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Unser Junge

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25.12.2024
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Unser Junge

Es muss die Sehnsucht gewesen sein, die damals zu ihm gesprochen hat, dachte er sich. Seitdem ist alles anders. Seine Eltern wussten davon nichts. Es war der ewige Kampf um die endgültige Anerkennung und den letzten Stolz, den er erreichen wollte. Eigentlich kann man sich ein solches Leben als ein gleichgültiges Leben vorstellen. Ein Leben in dem immer wieder das selbe passiert. Arbeit, Lernen, Gespräch mit Eltern, Ablehnung, Zusammensitzen mit Freunden, weniger geistreiche Unterhaltungen, Alkohol, Zigaretten und wieder Arbeit, Lernen und so weiter.

Ich stelle mir selbst die Frage, was ein solches Leben an Wert haben könnte. Selbstverständlich ist die Frage nach dem Wert eines Lebens nicht leicht zu beantworten, wenn sie überhaupt eine Antwort hat. Ein junger Mensch kämpft in vielen Schlachten, die allerdings nur er kennt. Für die alten haben derartige Kämpfe längst an Bedeutung verloren und sind in der Erinnerung in einer solchen Art verblasst, dass sie sich nicht entsinnen können, wieso es so dramatisch sein kann, geboren zu sein und die Herausforderung des Lebens anzunehmen. Spannend ist, dass sich das Wort „leben“ hier als Verb und als Substantiv verstehen lässt. Was bedeutet es wohl zu „leben“. Und was ist das sinnvolle, gute „Leben“. Ich glaube nicht, dass er selbst von der Bedeutung seines Lebens auch nur die Idee einer Vorstellung hatte. Das ist an dieser Stelle auch nicht relevant.

Denn er sitzt gerade am Küchentisch und versucht seinen Eltern zu erklären, wieso es besser sein könnte, abends nicht französisch zu lernen, sondern die Luft der Begeisterung zu riechen und den Durst nach leben zu stillen. Seine Eltern entgegnen ihm, dass es schlecht für seine Zäsuren sei und, dass er das in der Rückschau verstehen werde und seinen Eltern dankbar sein werde. Er gibt nach. Aber er löscht das Feuer nicht ganz. Ein Funken bleibt erhalten und dieser Funken kann eine ganze Stadt verbrennen, wenn er mit Holz gefüttert wird. Sein Geist hat an dieser Stelle nachgegeben. Französische Vokabeln sind eher langweilig aber in den Büchern seines Lehrers kann er etwas finden, von dem seine Eltern nichts verstanden haben. Hier steht von dieser Leidenschaft geschrieben. Von genau dem Leben, dass er gerne heute Abend leben würde. Als er ins Bett geht, denkt er darüber nicht mehr nach. Er muss morgen eine Klausur schreiben und geht noch einmal die Fragen durch bis er einschläft. In dieser Nacht träumt er nicht. Dieses Schicksal wird sich noch oft wiederholen. Arbeit, Lernen und so weiter.

An einem der nächsten Tage ist Wochenende. Kurz vor seinem Abschluss stellt er sich nun beim Einschlafen andere Fragen. Natürlich nur dann, wenn sein Kopf nicht mehr an Mathematik oder Französisch denken kann. Er stellt sich seine Person der Zukunft vor. Er sieht sich selbst an einem Ort in seinem Leben, an dem er mit großer Zufriedenheit das tun kann, was er liebt. Er fühlt sich gewärmt von diesem kleinen Funken, den er nicht hat erlischen lassen. Das Feuer fängt wieder an zu brennen. Nach dem seine Letzte Prüfung vorbei ist, denkt er, dass er es nicht mehr stoppen kann. Nachts träumt er jetzt von diesem Ort. Aber er kann den Ort nicht erkennen. Montags früh um 6:37 Uhr steht er auf. Er weiß es jetzt. Voller Freude geht er in die Küche um seinen Eltern davon zu erzählen. „Mama, Papa ich weiß jetzt was ich mit meinem Leben tun soll“ sagt er. Sein Vater schaut von der Zeitung hoch, nimmt seine Brille verwirrt ab und sagt: „Was sagst du? Es ist viel zu früh für so große Entscheidungen. Du solltest dir Zeit nehmen, um dir etwas sinnvolles zu überlegen. Komm iss dein Brot“. Mit einer enormen Wucht, die er in seinem ganzen Körper spüren kann, kommt das Wasser in seinen Feuerofen. Das Holz zischt und das Wasser verdampft sofort.

Den ganzen Tag sprudelt es in ihm. Entgegen aller Vernunft und entgegen aller Empfehlungen der Alten geht er an diesem Abend hinaus. Er wird laufen. Laufen wird er durch die Wälder der Jugend und er wird rennen bis er ankommt. Er wird nicht ankommen. Aus der Jungend wird das Alter werden und am Ende wird eine kleine Hütte aus Holz stehen, in der er einkehren wird und zu den großen, reichen Häusern hochblicken wird, derer, die im Wald den See gefunden haben. Aber findet er den See? Dazu gezwungen Philosoph zu werden, kommen ihm jetzt die letzten Gedanken in den Kopf. Freiheit! Totale Freiheit. Er braucht seine Eltern nicht mehr. Aber brauchen sie ihn? Sie werden alt werden und das alte Haus wird saniert werden müssen. Was ist diese totale Freiheit?. Plötzlich merkt er, dass ihm alles offen steht. Tausend Türen stehen vor ihm im Wald. Durch welche soll er gehen? Die Schatten seiner Eltern zeigen auf die mit der Nummer 589, eine große, edle Tür mit einer goldenen Klinke. Sein Herz aber zieht ihn zu 788, eine eher kleine Tür, weiß und leicht. Und sein Verstand sagt, dass es zwingend die letzte sein muss, diese Tür steht bereits halb offen. Er kann nicht mehr. Ihm wird schwindelig und übel. Er stolpert über eine Wurzel, fällt um und fliegt durch die erste Tür, die Tür die ihm am nächsten stand. Das ist Freiheit? Jetzt ist er durch die Tür gefallen. Eine gewaltige Tür, wohlgemerkt. Er traut sich nicht seine Augen zu öffnen, um zu schauen wo er ist. Er hört nichts. Nur die Nacht. Nur das Rauschen der Bäume. Langsam werden seine Hände kalt und seine Füße sind nass. Augen auf: Er steht in einem kleinen See, mitten im Wald. Ganz weit am Ende des Waldes sieht er eine kleine Holzhütte. Langsam steht er auf. Er läuft jetzt los, langsam und bewusst. Ein Fluss fliest in diesen See. Über dem Fluss ist eine Brücke. Unter der Brücke fliest das Wasser, in welchem Hölzer und Blätter schwimmen. Auf der Brücke bleibt er stehen. Schnell in die Zukunft denkt er sich. Aber wohin? Aus der einen Richtung kommt das Wasser und in die andere Richtung geht was Wasser. Wenn er in die Richtung schaut, aus der das Wasser kommt, kommt neues auf ihn zu, neue Zeit. Er deutet in diese Richtung. Kurz bevor er losgeht, dreht er sich noch einmal flüchtig um. In die andere Richtung fliest das Wasser. In diese Richtung geht die Zeit. Jetzt steht er wieder am Anfang, in der Dunkelheit der Nacht, in der er seine Orientierung verliert.

Was hat ihm dieser Gedanke jetzt geholfen? Ich glaube, er weiß es noch nicht. Er wird noch eine Weile auf dieser Brücke stehen. Die Nacht wird den Wald noch eine Weile bedecken und die Bäume werden gleichgültig im Wind wehen bis er verstehen wird, dass er in beide Richtungen zeigen muss um in die Zukunft zu zeigen.

Das wird sein Verstehen sein: Zukunft und Vergangenheit sind verbunden wie ein Kind mit seinen Eltern. Er wird die Zukunft nie ohne ihre Vergangenheit bekommen können und die Vergangenheit wird ihm in die Zukunft weisen. Also liegt es nun an ihm: Er muss einfach laufen. Dorthin, wo er will. Dorthin wo es spannender ist. Wenn er nicht geht, wird die Sonne aufgehen und seine Eltern werden sich Sorgen machen und dann geht die Welt wieder von vorne los.

An dieser Stelle fragt er sich, den kalten Boden unter seinen Füßen spürend, ob es umsonst war, geboren zu werden. Schließlich wird er wieder gehen und in keinem Hotel, in dem er Zeitgast war, hat er jemals festen Fuß gefasst. Vielleicht muss man immer auf dem Sprung sein und seinen Koffer nie ganz auspacken. Das macht ihn traurig und er setzt sich hin. Er denkt an die Hügel von Griechenland, in denen einst die Götter gelebt haben. Er war dort einmal. In seiner Traurigkeit denkt er an seine Spaziergänge durch die Zypressen der Berglandschaften. Es sind gewaltige Berge aus Stein dort. An den Hängen wachsen kaum Pflanzen. Die Sonne brennt auf die Oberfläche der Erde und der Himmel ist klar. Mit geöffneten Augen schafft man es fast nicht, in den Himmel zu schauen, so hell ist es.

Damals war er auch traurig. Unendlich traurig, geradezu zerrissen. Der Schmerz der Liebe, hatte ihn damals heimgesucht. Auch damals Wussten Mama und Papa nichts. Nachts, unter den warmen Sternen des Meeres weinte er allein. In dieser Zeit hatte er den Schmerz nicht verstanden, doch jetzt tut er es. Das sind seine Nächte von Gethsemane, in denen er alleine zum Kreuz laufen muss. Ganz allein. Vielleicht ist in dieser Nacht sogar eine Wolke vor dem Mond gewesen. Er erinnert sich an das Wirtshaus, in dem er einmal war um mit einem Alten Mann Wein zu trinken. Ein schwerer griechischer Rotwein. Man saß draußen auf der Straße und blickte in die Ferne. Wenn es hier Abend wird, wird es etwas kühler und das Wetter wird aushaltbar.

Ich glaube, der Alte Mann war anders als die anderen Alten. Von diesem Wirtshaus aus, auf einem Hügel in Griechenland, konnte man das Meer erblicken. Auch hier geht die Sonne Abends unter und der ganze Himmel beginnt zu brennen. Der Junge erzählte dem Alten eine Weile von sich und als der Alte dem Jungen lange zugehört hatte und lange in seine Augen gesehen hatte, nickte er und lächelte.

Jetzt steht unser Junge langsam von der Brücke am See im Wald auf. Seine Füße sind mittlerweile taub geworden und er kann seinen Atem klar im Licht des Mondes vor sich sehen. Er spürt das Adrenalin in seinen Adern. Er kann sein Herz hören und im Hals spüren. Die ganze Welt mit all ihren Sorgen und all ihrer Angst, mit ihrer Verzweiflung und ihre Schwere, mit den Herausforderungen und mit den Bergen, die wir erklimmen müssen um den nächsten Berg zu finden, bäumt sich noch ein letztes mal auf. Mit einer unendlichen Kraft durchdringt diese Welt den Wald, wie ein verwüstender Windstoß. In diesem Moment springt Goethes Werther von der Klippe und das letzte was er sieht, als er rückwärts in die Tiefe fällt, ist die unendliche Weite des Himmels und seine ernsthafte Schönheit. In diesem Moment um Mitternacht geht Albert Camus in eine kleine Kapelle in Frankreich, kniet vor dem Altar nieder und flüstert mit zitternder Stimme ein Gebet zu Gott. Und dann, genau dann, passiert es: Die Welt scheint sich nicht mehr zu bewegen, alle Gefahr ist vorbei, unserem Jungen wird es warm ums Herz, er zeigt in beide Richtungen und schließt seine Augen. Er hat den Schatten seiner Eltern hinter sich, das Licht des Himmels vor sich und die Kraft der Zeit unter sich. Die frische Luft des Waldes strömt unaufhaltbar in seine Lungen, seine Muskeln beginnen sich anzuspannen, zuerst im Bein, dann in der Wade. Er hebt seinen Fuß und geht seinen ersten Schritt! Es ist nicht irgendein Schritt, nein, es ist sein Schritt, seine Welt, sein Leben. Der Boden bebt. Ein strömender Knall von Energie hallt durch den Wald, die Sonne geht auf und der Himmel wird hell. Die Vögel singen und der Tag, die Welt fängt von vorne an. In diesem Moment gibt es nur ihn, seinen See, seinen Fluss und seine Brücke. Und das ist genug!

 

Hallo @Wolfsberg ,

schau doch mal bitte nach, unter deinem ersten Text stehen unbeantwortete Kommentare. Eine ausführliche Rückmeldung kann ein bis zwei Stunden in Anspruch nehmen, da gebietet es allein die Höflichkeit, sich damit auseinanderzusetzen.

In diesem Moment springt Göthes Werther von der Klippe
Öhem. *hüstel*

Hilfe zur Kommasetzung findest du hier.

Herzlichst,
Katla

 

Hallo @Wolfsberg,
toll geschrieben. Hat mich an "Hyperion" erinnert. Auch weil Du Griechenland ins Spiel gebracht hast. Das schmale Reclamheft von Hölderlin habe ich mit Zwanzig mal ständig mit mir rumgetragen. Musst Du mal als Hörbuch hören. Klingt wie Musik.
Stark fand ich manche Formulierungen in dem Text. Etwa wie Du schreibst, sinngemäß: Ich lief in den Wald, aber ich werde nicht ankommen. Sehr illusionslos.
Und dann das, wo jemand in einer kleinen Hütte sitzt und zu den anderen Häusern blickt, wo welche wohnen, die im Wald den See gefunden haben. Symbolisch formuliert. Ist das Bild von Dir?
Man sieht sich als Looser, wenn etwas nicht so klappt. Irgendwie will die Gesellschaft einen nicht, was sich auch in gescheiterten oder gar nicht erst zustande gekommenen Beziehungen mit dem anderen Geschlecht, siehe auch Werther und Lotte, äußert.
Die Jesusfigur hat auch gut reingepasst.
Grüße aus dem Schnee Frieda

 

Hallo @Katla,

ich bin dem Forum erst kürzlich beigetreten und habe bisher nur Kurzgeschichten veröffentlicht, die ich früher bereits geschrieben habe. Daher bin ich bisher noch nicht dazu gekommen, auf die Kommentare zu antworten. Das werde ich allerdings bald noch tun. Bis dahin danke ich dir für die Lektüre meiner kleinen Geschichte. Ein Paar Fehler habe ich bereits korrigiert.

Vielen Dank und viele Grüße

Wolfsberg

Hallo @Frieda Kreuz,

es freut mich, dass du die Geschichte gelesen hast und sie dir gefallen hat. Das Bild mit dem See ist mir gekommen, als ich neulich mit einem Freund im Wald spazieren war und wir auf einen Brücke über einem Fluss stehen blieben und uns fragten, in welche Richtung man zeigen muss um in die Zukunft zu zeigen.

Vielen Dank und Viele Grüße

Wolfsberg

 

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