Unsichtbar
Unsichtbar
"Mama, warum bin ich ein Es?"
Alinas Mutter blickte ihre Zehnjährige verwirrt an: "Ein Es? Wie kommst du denn darauf? Das versteh‘ ich jetzt nicht ...!"
Beide waren gerade aus der Eisdiele getreten, um nach einer leckeren Kaffee-und-Eis-Pause ihren Stadtbummel wieder aufzunehmen.
"Ja, hast du denn nicht gehört, was die Kellnerin vorhin gesagt hat?" Alina wunderte sich, dass ihrer Mutter mal wieder gar nichts mitgekriegt hatte. Typisch Erwachsene! "Als sie unsere Bestellung aufschreiben wollte, hat sie dich angeguckt und gesagt: ,Kriegt ES auch Sahne?‘ Und mit ‚es‘ meinte sie mich!"
Alinas Mutter blieb mit den vollen Einkaufstüten mitten auf dem Bürgersteig stehen.
"Wirklich? Da habe ich wohl gar nicht richtig zugehört!"
"Ein Erwachsener würde sich das nie gefallen lassen, dass man so über seinen Kopf hinweg redet, oder?" Alina und ihre Mutter ließen sich auf einer freien Bank in der Fußgängerzone nieder.
"Vorhin im Kaufhaus in der Kinderabteilung war es noch schlimmer, Mama!" Alina wurde beim Erzählen noch nachträglich wütend. "Da erzählte eine Frau der Verkäuferin von den Problemen, die ihr Sohn bei Hosen, die ,im Schritt‘ nicht richtig passen, hat, und der Junge stand mit rotem Kopf daneben und war bestimmt schon elf oder zwölf! Merkt denn nie einer, wie grottenpeinlich das für uns Kinder ist, wenn man sich über uns unterhält, als wären wir blind, taub und unsichtbar?"
"Doch, jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich auch an solche Sachen", meinte die Mutter nachdenklich. "Wenn es bei uns, als ich ein Kind war, eine Verwandtschaftsfeier gab, unterhielten sich immer alle ungeniert darüber, dass ich mit sechs Jahren noch manchmal nachts das Bett nass machte, dabei hatte ich doch nur Angst, durch den dunklen Flur ins Badezimmer zu laufen. Ich weiß noch heute, wie ich jedes Mal über und über rot geworden bin, und dann haben alle auch noch gelacht ..."
"Das kann ich mir gut vorstellen, Mama!" Alina fühlte noch nachträglich mit ihrer Mutter mit. "Wenn ich mal groß bin, werde ich mich immer, wenn ich etwas über meine Kinder sagen will, obwohl sie dabei sind, an diesen Tag erinnern, das nehme ich mir ganz fest vor!"