gedächnisverlusten gestorben.
Das Problem war ganz simpel, so simpel, dass niemand auf die naheliegenste Idee gekommen war: Es war kein Platz mehr für weitere Erinnerungen. Die Festplatte war voll. Der Versuch, noch mehr Erinnerungen in die überladenen Hirnrinden hineinzudrängen hatte schließlich das Gegenteil bewirkt: die bestehenden Synapsen wurden zerstört.
Fieberhaft suchte man nach Auswegen, doch man konnte die Gehirnkapazität der Unsterblichen nicht erweitern. Und auf natürlichem Wege Nachwuchs zu Zeugen, war den Menschen nicht mehr möglich.
Die Menschheit hatte noch fünf Jahre.
Man beschloß, die Unsterblichkeit aufzugeben und wieder Menschen zur Welt zu bringen, die Zeugungsfähig waren. Das Klon-Verbot wurde aufgehoben. Experimente begannen. Es gelang, einige Embryonen In Vitro zu erzeugen und Frauen einzupflanzen. Am 13 Januar 2345 wurde seit über 150 Jahren in der industrialisierten Welt ein Kind geboren.
Ob sie Erfolg hatten, konnten die Wissenschaftler nicht mehr überprüfen. Vier Wochen nach der Geburt von “Eve” begannen Flächendeckend die Gedächnisverluste. Fünf Jahre später gab es keinen Menschen mehr, der in der Lage gewesen wäre, Eve zu erziehen.
Es herrschte Chaos. Die Industrieanlagen standen still, Datenleitungen waren tot. Es wurden keine Lebensmittel mehr produziert und verteilt. Die Unsterblichen der industrialisierten Welt verhungerten, weil sie sich nicht mehr erinnern konnten, wie man Getreide anbaut, Brot backt, sogar wie man ißt.
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Die Natur eroberte sich ihren Raum zurück. Die Anlagen der mächtigen Konzerne in Amerika, Europa und Asien wurden von Pflanzen überwuchert. Im Jahr 2398 bestand die Menschheit aus zwei Stämmen im afrikanischen Urwald, die sich zum Ärger der Wissensgesellschaft gegen alle Erungenschaften der modernen Technik verschlossen hatten. Sie gingen zur Jagt, bauten bescheiden etwas Getreide an, sammelten Früchte. Am Ende des 24 Jahrhunderts bestand die Menschheit aus gut 300 Seelen. Und ein elfjähriger Junge, dessen Vater vor kurzem gestorben war, wünschte sich, er könnte ewig leben...