Unsere Nachbarin Frau Bingel
Die Suche nach einem Liebhaber stellte sich für unsere Nachbarin Frau Bingel zunächst als schwierig heraus. Nicht, dass sie hässlich gewesen wäre. Nein, keineswegs. Sie war damals, als sie beschloss nach einem Liebhaber Ausschau zu halten, zwar schon Ende 30, hatte aber unbestritten eine warme erotische Ausstrahlung, welche durchaus auch von den jüngeren Männern zur Kenntnis genommen wurde.
Sie hatte kurzes braunes Haar und einen bräunlichen Hautteint. Bereits das machte sie besonders, weil sie dadurch schon für die meisten zur Exotin wurde. Ihre Nase hatte oben einen kleinen Höcker, was eine interessante Persönlichkeit zu versprechen schien. Doch vor allem hatte sie geheimnisvolle Augen. Es waren sehr große und dunkle Augen, die auf ihren jeweiligen Gegenüber sehr beruhigend wirken mussten.
Sie war wie ein tiefer, dunkler See, auf dessen Grund man etwas vermutet, jedoch keine Ahnung hat, was es sein könnte. Vielleicht ein Schatz, vielleicht ein lange vermisstes Boot oder ein schreckliches Seeungeheuer. Dem Abenteurer, für den sich so ziemlich jeder Mann hält, ist es egal, was er auf dem Grund finden könnte, er will einfach nur das Geheimnis lüften. Und vor allem muss er der erste sein.
Frau Bingels Stimme, Gestik und Körperhaltung unterstrichen ihre geheimnisvolle Wirkung. Sie zeugten von Sinnlichkeit und großem Selbstbewusstsein zugleich. Doch war sie nie arrogant. Sie sagte lediglich immer geradeheraus ihre Meinung, wenn es darauf ankam, tat dies aber stets auch mit einem Lächeln, das die Aufforderung an den anderen in sich trug, sich nicht einschüchtern zu lassen.
Auch wir, die Jungs und ich, sprachen schon damals als zehn jährige Knirpse sehr oft über sie. Wir spielten für eine Zeit lang fast jeden Tag vor ihrem Haus Fußball und wurden danach häufig von ihr zu einer Cola oder einem Kuchen eingeladen. Natürlich wussten wir damals noch nichts von erotischen Reizen oder dergleichen. Wir fanden sie einfach nur furchtbar nett und schauten sie gerne an, denn sie lachte sehr schön. Es war so ein angenehmes Lachen, nicht zu aufdringlich und laut, sondern ein Lachen, dass den Gesprächspartner einlud, mehr von sich preiszugeben. Und vor allem lachte sie auch über unsere Witze, Witze über doofe Mädchen, Hundekot und mehrfach benutzte Kaugummis. Das verschaffte ihr einen enormen Bonus gegenüber den anderen Erwachsenen. Auch hatten wir bei ihr das Gefühl ernst genommen zu werden. Sie hörte uns zu, gab uns Ratschläge und sprach mit uns immer auf der selben Ebene.
Auf unserem Nachhauseweg von diesen Besuchen bei Frau Bingel sprachen wir natürlich nie über ihr Lachen oder ihre zauberhafte Wirkung. Statt dessen sagte einfach einer von uns so etwas wie, Frau Bingel sei extrem okay. Wir anderen nickten dann und damit war die Sache erledigt. Wir verfielen also nie in große langweilige Reden wie die Erwachsenen.
Manchmal, wenn die Jungs und ich nicht gleich nach dem Fußball spielen bei ihr klingelten, verweilten wir unbemerkt noch ein wenig vor ihrem Fenster, um sie heimlich anzuschauen. Sehr oft tanzte sie wie wild durch das Wohnzimmer, riss Beine und Arme in die Lüfte, sprang hin und her und hielt sich einen Besen als Mikrofon vor den Mund. Wir mussten dann immer lachen. Wir liebten es, ihr beim Tanzen zuzuschauen. Sie schien uns ähnlich zu sein. Sie war wie ein Kind. Zumindest dachten wir, Frau Bingel tue das, was ihr Spaß macht. Sie ist cool.
Wenn ich ein Problem in der Schule hatte, das nichts mit Noten oder dergleichen zu tun hatte, ging ich oft nicht zuerst zu meinen Eltern, sondern zu Frau Bingel. So auch, als ich das erste Mal in meinem Leben unglücklich verliebt war. Anja hieß die Dame meines Herzens. Sie war in meiner Klasse.
„Sie mag mich nicht“, jammerte ich.
„Woher willst du das wissen?“, fragte Frau Bingel.
„Sie schaut mich nie an. Und reden tut sie auch nicht mit mir. Sie weiß nicht mal, dass ich existiere“.
„Hast du es denn mal versucht?“
„So oft schon. Gestern habe ich ihr meine Hausaufgaben gegeben, den Tag davor mein Brot. Ich hab’ sie doch so schrecklich gern. Doch sie hat nicht mal Danke gesagt. Sie hat auch noch nie ‚Hallo’ oder so etwas zu mir gesagt. Sie hängt immer nur mit den blöden Jungs aus der 7.Klasse rum“. Ich war wirklich verdammt deprimiert wegen dieser Sache.
Was ich damals nicht wusste, Frau Bingel aber umso besser, war, dass es zu diesem Zeitpunkt absolut keine Chance für mich gab, dieses Mädchen zu erobern. Ich war schlicht und einfach nicht in der 7.Klasse, ich rauchte nicht, hatte eine Brille und trug auch noch Sandalen. Es fehlte eigentlich nur noch ein T-Shirt mit der Aufschrift „Mamas Liebling“.
„Weißt du“, sagte Frau Bingel sanft und strich mir dabei durchs Haar, „Mädchen in diesem Alter sind ziemlich doof. Sie wissen noch nicht, dass Jungs wie du gut für sie sind. Du wirst warten müssen bis ihr beide älter seid“.
Ich ließ zunächst enttäuscht den Kopf hängen. Dann schaute ich Frau Bingel sehr ernst an. Ich wollte ihr zu verstehen geben, dass ich diese Möglichkeit nicht akzeptieren konnte.
Frau Bingel schien zu verstehen. So wie sie immer verstand.
„Du solltest ihr trotzdem sagen, dass du sie gern hast. Man sollte sich niemals seiner Gefühle schämen“. Sie packte mich an beiden Schultern und schaute mir eindringlich in die Augen, so als ob sie mich hypnotisieren wollte.
„Verstehst du, Lars? Schäm’ dich deiner Gefühle nicht. Du kannst nur gewinnen, niemals verlieren“.
Das war natürlich eine Lüge. Doch das wusste ich damals nicht. Ich fühlte mich auf einmal wieder stark. Und dann schrieben Frau Bingel und ich ein Gedicht zusammen, in dem ich Anja mit dem Regenbogen und dem Sonnenaufgang verglich. Genaueres weiß ich heute zwar nicht mehr. Doch kann ich mich noch gut erinnern, wie Frau Bingel die Worte fand (und ich aufschrieb), die genau das ausdrückten, was ich für Anja fühlte.
Was soll ich sagen? Die Sache ging kräftig in die Hose. Ich legte das Gedicht in Anjas Mathebuch. Schon in der nächsten Stunde las sie es in der Klasse laut vor, um mich damit vollkommen dem Spott preiszugeben. Das blöde war, dass ich Anja deswegen nicht aufhören konnte zu mögen. Dafür war ich aber ziemlich sauer auf Frau Bingel. Denn im Gegensatz zu ihrer Prophezeiung, hatte ich sehr wohl das Gefühl, verloren zu haben.
Nach einiger Zeit war ich dann doch irgendwann froh, dass ich (bzw. Frau Bingel) dieses Gedicht geschrieben hatte. Ich wusste nicht genau warum. Vielleicht erahnte ich schon damals, dass es wichtiger ist lieben zu können als geliebt zu werden. Auch wenn es schmerzen kann, so ist es doch Leben. Es bedeutet Mensch sein. Geliebt zu werden ist lediglich eine Ode an die Eitelkeit. Nach einer 2-Monatigen Pause, begann ich wieder Frau Bingel zu besuchen.
Von den Vorzügen seiner Frau schien Herr Bingel leider nichts zu wissen. Oder nichts wissen zu wollen. Wie bei so vielen Ehemännern hatte er das Interesse an seiner Frau verloren und gab sich auch keinerlei Mühe mehr, der Ehe einen neuen erfrischenden Anstrich zu geben. Auch er verliebte sich irgendwann in seine Arbeit und seine Sekretärin. Er war im Vorstand eines großen deutschen Telekommunikationsunternehmens und war dementsprechend viel unterwegs. Er vergaß nie ihren Geburtstag oder den gemeinsamen Hochzeitstag. Auch gab es kaum Streitereien oder irgendwelche Gemeinheiten zwischen den beiden. Es war einfach nur so, das die Luft raus war. Er streichelte schon lang nicht mehr ihr Haar. Und da Frau Bingel sich selbst immer als eine Frau des Lebens und Erlebens begriff, eine Frau der Emotionen und der Leidenschaft, beschloss sie eines Tages – nach 15 Jahren Ehe - einen Liebhaber zu suchen.
Wie gesagt, die Suche nach einem Liebhaber stellte sich anfangs als schwierig heraus. Zunächst dachte sie natürlich an eine Kontaktanzeige, an einen Text wie beispielsweise: „Attraktive und sinnliche verheiratete Frau Ende 30 sucht neugierigen, fantasiereichen und intelligenten jüngeren Mann, um gemeinsam die dunklen Geheimnisse des Lebens zu ergründen“. Doch eine Kontaktanzeige wäre zu riskant gewesen. Ihr Mann hätte irgendwann davon Wind bekommen.
In dem Architektenbüro, wo sie arbeitete, empfand sie die Männer als nicht geeignet. Sie waren alle zu alt, zu festgefahren, ohne Witz und Esprit. Sie waren eben wie ihr Ehemann. Nein, ihr Liebhaber musste voller Enthusiasmus und Fantasie sein, humorvoll und leidenschaftlich. Frau Bingel war sich sicher, dass das nur ein wesentlich jüngerer Mann mit bringen konnte.
In den nächsten Monaten und Jahren, nachdem sie den Entschluss fasste einen Liebhaber zu suchen, hatte Frau Bingel die eine oder andere Affäre. Jedoch war nie etwas ernstes dabei und nie ging auch nur eine dieser Affären länger als einen Monat. Denn keiner dieser Männer, die kurz ihr Leben streiften, hatte das, was sie suchte. Sie vermisste bei allen die besondere Mischung aus Witz, Geist und Leidenschaft.
Diese kurzen, unwichtigen Affären waren für sie dennoch eine angenehme Sache. Ich meine, sie entsprachen durchaus ihrer Lebenseinstellung, nämlich das Gefühl dem Verstand vorzuziehen. Doch in unserer Nachbarschaft hatte sie mehr und mehr einen schweren Stand. Sie wurde von vielen geschnitten. Es sprach sich herum, dass sie ab und an eine Affäre hatte, wofür sie verachtet wurde. Vielleicht wurde sie aber auch nur für ihren Drang sie selbst zu sein und den eigenen Bedürfnissen kompromisslos nachzugeben verurteilt. Wir Jungs jedenfalls verstanden damals nicht, warum unsere Eltern uns auf einmal verboten, Frau Bingel zu besuchen. Schließlich war sie immer furchtbar nett zu uns gewesen. Und sie tanzte immer so schön.
„Ich möchte nicht, dass du Frau Bingel weiter besuchst, Lars“, sagte meine Mutter eines Tages zu mir.
„Warum, Mama?“
„Weil sie nicht gut für dich ist?“
„Warum?“
Meine Mutter wusste nicht so recht, wie sie ihren Entschluss begründen sollte, so schien mir.
„Sie hat Herrn Bingel nicht mehr lieb“, sagte sie nach kurzem Nachdenken.
Das verstand ich nun gar nicht. Ich fragte mich, was das mit mir zu tun hatte.
„Aber Mama, Frau Bingel ist immer sehr nett und lustig“.
„Ich will es nun mal nicht. Und damit basta!“, schrie sie mich an. Meine Mutter schrie mich nicht oft an. Die Sache musste ihr sehr wichtig sein.
Mit dem Tag, an dem meine Eltern dieses Verbot aussprachen, sah ich Frau Bingel zehn lange Jahre nicht mehr. Irgendwann hörte ich, dass sie sich von ihrem Mann getrennt hätte und weggezogen wäre. Doch vergessen hatte ich sie in dieser Zeit nie. Wenn ich an sie dachte, hatte ich stets dieses Bild vor Augen, wie sie mir, wenn ich ihr etwas erzählte, genau zuhörte und mir dabei stets in die Augen schaute. Und natürlich musste ich oft daran denken, wie sie voller Freude, so unbeschwert tanzen konnte. Wie konnte jemand nur so mit sich im Reinen, überhaupt so natürlich sein? Zumindest waren das noch Jahre später meine Gedanken.
Etwa zehn Jahre später – ich war erwachsen geworden -, traf ich Frau Bingel dann doch noch wieder, in einem Cafe am Hackeschen Markt. Sie setzte sich einfach an meinen Tisch. Ich kam gerade von der Arbeit und wollte eigentlich in Ruhe meine Zeitung lesen.
Ich freute mich natürlich trotzdem wahnsinnig sie wiederzusehen. Wir redeten mehrere Stunden, ohne dass auch nur eine Pause entstand. Sie musste wohl nun Ende 40 sein, doch sie hatte nichts von ihrer faszinierenden Ausstrahlung, ihrer Sinnlichkeit, ihrem Charme verloren. Ich fühlte mich in die Zeit zurückversetzt als ich sie heimlich beim tanzen beobachtete. Nur diesmal kam noch etwas anderes hinzu. Ich saß ihr nicht mehr so unbeschwert gegenüber, wie ich es als Kind tat. Ich war nervös gewesen.
„Du bist ein Mann geworden“, lächelte sie.
„So etwas ähnliches“, sagte ich etwas verlegen.
„Ein sehr attraktiver Mann“.
Ich sagte leise: „Vielen Dank“, während ich auf den Boden schaute.
Frau Bingel strich mit einer Hand über die meine. Dann streichelte sie mir durchs Haar. „Ich habe immer gehofft, dass du schnell erwachsen wirst“, sagte sie.